Blütenlese aus der Notverordnung
Soziale Reaktion. Die Notverordnung vom 6. Juni, ein Dokument von 35 Druckseiten, aufgeteilt in 7 Teile und 40 Kapitel, enthält bei genauer Durchsicht viel mehr, als nach den Vorankündi- gungen zu erwarten war. Man erlebt bei der Lektüre »mancherlei Ueberraschungen, aber leider keine angenehmen. Der rote Faden, der sich durch das Gestrüpp der Paragraphen allzu deutlich hindurchzieht, ist der Geist der sozialen Reaktion. Selbst an der Stelle, an der die Reichs- regierung unter dem harten Zwang der Zahlen einen un- vernünftigen Widerstand gegen die Erschließung neuer Steuerquellen aufgegeben hat und sich zur Krisensteuer auf- gerafft hat, ist durch die groteske Zweiteilung der Tarife— höhere Besteuerung der Lohn- und Gehaltsempfänger, Schonung der veranlagten Einkommensteuerpflichtigen— der unsoziale Geist des gesamten Gesetzgebungswerts ge- wahrt. Dazu kommt dann noch auf der Aufbringungsseite die Massenbelastung durch die Z u ck e r st e u e r, die Streichung der L o h n st e u e r e r st a t t u n g e n bei den Arbeitslosen und die Verbindung der Mineralölzölle als Finanzquelle mit einem Schutzzollgeschenk an die deutschen Produzenten. Noch schlimmer aber als auf der Einnahmen- feite kommt die soziale Reaktion zum Ausdruck in einer Häufung von unsozialen Maßnahmen auf der Ausgabenseite. Der ditte Teil der Notverordnung hat die verheißungs- volle Ueberschrift„Arbeitslosenhilfe". Der Hauptinhalt» der sich unter dieser schönen Ueberschrift verbirgt, ist der syste- matisch« Abbau der an sich geringen Hilfeleistungen, die die Opfer der Krise, die Arbeitslosen, bisher erhalten haben. Das Kernstück ist die allgemeine Herabsetzung der Hauptunter st ützungen. Leider stellt sich heraus, daß es noch eine Irreführung und Schönfärberei war. wenn in den ersten Verlautbarungen von einem Abbau der Leistungen in Höhe von 5 Proz. gesprochen wurde. Die Hauptlinter- stützung wird in der Arbeitslosenversicherung nach Pro- zenten des Einheitslohnes berechnet. Sie betrug bisher in der Klasse 75 Proz, in Zukunft 70 Proz. 60.
II 65 III 55 IV 47 V und VI 35 Vir 37,5 VUll-Xl 35
50 42 30 32,5 30
Das heißt, die Differenz von je 5 Proz. bezieht sich auf den Prozentsatz vom Einheitslohn. Das bedeutet als Prozent- satz von der gezahlten Hauptunterstützung in der Klasse I rund 7 Proz., und dieser Prozentsatz der Kür- zung steigt von Stufe zu Stufe bis auf 14 Proz. bei den höchsten Lohnklasien. Dieser Abbau der Hauptunterstützungs- sätze von 7 bis 14 Proz. wird für einen großen Teil der Empfänger in der Wirklichkeit noch dadurch verschärft, daß sie künftig in niedrigere Lohnklassen eingereiht werden» weil im Gegensatz zu der bisherigen Hebung bei Kurzarbeitern in Zukunft für die Berechnung der Lohnklassen nur der Lohn zugrunde gelegt wird, den sie auf Grund der Arbeitszeit- Verkürzung ausgezahlt erhielten. Eine weitere Verschlechterung, die gerade nach dem Fort- schritt des Lohnabbaus im letzten halben Jahr hart empfun- den werden wird, liegt darin, daß die Wartezeit für Arbeitslose ohne zuschlagsberechtigte Angehörige und bis zu drei zuschlagsberechtigten Angehörigen allgemein v o n 7 a u f 1 4 T a g e verlängert wird, für Arbeitslose mit vier und mehr zuschlagsberechtigten Angehörigen von 3 auf 7 Tage. Am schlimmsten werden die Jugendlichen von dem Abbau betroffen. Sie werden, soweit familienrechtliche Unterhaltspflichten ihnen gegenüber bestehen, d. h. also prak- tisch, soweit sie Eltern mit Einkommen haben, bis zum 21. Lebensjahr vollkommen aus der Arbeitslosen- Versicherung ausgeschaltet, während sie bisher vom 16. Lebensjahr an unterstützungsberechtigt waren. Abgesehen von der ungeheuren sozialen Härte, die in dieser Aus- fchließung der jungen Menschen, die arbeiten wollen, aber zur Arbeit nicht zugelassen werden, liegt, muß man sich auch dar- über im klaren sein, daß diese Behandlung im höchsten Maße geeignet sein muß. die ohnedies unheilvoll um sich greifende politischeRadikalifierungderIugendlichen weiter zu verschärfen. Diese Gefahr wird auch in keiner Weise dadurch abgemildert werden durch die in der Notver- ordnung enthaltene, überaus merkwürdige Konstruktion des freiwilligen Arbeitsdienstes. Dieser Arbeitsdienst, auf dessen wirtschaftliche Problematik wir im Augenblick nicht eingehen wollen, enthält als Kernstück die Bestimmung, daß „die Beschäftigung im freiwilligen Arbeitsdienst kein Arbeitsverhältnis im Sinne des Arbeits - rechts begründet", d. h. also, daß die Arbeiter im frei- willigen Arbeitsdienst— und ob die Freiwilligkeit bei den Jugendlichen, dem man die Arbeitslosenunterstützung ent- zieht, immer gegeben sein wird, ist höchst zweifelhaft— sozial vollkommen entrechtet sein werden, daß für sie jeder Arbeit- nehmerschutz, den das moderne Recht begründet hat, fehlen wird. Selbst ob die Vorschriften des Arbeitsschutzes und der Sozialversicherung auf den freiwilligen Arbeitsdienst anzu- wenden sind, bleibt der Entscheidung des Reichsarbeits- Ministers vorbehalten. Die nächste Kategorie der in ihren Rechten noch besonders Verkürzten sind die S a i f o n a r b e i t e r. d. h. die Arbeits- losen, die einem Beruf oder Gewerbe angehören, in dem eine regelmäßig wiederkehrende Arbeitslosigkeit berufsüblich ist, also in erster Reihe die B a u a r b e i t e r. Die Höchstdauer ihrer Arbeitslosenunterstützung wird von 2 6 auf 20 Wochen verkürzt,«rßerdem erhalten sie wie bisher
schon im Winter, so jetzt für die ganze Dauer ihrer Unter- stützung nur die Sätze der Krisenfürsorge. Diese Regelung muß um so härter wirken als die Größe der Arbeitslosigkeit, die wir im Baugewerbe seit mehr als einem Jahre unab- hängig von allen Saisonschwankungen zu verzeichnen haben, die frühere Trennung zwischen bcrufsüblicher und konjunk- tureller Arbeitslosigkeit praktisch stark verwischt hat. Verheirateten Frauen wird in Zukunft die Arbeitslosenunterstützung nur gewährt, soweit sie bedürftig sind. Die Prüfung der Bedürftigkeit erfolgt nach den Vor- schriften der Krisenfürsorge. Die Empfänger von Kriscnunter stützung sollen in Zukunft verpflichtet sein, die Beträge, die für sie aus der Krisenfürsorge als Hauptunterstützung aufgewendet werden, zu erstatten, sobald sie ein Einkommen haben und ihr Fortkommen durch die Erstattung der Unterstützung nicht un- billig erschwert wird. Zu allen diesen Verschlechterungen kommt noch hinzu, daß es in der Verordnung ausdrücklich vorgesehen ist, daß es
So jchim,..
kann man es wieder haben, wenn man bloß ein bißchen dem Hugenberg Nachlaufen möchte. Fritz Eitel ist zwar von einem Gericht der Republik wegen Kapitalverschiebung verurteilt worden, aber beim Stahlhelm und bei seinen Gardisten in der herrlichen Dorkriegsuniform macht er immer nöch die patriotischen MSnnerherzen erbeben.
in Zukunft noch schlimmer kommen kann. Wenn die Gefahr besteht, daß die laufenden Ausgaben der Reichsanstalt ihre laufenden Einnahmen übersteigen, so hat der Vorstand recht- zeitig den finanziellen Ausgleich sicherzustellen. Er darf zu diesem Zweck den Beitrag erhöhen, aber auch die Höhe der Arbeitslosenunterstützung bis auf die Sätze der Krisenunter- stützung allgemein herabsetzen und die Höchstdauer der ver- sicherungsmäßigen Arbeitslosenunterstützung verkürzen. Kom- men die notwendigen Beschlüsse nicht rechtzeitig zustande, so kann die Reichschrcgierung ihrerseits die entsprechenden An- Ordnungen treffen. Damit wird finanziell die Arbeits- losenversicherung vom Rcichshaushalt vollkommen abgehängt und möglicherweise eintretende weitere Verschlechterungen werden vorwiegend auf die Schultern der Arbeitslosen abgewälzt. Aus der Fülle der an anderen Stellen enthaltenen sozial- reaktionären Maßnahmen heben wir noch einige Punkte hervor. In dem Abschnitt„Sicherungen des Haushalts" werden für die Arbeiter aller öffentlichen Betriebe und Verwaltungen Ermächtigungen für Lohnherab- setzungen gegeben, auch wenn nach dem Ablauf der tariflichen Vereinbarungen keine neue tarifliche Regelung zustande kommt. Die Swndenlohnsätze der Reichsarbeitcr sollen zum Beispiel dann um 1— 4 Reichspfennig gekürzt werden, und außerdem entfällt der Kinderzuschlag für ein kinderzuschlag- fähiges Kind. Bei den Angestellten treten die gleichen Gehalts- kürzungen wie bei den Beamten ein. Länder und Gemeinden werden verpflichtet, spätestens vom 1. Oktober 1931 ob die Dienstbezüge ihrer Angestellten und die Stundenlöhne ihrer Arbeiter, soweit sie die Bezüge der entsprechenden Arbeit- nehmer im Reichsdienst übersteigen, herabzusetzen. Das heißt also: dort, wo bisher die Gemeinden noch eine sozialere Lohn- Politik getrieben haben, wird die Nivellierung auf die neuer- dings herabgedrückten Bezüge der Angestellten und Arbeiter im Reichsdienst erzwungen. Die Reichsknappschaft wird gezwungen, vom 1. Juli 1931 ab die Leistungen der Pensionskassen zu ver- mindern. In Abänderung des Tabaksteuergesetzes werden die Sonderunter st ützungen für die Tabakarbeiter, die infolge von steuerlichen Maßnahmen arbeitslos geworden sind, vollkommen gestrichen. Dagegen bleiben die Abfindungen für die betroffenen Unternehmer in voller Höhe erhalten. Der Abrundung des Bildes dient es, wenn wir noch er- erwähnen, daß die Gelegenheit benutzt wird, um das Nacht- b a ck v e r b o t für die Brotfabriken aufzuheben. Wie gesagt, es handelt sich hier nur um eine Blütenlese und keineswegs um eine erschöpfende Dar- st e l l u n g der Fülle von sozialreaktionären Einzelheiten, die in diese Notverordnung hineingepackt worden sind. Jedenfalls ist es der Geist des sozialen Abbaus, die Tendenz der Abwälzung der Krisenlast auf die schwächsten Schultern. die dieses Produkt der„Staatskunst" der Regierung Brü- ning kennzeichnet.
Städtebau in LlSSR. Vortrag von Ernst May . Im Rahmen des Internationalen Kongresses für neues Bauen sprach im Herrenhause Ernst May über den Bau neuer Städte in der USER. May, der als Stadtbaurat in Frankfurt a. M in kurzer Zeit ganze Trabantenstädte für den Wohn- bedarf geschaffen hatte, ist im vorigen Jahr als Autorität ersten Ranges nach Rußland berufen worden, um die Neugestaltung ganzer Städte für das ungeheure Reich zu übernehmen, eine Aufgabe, die in so gewaltigem Ausmaß noch nie einem Städtebauer gestellt worden ist. Ernst May hielt den Bericht über seine Tätigkeit als Vorbereitung zum nächstjährigen Kongreß für Internationales Bauen, der in Moskau tagen und als Thema haben soll:„Die funktionelle Stadt." Selbswerständlich ist die engste Verknüpfung der staatlichen Plan- Wirtschaft mit der Form der neuen Städte, die sich da erheben, wo Industrie, Bergbau, Konzentration der Landwirtschaft nach dem Fünfjahresplan der Sowjets sie erfordern. Diese Städte sind übrigens nicht als Massenballungen gedacht, sondern als Verteiler der wirt- schaftlichen Kräfte über das ganze Land, in der Größe von 100000 bis 200 000 Einwohnern. Ihre sehr strenge und fast monoton an- mutende Erscheinung ist bedingt durch die soziale Gleichartigkeit ihrer Bewohner: es sind reine Arbeiterstädte. Ihre Lage richtet sich nach dem Vorkommen der Industrien, Kohlenlager usw. und den geographischen Gegebenheiten: ihr« Gesamtform, ihr Grundriß nach den wirtschaftlichen Notwendigkeiten ihrer Bewohner, die möglichst bequem für ihre Arbeit und Lebensform untergebracht werden müssen. Daher sind von May im wesentlichen zwei Systeme ver- wirklicht: die ausgelockerte Einheitsstadt in der speziellen Band- form, d. h. streifenförmige Anlage von Industriebauten, Grün- gürtet, Wohnstadt in paralleler Anordnung— und die Auflösung in T r a b a n t e n st ä d t e, die mit der Bandstadt kombiniert werden kann. Den Grundriß der neuen Städte bestimmt das Maß des Kollektivismus. May zeigte eine Reihe von neuen Stadtplanungen, die durch- gängig nach folgenden Prinzipien erbaut werden: Nordsüdrichtung der Baublöcke, ihre Zusammenfassung zu quadratischen„Quartalen"' mit etwa je 10 000 Einwohnern, jedes Quartal durch breite Grün- gürtel vom anderen getrennt und in sich eine kleinere Gemeinschaft bildend, durchlaufende Ostwestverbindungsstraßen mit den Verkehr»- Mitteln, Konzentration der Verwallungs- und ftulturgebäude an einem leicht erreichbaren Mittelpunkt. Man hat ähnliche Ideal- siedlungen in Plänen ja. schon seit Jahrzehnten gekannt. Neu und �erstaunlich ist ihre sofortige Durchführung in der Praxi», und— das ist der springende Punkt: mit einer nie erhörten Einstellung auf das Gemeinschaftsleben. May gab allerdings zu, daß immer noch etwa 70 Proz. der Wohnungen als Indimdualhäuser für Privat besitz gebaut würden, die anderen 30 Proz. verteilen sich auf zwei spezielle Sowjetnormen: die K o l l e k t i v w o h n u n g« n, in denen jeder noch seine normalen Privaträume hat, und die Kommune. Häuser, in denen der AnteU des einzelnen auf 6 bis 0 Quadrat- . meter(Ehepaare 12 bis IL Quadratmeter) hsrabgedrückt ist und das
ganze Leben sich in Kollektiven vollzieht. Nicht nur Speisesäle, Klubräume für Arbeit und Spiel und Bibliotheken, sondern auch die gesamte Erziehung der Kinder in Krippen. Kindergärten, Schul- internaten sind gemeinschaftlich. Sinn dieser Organisation: die Frau, deren Arbeitskraft drüben durchaus gebraucht wird, weil Arbeiier- Mangel herrscht, anstatt Arbeitslosigkeit, völlig von ihren Hausfrauen- und Mutterpflichten zu entlasten. Die Entwicklung zur Auflösung der Familie stellte May nicht etwa nur in Rußland fest, sondern in der ganzen Welt. Gegen diese riesigen Projekte wäre zweierlei Grundsätzliches zu sagen. Einmal sind es bisher nur Pläne und es steht noch sehr dahin, ob und wann sie verwirklicht werden. Prinzipiell aber ist gegen diese Art Städtebau einzuwenden, daß sie wohl in den starren Fünfjahresplan hineinpaßt und den architektonischen Niederschlag seiner Mechoden darstellt, daß sie ober nie und nimmer auf Menschen von heute anwendbar ist. Das Schema dieser Städte und Woh- nungen preßt wie ein eisernes Korsett die Menschen zu einer seelen- losen Gleichartigkeit zusammen. E» sind Städte für Staatssklaven, die kein persönliches Eigenleben mehr führen dürfen inid deren Dasein nur den einen Sinn hat: für den ganzen Staat als Kuli zu schuften und Kinder zu zeugen. Lau! F. Schmidt. Schau- und Wissenschastssammlung. Eine Vergleichsauöstellung. Im Verlaufe seiner wechselnden Ausstellungen bringt das Museum für Naturkunde , Inoalidenstraße 43, zur Zeit eine interessante Gegenüberstellung der Unterbringung der Schau- und der wissenschaftlichen Sammlung. Bei einer Zeichnung, die das ganze Gebäude zeigt, ist die Schausammlung rot, die Wissenschaft- liche blau umrändert Im ersten Augenblick ist man unwillkürlich erstaunt über die Austeilung. Wie wenig Platz wird für die Schau und wie viel wird für die Wissenschaft beansprucht. Dabei ist das Gegenteil der Fall, denn die Schausammlung ist so gestaltet, daß sie vollkommen übersichtlich ist und darum verhältnismäßig viel Platz beansprucht. Die einzelnen Objekte der wissenschastlichen Sammlung dürfen nur den allergeringsten Raum für sich in An- spruch nehmen, und deshalb sind oft mehrere Tiere in einem Spiritusglas und mehrere Insekten an einer Nadel aufgespießt. Falls man die wissenschaftlich« Sammlung genau so breitspurig auf- bauen wollte wie die Schausammlung, dann müßte man ein Ge- bäude zur Verfügung haben, das mindestens von der Invaliden- straße bis Unter die Linden reichte. Die im Erdgeschoß befindliche Schausammlung enthält 40 000 Objekte, die wissenschaftliche hingegen 16 Millionen. Da denkt der Laie unwillkürlich, es würde ihm viel an Sehenswertem unter- schlagen. Und doch ist dos nicht der Fall. Das Publikum bekommt alles Wichtige in bester Auswahl zu sehen. Zur Bekräftigung hier «in leicht kontrollierbarer Vergleich. In der Schausammlung kann man sich an den ausgestopften gemeinen deutschen Eichhörnchen er- freuen, die noch nach ihrem Tode viel von ihrer einstigen Lebendig- keit verraten; die wissenschaftliche Sammlung hingegen hat ein RiefemnatssA« Eechhörnchenjellen. Kg Ochmnk fa der Soyder-