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BERLIN Dienstag 30. Juni 1931

Der Abend

Erfcheint täglich außer Sonntags. Sugleich Abendausgabe des Vorwärts". Bezugspreis beide Ausgaben 85 Vf. pro Woche, 3,60 m. pro Monat. Redaktion und Expedition: Berlin SW68, Lindenstr. 3 Fernsprecher: Dönhoff( A 7) 292-297

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B 150 48. Jahrgang

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16)

16.

Notverordnung Ausnahmegesetz

Empörung christlicher Gewerkschafter/ Heftige Kritif am Kapitalismus

und Arbeitsminister

Brüning und Stegerwald, Kanzler und Arbeitsminister des

Kabinetts, find beide aus der chriftlichen Gewerkschaftsbewegung Wochenende in Hubertusstock.

hervorgegangen. Daraus erklärt sich die bisherige langmütige 3urüdhaltung der christlichen Gewerkschaftskreise bei der Kritik der jüngsten Notverordnung. Man hatte immer noch Hoff­nung, auf dem Wege interner persönlicher Verhandlungen die ärg­sten Härten abmildern zu können. Darum waren die offiziellen Proteste mit formaler Ruhe und Sachlichkeit abgefaßt. Nun reißt aber auch den christlichen Arbeitern die Geduld. Der 1. Juli rüdt näher und damit das Inkrafttreten der notverordnenden Gesetze.

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Mit unerhörter Schärfe brach die Empörung durch in einer Bertrauensmännerversammlung der Kölner christ­lichen Gewertschaften. Landesgeschäftsführer Kaiser hielt das Referat berselbe Mann, der im Frühjahr 1930 dem Kanzler Brüning als dem großen Retter eins der ersten Gratulationsteles gramme fandte. Die Erfahrung hat auch ihn ernüchtert, unter dem Drud ber Berzweiflungsstimmung seiner chriftlichen Arbeiter muß auch er die nadie Wahrheit fagen.

Ganze Abschnitte seiner Rede lesen sich wie sozialistische Stritit, Rein Wort mehr von dem an sich" einwandfreien System des Kapitalismus, das nur etwas verbessert werden müffe. Die Störung des wirtschaftlichen Kreislaufes mit ihrer verheerenden Arbeitslosig feit non 20 millionen ist so sagt der christliche Gemertschafts­führer eine rise des Hochfapitalismus schlecht= hin". Bolt und Bölker empfinden,

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daß eine Wirtschaftsordnung, die den Menschen teine Arbeit und damit fein Brot mehr zu geben weiß, ihren Sinn verloren hat und aufgegeben werden muß!"

In der lleberbelastung der Arbeiterschaft durch die Notverord­nung sieht Raiser ein Symptom dafür, daß die Reaktion die Ar beiterschaft einfach in jene menschenunmürdige Lage zurüdverweist, in der sich das Arbeitsvolf Dor dem Kampf seiner Bewegung befand". Zweifelsvoll legt Kaiser sich die Frage vor: Wie war das alles möglich? Und er muß befennen: Darauf fann ich mir selbst teine ausreichende Antwort geben. Ich habe die Frage an einer anderen Stelle so be­antwortet, daß der Inhalt dieser Notverordnung ein Zeichen dafür ift, mie gefchwächt die Stellung der Arbeiterschaft im Bolte trog Brüning und Stegerwald heute ist." Stegerwald habe selbst gegen eine Reihe von Maßnahmen im Ka­binett heftig gefämpft, er sei aber der Uebermacht erlegen.

Die Notverordnung, die nun als Kompromiß zwischen den widerstrebenden Auffaffungen aus der Kabinettsmitglieder vor­liege, aber wirke geradezu wie ein Ausnahmegefeh gegen die Arbeiterschaft", fie sei einfachhin eine Unmöglichkeit.

,, Der Kanzler muß von uns, von der christlichen Arbeiterschaft, von feinen treuesten Freunden also, wissen, daß der ent scheidende Teil dieser Notverordnung auch unserer Fähigkeit und unferem Millen, seiner Politik zu folgen, Zumutungen stellt, die überspannt sind." Der Reichskanzler habe in Hildesheim auf der Zentrumstagung erflärt, das deutsche Volf dürfe nicht, mie am Kriegsende. in den letzten fünf Minuten die Nerven verlieren. Er mache den Kanzler darauf aufmerksam, daß das deutsche Polk da mals die Nervenprobe nicht bestanden habe megen der ,, ungerechten Ueberlastungen unter uns selbst". Auch jezt dürfe man nicht in den gleichen Fehler fallen: die Berteilung der Rotlasten muß gerecht sein!

Die Aenderungsvorschläge.

In einer Entschließung fordern die chriftlichen Gemertschaften folgende wichtigsten Verbesserungen der Notverordnung:

1. Milderung der Kürzungen in der Arbeitslosenversicherung. Gewährung der Unterstügung auch an Jugendliche unter 21 Jahren. 2. Gleichmäßige Heranziehung aller Steuerpflichtigen ein fchließlich der Beamten zur Krisensteuer. 3. Menderung jenes Teils der Verordnung, der einen Eingriff in das Tarifrecht und damit eine schmere Gefährdung der Rechte der Arbeiter und des sozialen Friedens bedeutet.

Diese Vorschläge decken sich weitgehend mit unseren sozialdemp. fratischen Forderungen. Wird das Zentrum sich mit seinen Gemert­schaftsanhängern solidarisch erklären? Berben Brüning und Steger malo nun endlich initiativ die Reform der Notverordnung im Ra binett betreiben, nachdem ihre treuesten Freunde so deutlich und ernst dazu aufgefordert haben?

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Der Besuchsplan fertig.

Macdonald und Henderson, die am 17. Juli zum Gegenbesuch der Reichsregierung in Berlin eintreffen, werden als Gäste des Reichs im Hotel Kaiserhof wohnen. Die eigentlichen Besprechun gen zwischen den englischen Staatsmännern und deutschen Politifern

Haus Hubertusftock am Werbellinsee ,

werden am Sonnabend und Sonntag in dem Jagdhaus Hubertus stod am Werbellinsee etwa 60 Kilometer von Berlin entfernt stattfinden. Dieses Haus gehört der preußischen Regierung. In

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folgedessen wird auch der preußische Ministerpräsident am Sonn abend und Sonntag in Hubertusftod weilen.

An einem Tage ihres Berliner Aufenthaltes merden Mac Donald und Henderson mehrere Stunden im Kreise führender Per­fönlichkeiten der Sozialdemokratie verbringen. Eine entsprechende Bereinbarung ist bereits getroffen.

Zug überrennt Autobus.

Motor explodiert.- Fünf Tote.

Bukarest , 30. Juni. Der Schnellzug nach Konstanza überfuhr am Montag bei der Station Mogojaia einen vollbesetzten Autobus, dessen Führer die Schienen überqueren wollte, weil die Schranken nicht geschlossen waren. Der Autobus wurde von dem Schnellzug erfaßt und überschlug sich. Infolge Explosion des Motors geriet der Wagen in Brand. Die Folgen waren verheerend; es sind fünf Tote und 18 Schmerberlegte zu beflagen. Der Führer ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.

Achtzehnjähriger ermordet.

Geheimnisvolle Bluttat in Nauen .

Wie aus Nauen gemeldet wird, ist in der vergangenen Nacht der achtzehnjährige Sohn des Aderbürgers Tempelhagen von einem noch unbekannten Täter erschossen worden.

Der junge Mann hatte sich in den Abendstunden aus der Wohnung seiner Eltern mit der Bemerkung entfernt, daß er noch spazieren gehen wolle. Von diesem Ausgang fehrte er nicht mehr heim. Kurz vor Mitternacht wurde Tempelhagen von einem Bachmann der Wach- und Schließgesellschaft zwischen zwei Scheunen am Bredower Luchweg, etwa 200 meter von der Garten­straße entfernt, tot aufgefunden. Der Wächter alamierte sofort die Polizei. Der Befund ergab, daß Tempelhagen offenbar aus drei bis vier Meter Entfernung niedergeschossen worden ist. Der Schußkanal führte vom Kinn bis zur Wirbelsäule, wo die Kugel steden blieb. Der Tod ist vermutlich sofort eingetreten.

Bon Nauen wurde noch in der Nacht die Landeskriminal­polizeistelle im Berliner Polizeipräsidium um Unterstützung zur Aufklärung der zunächst recht geheimnisvollen Mordtat gebeten. 3wei Beamte begaben sich mit einem Suchhund an den Tatort. Die Annahme, daß es sich vielleicht um eine politische Bluttat handeln könne, hat bisher noch feine Bestätigung gefunden.

Stockung in Paris

Briand und Laval im franzöfifchen Ministerrat überstimmt

Paris , 30. Juni .( Eigenbericht.)

Am Montag abend sollten die Bariser Besprechungen positiv abgeschloffen werden. Das war der Wunsch der amerika. nischen und auch der französischen Unterhändler, ein Wunsch, der fich auf eine lebereinstimmung der Auffassungen der beiden Dele gationen ftützte. Abends um 6 Uhr sollte das französische Ka­binett dieser Uebereinstimmung der Meinungen seine Zustimmung geben.

Die Sigung nahm einen völlig unerwarteten Verlauf. Un­erwartet sowohl für die Amerikaner, als auch für die französischen Unterhändler. Der französische Ministerpräsident und Außenminister Briand maren bereit, im großen und ganzen auf den Boden des amerikanischen Vorschlags zu treten. Sie waren damit einver­ftanden, daß die Frankreich zustehenden ungeschützten Annuitäten zinslos der deutschen Reichsbant über die Reparationsbank in Bafel als Kredite zur Verfügung gestellt werden, daß der geschüßte Teil Der Annuität in etwa 25 Jahren und der ungeschützte Teil in etwa 37 Jahren zurüdgezahlt werden, und die Zurücküberweisung der ungeschüßten Annuität als Kredit an die Reichsbant als aus­reichende Garantie für die sachgemäße Verwendung der Gelder be­trachtet werden sollte. In der Sigung des französischen Kabinetts, die am Montag in später Nachmittagsstunde unter dem Borsiz des Präsidenten im Elysée stattfand, stieß das zwischen Mellon und

Lapal bzw. Briand vereinbarte Kompromiß auf hartnäckigen Widerstand.

Laval und Briand fämpften vergeblich für ihren Standpunkt. Das Kabinett beschloß, die kompromißformel zu verwerfen.

So scheiterte die für Montag abend erwartete Beilegung der amerikanisch- französischen Defferenzen. Laval und Briand blieben in der Minderheit. Der Berlauf der Kabinettssigung zeigt, daß Briand auf die Dauer nur noch sehr schwer zu halten sein wird. Die französische Regierung hat über den Verlauf der Kabinetts. figung eine halbamtliche Mitteilung herausgegeben, in der es heißt, daß das Kabinett sich ein mütig nicht einstimmig

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über

die Notwendigkeit geeinigt habe, nach der Abstimmung in der Rammer an dem Tert ihrer Antwort vom 24. Juni festzuhalten. In der Mitteilung wird ferner festgestellt, daß Frankreich vor Ab­lauf des zwölfmonatigen Moratoriums die Prüfung von Maß­

nahmen fordert, die von deutscher Seite im Hinblick auf die Wieder. aufnahme der Zahlungen ergriffen werden müßten. Hinsichtlich dieses michtigen Bunftes hätten meder der Hauptgläubiger Frankreichs , also Deutschland , noch Amerita der französischen Regierung die er. forderlichen beruhigenden Berficherungen gegeben. Frankreich per lange schließlich, daß die von Deutschland eigentlich im Jahre 1931/32 zu zahlende Annuität nicht erst nach 25 Jahren entrichtet wird, wie