Nr. 383 48. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Dienstag, 18. August 1931
Feierliche Beisetzung der Schupooffiziere.- Severing sagt: ,, Auf dem Felde treuester staatlicher Pflichterfüllung gefallen.
Die Berliner Schuhpolizei hat gestern unter stärkster Anteilnahme der Bevölkerung ihre Kameraden, die beiden am 9. August auf dem Bülowplay von Kommunisten ermordeten Hauptleute Anlauf und Lenk, zur letzten Ruhe geleitet.
Die Karlstraße war schon um 14 Uhr abgesperrt, aber auf dem Bürgersteig drängten sich die Menschen, um den freventlich Getöteten letzte Ehrerbietung zu erweisen. Die Turnhalle, in beren großem Saal die Trauerfeier stattfand, war ganz in grün und schwarz gekleidet. Die Särge der beiden Beamten hatten eine feierliche Aufbahrung gefunden. Kränze über Kränze murden herbeigetragen und schon lange bevor die Feier begann, tamen die Menschen herein, um den toten Beamten letzten Gruß zu er= weisen. An jedem Sarge standen 8 Polizeioffiziere, die ihren Kameraden die Totenwacht hielten. Hinter den Särgen war die erst jüngst vom Polizeipräsidenten Grzesinski gestiftete Standarte postiert, die von 12 schwarzumflorten Fahnen in den schwarz- rotgoldenen Farben des Reiches und dem schwarz- weiß des Freistaates Breußen flankiert waren. Kurz vor 15 Uhr wurden die Witwe des Sjauptmanns Lenk und das Töchterchen des Hauptmanns Anlauf in die Halle geleitet. Im Auftrage der Reichsregierung wohnte der Reichsinnenminister Dr. Wirth dem Traueraft bei. Der Reichsinnenminister legte im Namen des Reichskanzlers und der Reichsregierung zwei Kränze in den Reichsfarben an den Särgen der ermordeten Offiziere nieder. Mit seiner persönlichen Vertretung haite der Reichskanzler außerdem den Ministerialdirektor in der Reichskanzlei von Hagenow betraut. Unter den Anwesenden befanden sich weiter der preußische Minister des Innern, Severing , Polizeipräsident Grzesinsti, Bizepräsident Dr. Weiß, sowie alle dienstfreien Beamten vom jüngsten Schußpolizisten bis zum Kommandeur. Die Reichswehr war durch den Berliner Gruppenfommandeur und den Stadtkommandanten, durch Vertreter der Heeres- und Marineleitung und eine Abordnung der Wachttruppe Berlin vertreten. Die Schutzpolizei der deutschen Länder und Gruppen der preußischen Landgendarmerie hatten gleichfalls uniformierte Offiziere und Beamte delegiert. Besondere Abordnungen stellten das Reichsbanner Schwarz- Rot- Gold, der Bolizeibeamtenverband, die übrigen Beamtenverbände, die Berliner Feuerwehr usw. Die sozialdemokratische Fraktion des Breußischen Landtags war durch den Abgeordneten 3 a chert per treten. Minister Severing hatte an jedem Sarge einen mit den preußischen Farben geschmückten Kranz niedergelegt.
Dann nahm das Wort der preußische Minister des Innern Karl Severing .
Er sagte:„ Auch nach Beendigung des Krieges bis in die letzten Jahre hinein find deutsche Brüder in Ost und West im Kampfe für deutsche Kultur gefallen. Wie viele es sind, kann man nicht zählen. Aber fremde Völker haben im Kriege nicht grausamer handeln können, als in dem Falle, den wir heute trauernd beklagen, einem Falle des Brudermordes, der von eigenen Volksgenossen gegen Bolksgenossen geschehen ist. Der Volksdichter Uhland fragt in seinem Liede: Eine Kugel fam geflogen, gilt sie mir oder gilt sie dir. Aber diese Frage ist hier überflüssig. Die Kugeln haben allen gegolten, die gewillt sind, dem Vaterlande die Treue zu halten und das Wohl des Volkes über alles zu stellen. Beide Tote waren als Persönlichfeit nicht etwa verhaßt. Aber sie sind meuchlings ermordet worden, weil sie ihren Eid erfüllten und ihre Pflicht getan haben. Wir leben in schweren Zeiten, die Not ist ein schlechter Berater und die Ver= zweiflung ist ein schlimmer Bundesgenosse. Da muß man sich in der Tat, wie einer der Herren Vorredner sagte, an das Wort der Bibel halten: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Aber die intellektuellen Urheber, die durch Wort und Schrift erst den Boden schufen, auf dem dann verführte Fanatifer so schreckliche verabscheuenswerte Taten vollbrachten, sind die Hauptschuldigen.
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Leidenschaften haben an der Bahre der Toten zu schweigen. Kein Racheschwur, sondern nur die Mahnung an unsere Pflicht darf hier unser Inneres beherrschen. Das Blut der Gefallenen soll die preußische Polizei nicht zur Rache aufrufen, sondern sie muß, wie fie es immer getan hat, die Bevölkerung als Brüder, als ihre Brüder in Not betrachten. Im vergangenen Winter der Not hat sich die Schußpolizei im Geiste wirklicher Nächstenliebe betätigt. Aber die Kinderspeisungen von damals sind nur ein Anfang gewesen. In diesem Winter, in dem die Not höchstwahrscheinlich leider noch steigen wird, muß die Einrichtung ausgebaut werden. Eins indessen können die Polizeibeamten verlangen, sie, die von ihrem geringen Solde sich zum Besten der Armen etwas absparen, dürfen fordern, daß die Bevölkerung ihre harte Arbeit und ihren schweren Dienſt anerkennt. Ich richte an alle Volksgenossen die Bitte, die Polizei in der Erfüllung ihrer Pflichten zu unterstützen. Mögen sie ihr Vertrauen zur staatlichen Polizei dadurch bekunden, daß sie an ihren Aufgaben mitwirken. Wenn der frühe Tod unserer beiden Kameraden dazu beitragen kann, die Erkenntnis über die verantwortungsvolle Aufgabe der Polizei in der Bevölkerung zu festigen, dann ist ihr Tod auf dem schönen Felde treuester staatlicher Pflichterfüllung nicht umsonst gewesen."
In tiefer Ergriffenheit hatte die Trauerversammlung die Rede des verantwortlichen preußischen Polizeiministers angehört. Nach
Wo liegt die Schuld?
Zwei weitere Todesopfer der Eisenbahnkatastrophe in Loeben .
In der Nacht zum Montag und am Montagvormittag find zwei Schwerverletzte der Eisenbahnfatastrophe bei Leoben ihren Berlegungen erlegen. In der Nacht mußten einem weiteren Schwerverletzten beide Beine amputiert werden.
Die Untersuchung über den Unfall ist bereits vom Gericht eröffnet worden. Der Untersuchungsrichter des Kreisgerichts Leoben hat am Montagfrüh die Anzeige zugestellt erhalten. Die Untersuchung wird sich auf zwei Tatbestände erstrecken: auf das Telephongespräch zwischen den Fahrdienstleitern von Hinterberg und
Um 14,30 Uhr leitete die Kapelle der Schutzpolizei - die- Feier- mit| Göß, in dem mitgeteilt wurde, daß der Güterzug bereits in Göß dem Largo von Händel ein. Der evangelische Geistliche, Wehrfreispfarrer Irmler, widmete sodann dem Hauptmann Lent einen Nachruf, in dem er sagte:„ In ihrem schweren Beruf setzen die Polizei beamten ihr Leben ein, um Leben und Eigentum ihrer Mitmenschen zu schügen. Nicht nur die Angehörigen der Getöteten und ihre Kameraden, sondern das gesamte deutsche Volt, soweit es rechtlich denkt, steht tieferschüttert an der Bahre der beiden Hauptleute und Führer." Nachdem die Kapelle Ases Tod aus„ Peer Gynth" gespielt hatte, sprach Monsignore Rennoch als Vertreter der katholischen Kirche für Hauptmann Anlauf ergreifende Abschiedsworte: Bor einigen Wochen haben die Kinder des Getöteten ihre Mutter verloren und stehen nun an der Bahre ihres Vaters." Mit besonderer Betonung sagte der Geistliche, daß Hauptmann Anlauf, der sich als Sohn des Volkes aus einfachen Verhältnissen emporgearbeitet hat, nie ein Feind der Arbeiter gewesen ist.
WENN DER
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"
DERKURS FAL
ROMAN
VON
Faly Scherret
Nur ein schäbiger Rest bleibt übrig.
Harry sieht auf die Uhr. Sie zeigt sieben.
Die Nacht, die schaurige Nacht ist zu Ende. Endlich! Endlich! Warum muß der Mensch schlafen? Warum? Seit Jahren hat er keine ruhige Nacht verlebt. Bier, Wein und Schnäpse rebellieren gegen die engen Wände des Körpers, zerfressen in stiller, heimlicher Arbeit Leber, Nieren und Magen. Und in den vergessenen Stunden der Nacht ballen sich alle kleinen Beschwerden zu einem einzigen großen Schmerz zusammen.
Allmählich belebt sich der Harry sinkt auf das Bett. gläserne Blick. Die Haare sind noch verklebt, aber der Atem geht ruhiger. Der Druck hat nachgelassen. Das Leben lacht wieder.
denn
Ein ganzer Tag liegt vor ihm, ein Tag, der ausgewerden muß, foftet droht eine dahinter neue Nacht mit ihrem Grauen und ihrer Angst. Harry denkt an nichts. Er zicht an der Zigarette und trinkt den Rest des Rognats mit fleinen, genießenden Schlucken. Diesen Augenblic liebt er, diesen Augenblick, da das Leben erwacht.
Noch einmal muß er zur Schüssel. Dann ist es vorüber. Er flingelt dem Mädchen.
Tragen Sie es hinaus. Schnell! Ist mein Vater schon wach?"
So, fo, der alte Herr frühstückt bereits im Speisezimmer. Den läßt auch wieder irgendeine Schweinerei nicht schlafen. Jetzt hören Gottseidant die Finger auf zu zittern und fönnen den Rafierapparat halten. Sehr vorsichtig wird er angesetzt und geführt, und ebenso vorsichtig und langsam fleidet sich Harry an.
Heinrich Silvester fämmt mit dünnen, gichtknotigen Fingern den grauen Spizbart und stiert in die Morgenzeitung, als Harry eintritt.
Die Börse wird von Tag zu Tag fester", fnurrt er seinen Sprößling an, nur ich hab' nichts davon."
eingelaufen sei, so daß der Fahrdienstleiter von Hinterberg den Schnellzug passieren ließ. Nach den Angaben des Fahrdienstleiters von Hinterberg war die Berständigung am Telephon sehr schlecht. Das zweite Moment, das untersucht werden bird, ist die Frage warum der Güterzug vor der Einfahrt der Station auf offener Strecke so lange aufgehalten wurde. Der Aufenthalt wird mit 8 bis 14 Minuten angegeben. Vor der Einfahrt in den Bahnhof ist das Signal immer auf Halt gestellt. Erst wenn der Fahrdienstleiter auf die Ankunft des Zuges durch ein Sirenensignal aufmerksam ge= macht wird, gibt er die Einfahrt frei. Der Fahrdienstleiter von Göß behauptet nun, er habe sofort, nachdem er das Sirenensignal gehört habe, das Signal auf Freie Fahrt" gestellt. Einige Leute, die in der Nähe der Bahn wohnen, behaupten jedoch, daß der Güterzug minuteníang fast unausgesetzt gepfiffen habe, so daß sie davon aufgewacht seien. Infolgedessen wird die Vermutung geäußert, daß
,, Nun, nun", begütigt Harry, der sich schnell Kaffee einschenkt ,,, wird nicht so schlimm sein."
,, Du mußt es wissen", schnaubt Heinrich Silvester. ,, Du sitzt bei deinem reichen Herrn Bruder im Speck und bekommst ein unverschämt hohes Gehalt. Möchte nur gern erfahren, wo du dein Geld läßt."
Harry kennt dieses tägliche Morgengebet seines Bapas auswendig und beachtet es darum nicht. Heinrich Silvester legt auch keinen gesteigerten Wert darauf. Die Tatsache des Redens genügt ihm völlig. Er beschnüffelt ein Brötchen und packt es wieder fort. Dann tnüllt er die Zeitung zusammen. ,, Hör' mal, Harry, ist James augenblicklich flüssig?" ,, Er hat' ne halbe Million auf der Deda liegen. Du weißt doch von dem großen Abschluß mit Reval . Jedenfalls war gestern das Geld noch da. Ich glaube nicht, daß wir in den nächsten Tagen Weizen kaufen. Die Hausse flaut sicher bald ab."
,, Ich werd' heute abend mal mit ihm reden."
Harry blickt auf. Das elegante Herrenartikelgeschäft geht schlecht. Die Frage des Alten beunruhigt ihn. James soll also mit einer Anleihe herausrücken. Es muß wirklich katastrophal stehen. Nur in höchster Not wird James beansprucht. Der Stolz des fast zwanzig Jahre älteren Bruders erträgt diese Bittgänge nicht. Es ist tein Konkurrenzneid, aber Heinrich fühlt sich besiegt, gedemütigt, weil es der Jüngere trotz der Getreideflaute spielend schafft, während bei ihm in letzter 3eit immer wieder die Zahlungen stocken.
,, Versuch es doch mit Onkel Manfred." Harry nimmt diesen Borschlag durchaus ernst.
,, Ach, der Sänger! Sicher ein tüchtiger Mensch", Heinrich zuckt verächtlich die Achseln, aber doch kein Kaufmann! Wie war er übrigens gestern?"
Wundervoll! Ich habe die Romerzählung niemals besser gehört." Das bedeutet ein großes Kompliment, denn Harry fennt von seiner Berliner und Münchener Studienzeit her eine Sammlung berühmter Heldentenöre.
,, Schade, daß ich ihn nicht hören fonnte! Na, heute wird er wohl bei James singen."
Heinrich zündet sich eine Brasil an.
,, Du sollst doch nicht das schwere Zeug rauchen." Harry entrüstet sich. Sobald es dir besser geht, wirst du ungezogen."
,, Laß' man, mein Jungchen. Ich werf' dir auch nicht deine Whistys vor. Und sieh mal, heute hast du wieder kein Bröt
der Fahrdienstleiter in Göß geschlafen habe und erst durch das anhaltende Pfeifen des Zuges aufgewacht sei und das Signal freigegeben habe. Dadurch sei der Zusammenstoß möglich geworden.
Die Attentatspsychose.
Kein Anschlag auf die Bahnstrecke Helmstedt - Braunschweig . Die Pressestelle der Reichsbahnhauptverwaltung teilt mit: ,, Durch die Deffentlichkeit geht zur Zeit wiederum eine Meldung von einem angeblichen Attentat auf eine Eisenbahnstrecke. Es wird darüber berichtet, daß an der Bahnstrecke: Helmstedt - Braunschweig in der Nähe des Bahnhofs Frellstedt Sprengstoff großer Brisanz ge= funden worden wäre. Diese Meldung isf unrichtig und geeignet, Unruhe in das Publikum zu tragen. Hier liegt folgender Tatbe= stand zugrunde: In der Nähe des Bahnhofes Frellstedt, etwa drei bis vier Meter von den Schienen entfernt, wurde in einer Sandgrube, die für Müllabfuhr benutzt wird, eine weißliche Masse gefunden. Sie wurde als Sprengstoff angesprochen. Es hat sich aber bereits bei der ersten Untersuchung herausgestellt, daß es sich um feinen brisanten Sprengstoff handelt. Auch wenn dies der Fall ge= wesen wäre, ist die Gefährdung der Bahnstrecke durch eine Sprengung in einer vier Meter weit entfernten Grube nicht wahrscheinlich. Es bestätigt sich schon jetzt die von vornherein gehegte Bermutung, daß die Meldung über den Fund in der Sandgrube zu dem Zwet erfolgt ist, in den Besitz einer Belohnung zu kommen."
| chen gegessen. Dent' doch auch einmal an deinen Magen und an die Nerven.'
Harry steht auf. Jetzt hat er wieder das verfluchte Zittern in den Beinen.
Auf heute abend! Er frault seinem Papa schnell unter dem Kinnbärtchen.
Eigentlich beabsichtigt Harry, sofort ins Büro zu fahren. Aber als er auf der Straße steht, hält er es doch für angebracht, zuerst Johnny zu besuchen, den er vor noch nicht allzu langer Zeit verlassen hat.
Johnnys Bierstube liegt am Wasser, nach der Straße hin ein schmaler Laden mit einem engbrüftigen Schaufenster. Dahinter verbergen sich jedoch zwei größere Räume mit Nischen und Vorhängen, wo man ungestört Mädchenbeine abtasten, oder ein kleines weißes Pulverchen in die Nase führen kann. Unterhaltsame Beschäftigungen, die dem jovialen Johnny ein hübsches Bankkonto eingebracht haben. Johnny beabsichtigt, bald nach Berlin an den Kurfürstendamm überzusiedeln und dort eine fultivierte Lurusbar aufzumachen. In stillen Stunden trainiert er schon auf den vornehmen Mann und legt sich eine gebildete Sprache zu.
Harry überschreitet zögernd die Straße. Manchmal überfällt ihn eine lähmende Plazzangst, gegen die es keine Hilfe gibt. Der Kopf schwindelt, und die Beine drohen, jeden Augenblick unter dem Körper wegzusacken. Harry schließt die Augen, empfiehlt seinen Geist dem Allmächtigen und gelangt unangefochten auf den anderen Bürgersteig und in Johnnys Destille.
Am Schanttisch stehen zwei auf Talmieieganz stilisierte Herren und diskutieren mit Johnny die Geschäftslage. Man muß tatsächlich, wenn sich die Zeiten nicht bald bessern, nach anderer Arbeit greifen. Aber das hat bei der herrschenden Arbeitslosigkeit auch keinen Zweck. Mary, das kleine, blonde, verwuschelte Mädchen in abgewektem Sommerpelz, kuschelt sich an die Heldenbrust ihres Beschützers.
,, Dabei ist sie so tüchtig." Er streichelt den struppigen, der Ondulation entwöhnten Bubikopf.
Harry wird mit freudigem Halloh begrüßt. Ein paar Runden Kognak und Bier verschwinden sehr schnell in durstige Magen. Schorch, der Beschützer, erzählt gerade einen neuen, nicht salonfähigen Witz, als sich durch die schäbigen Portieren eine fleine, bucklige Gestalt schiebt.
( Fortsetzung folgt.)