rmeier:
3)ie dicke
In einem jener Lokole in den diäzt bevölkerten Arbeitervierteln der Stadt, die sich solcher„Attraktionen" bedienen, um ihre Kund- schaft zu unterhalten, trat sie aus� An den Fenstern klebten grell- bunte, laienhaft gemalte Plakate, die sckireiendc Ausschriften trugen. „D t e dicke B c t s y"—„D i e d i ck st e Frau der Welt"— „385 Pfund Gewicht" und andere Schlagzeilen knallten rot, blau, gelb den tZorubcrgehcnden entgegen. Abend?, wenn die Männer van der Arbeit kamen, Hab wohl mancher von ihnen den Kopf, sah nach den Bildern, von denen der unförmig dicke Frauen- körper im Trikot herunterleuchtete— dann trotteten sie weiter, mit hängenden Köpfen, schlenkernden Armen— leer, ausgepumpt.-- Trotzdem war es jeden Abend voll in dem Lokal. Vor der Tür stand von nachmittags um 6 an ein Mann im verschlissenen Portierrock. Die blanken Schnüre hatten ihren Glanz verloren', von den Knöpfen glich keiner dem anderen. Der Mann hatte Zettel in der chand und verteilte sie an die Vorübergehenden! kamen«in paar Männer vorbei, so rief er sie mit halblauter Stimme an und forderte sie zum Eintreten auf.„Kommen Sie herein, ineine cherren: hier sehen Sie Betfy, die dickste Frau, da? achte- Welt- wunder; kommen Siel" Ab und zu verschwand er durch die Tür in das Lokal-, jedesmal, wenn die dicke Betsy sich auf dem Podium, das unter ihrer Last ächzte, produzierte. Dann half e� ihr dabei. Sie gehörten zu- sammen; es war kontraktlich festgelegt, das Auftreten Berta Kunzes, der„dicken Betsy", und die Tätigkeit ihres Mannes Von der Decke des Lokals hinge» an langen Schnüren bunt« Papierfahncn herab. Alle Farben bunt durcheinander— zwischen- durch Lampions, in denen Glühbirnen brannten. An den Wänden war papiernes Weinlaub befestigt: wenn jemand daran stieß, dann raschelte es, und eine leichte Staubwolke flog auf. Zwischen dem Laube befanden sich Bilder— Gambrinus, auf einem Fasse reitend: braune Böcke, die schäumende chumpcn in den erhobenen Pfoten hielten: zechende Mönche—. während im Hintergründe da? Podium den Raum abschloß. Rechts und links davon waren zwei Türen mit weißen Emailleschildern—„Damen"—„Herren"— in ständiger Bewegung. Der große Lautsprecher grölte die Melodie der Schallplatte, die der Wirt auf dem Grammophon ablausen ließ, in den Raum. Die Kellner rannten eilig hin und her. Du-ch die Tür betraten einige Männer den Raum, gingen an einen Tisch, setzten sich und bestellten Bier. Kurz nach ihnen kain auch von drauhe» der jivrierte Anreißer herein, setzte sich jedoch nicht, sonder» schritt durch den Gang zwischen de» Tischen bis nach dem Podium, nahm an dem dort stehenden Klavier Platz und schlug einen lauten Akkord an. Darauf wartete er einige Augenblicke und begann dann, interesselos und abgehockt einen Marsch, den„Einzug der Gladiatoren", zu fpiesen. Die Töne des verstimmten Klavier? drangen durch den Lärm und das Gläserklappern— langsam verstummten die Ge- spräche, und die Aufmerksamkeit wandte sich dem Spieler zu. Dann erschien die„dicke Bersy" Sie stampfte gucr über den Gang und betrat schwerfällig dos Podium. Das Klavierspiel brach ab: der Mann stand aus, trat neben die Frau und begann, in das inzwischen um so lauter aufbrandende Sprechen und Lachen hinein seine Einfllhrungsrede zu halten. Bruchstückweise flogen die Worte durch den Raum:... medizinisches Wunder... berühmte Aerzte des In- und Auslandes untersucht... 385 Pfund... Engagements in Kopenhagen , Oslo , Warschau , Prag ... Die Frau stand während- dessen mit einem eingefrorenen, inhaltlosen Lächeln, ein Koloß von Fleisch, neben dem Sprechenden. Ihre in dicken Fettpolstern liegenden kleinen Augen sahen müde und starr auf einen Punkt an der Wand. Als der Mann jetzt schloß, trat sie einen halben Schritt vor und verneigte sich gegen das Publikum. Einzelne
klatschten: dann setzte das Klavierspiel wieder ein. Die dicke Betsy sang mit hoher Stimme, die unwahrscheinlich dünn au» dem Riesen- leibe kam, ein schlüpfriges Eauptet: jedesmal, wenn sie den Refrain wiederholte, machte sie ein paar unbeholfene Tanzschritte hin und her. Es war ein widerlicher und zugleich trauriger Anblick, wie die Frau sich dort oben mit erzwungener Lebhaftigkeit bewegt« und dazu sang. Der Schweiß stand ihr.in dicken Perlen auf der Puderschicht, die Gesicht, Hals und Arme bedeckte. Die lockeren Fettpolster an den Beinen und Armen, am ganzen Körper der Frau, gerieten bei jedem Schrill in Bewegung, zitterten, wenn sie mit den Füßen aufstampfte. Sie sang. Von der Toilette torkelte angetrunken ein Mann an da? Podium, hob die Hand und schlug auf einen der massigen, wulstigen Schenkel. Es gab einen klatschenden Laut— in den Augen der Frau flirrte es für eine Sekunde auf, undeutbar, ob tückisch oder traurig— dann legt sie den Ann um die schmale Schulter des Untenstehenden und stellte ihn mit einer einzigen Bewegung neben sich aus da? Podium, wo er verdutzt, mit blöden Augen, um sich starrte. Brüllendes Gelächter erfüllte den Raum. Zurufe, Zoten schwirrtc» gegen die Fron:„Fein gemacht, Betsy!"—„Mensch, die als Frau.."—„Adolf, fei still, die klatscht dir jejen die Wand"— jemand stand auf, murmelte«in„Widerlich" vor sich hin und ver- ließ das Lokal. D>r Klovierspieler hatte nur einen �lugenbiick den Kopf gc- wendet, als die Lachsalve losbrach. Jetzt hob er wieder die Hände und setzte sein Spiel fort. Die Frau sang ihr Couplet zu Ende. Dann verließ sie das Podium. Der Mann zog seinen Portierrock über, stürzte an der Theke ein Glas Bier herunter und trat dann mit seinen Zettel» wieder vor die Tür auf die Straße. Inzwischen ging die dicke Bclsy von Tisch zu Tisch und bot Postkarten mit ihrem Photo an Alles starrte ,ie an. Abschätzend hafteten die Blicke der Männer ihr aus Hals, Brust, Armen und Beinen. Nochher saß sie allein in einem Nebenzimmer am Tisch. Es war sast dunkel: eine kleine, matte Glühbirne brannte über der Tür. In der Kehle der Frau saß ein Schluchzen, das unailfhaltsam hochstieg. Bor ihren Augen flimmerte es. Ihr Herz trommelte einen tollen Marsch in der Brust. Schauer jagten ihr über den Körper— sie fühlte den drohenden Herzansall, tastete mit fliegenden Fingern in der Handtasche nach einem Pulver, schüttete es aus die Zunge und spülte es mit einem Schluck Wasser herunter. Dann saß sie. hintenüber gelehnt, regungslos da. Langsam rannen ihr die Tränen au? den Augen und über da? Gesicht. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um einen Punkt, einen Wunsch: Mensch sein dürfen, wie alle anderen— arbeiten können, wie alle anderen— Kinder baben wie alle anderen— und glücklich sein, wie alle anderen!— Warum muß ich nur Schauobjekt sein, Zielpunkt unflätiger Witze, zotiger Begierden? Warum drehen alle den Kops nach mir. wenn ich mich sehen lasse, rufen grob: Spähe hinter mir her?— Wäre ich doch auch w'e andere, zufrieden, froh, glücklich! Mein Herz ist krank, sogt der Arzt: ich muß dünner werden, sonst mache ich's nicht mehr lange -- haha, ich habe noch Kontrakte für zehn Monate: darin ist das Gewicht festgelegt. Ich darf nicht abnehmen: sonst kostet es Konventionalstrafe— ich mutz essen— essen— essen-- und wenn es mein Tod ist! Die Zeit verrinnt. Di« Frau weint leise vor sich hm. Plötzlich dringt von draußen'ein gedämpfter Akkord ins Zimmer. Die Frau schreckt zusammen, steht auf. fährt sich mit der Puderquaste über das Gef-cht und stampft hinaus--- wieder die„dicke Betfy". Draußen hämmert dsr„Einzug der Gladiatoren".
Qerlrude Weriheimer:
Mier fiel
Kürzlich fiel mir ein Band des„Journal de Geneve" aus dem Jahre �854 m die Hönde. Sauber gcbiKiden die täglichen Ereig- niffe, Hoffnungen und Enttäuschungen der kleinen Genfep Welt, politische Streiflichter auf die übrige große Welt. In der Ausgabe vom 16. September finde ich, wortkarg auf- geführt in der amtlichen Rubrik„väces— Todesfälle": 31»out, Lagsalle, Ferdinand, avocat, 39 ans, Hotel Victoria, Pnissien, celibataire." zu deutsch : „Am 31. August. Lassalle, Ferdinand, Advokat, 33 Jahre alt, Hotel Victoria, Preuße, ledig." Ich blättere zurück. Am 28. August 1864 hatte vor den Toren Genfs jenes Duell zwischen Lassalle, um die Liebe der schönen Helene Doenmges, und Jako von Racowitza, um die Ehre seiner Braut Helene, stattgefunden, in dem Lassalle, der„Messias des neunzehnten Jahrhunderts" wie ihn Heine nannte, die tödliche Wunde erhielt. Kein Wort findet sich darüber In den Spalten der Zeitung. Am 22. August 1864 war es in Genf , im Anschluß an die Magistrats- wählen, zu Straßenkämpfen gekommen: damit ist Spalte um Spalte, Nummer um Nummer des Blattes gefüllt. Leitartikel, Augsnzeugenberichte, Meinungen aus Genf , aus der übrigen Schweiz , aus der ganzen Welt. Am 31. August ist Lassalle in Genf seiner Wunde nach schwerem Todeskampf erlegen. Auch in der Ausgabe vom 31. August keine Zeile über Lassalle . Wieder nur bekümmerte Kommentare zu den Straßenkämpsen. Seltsame Perspektivlostgteit.der Mitwelt für historischen Wert und Unwert. Eine Spalte des„Journals" vom 31. August ist gefüllt mit der Geschichte einer Ziege, die den Schatz ihres Besitzers, 10 606 Franken in Papier, der im Stall verborgen worden war, aufgefressen hat. Die Ziege wurde geschlachtet, aber nur die Nummern von sechs 1000-Franknoten konnten aus den Fragmenten im Magen de« Tieres retonftruiert werden. 4000 Franken hatte die Verdauungssäure zerstört. Die Bant von Frank- reich sah sich außerstande, den Verlust zu ersetzen. Da« ist Gegen- wart. Ueber die Tragödie Lassalle auch in den späteren Nummern de» Blattes nichts.- Nichts außer der amtlichen Registrienmg feines Todes am 16. September. Ich beschließe, den Ort des Duells auszusuchen. Niemand in Genf kann mir recht sagen, wo er liegt, obzwar der Gedenkstein, der an der Stelle errichtet wurde, vielfad>, auch ganz abgesehen von Lassalle, in die Literatur eingegangen ist. Endlich finde ich doch einen Führer: ein Freund, der bei einem winterlichen Spaziergang einmal zufällig auf den Stein gestoßen ist. Er will versuchen, ob er ihn wieder finden kann. Wir fahren mit einer kleinen elektrischen Bahn nach dem Dorf Beyrier am Fuße des Saleve-Berges, des Wahrzeichens von Genf . Das Dorf ist halb noch Schweiz , halb Frankreich , Laffalle hatte
verlangt, daß da, Duell jenseits der Grenze geschlagen werde, damit er nach Genf zurückkehren und auch nodz den in Genf lebenden Bater Helenes, der sich der Verbindung seiner Tochter mit Lallalle widersetzt hotte, zur Rechenschaft ziehen könne. Aus der Ortschaft heraus führt uns die Nationalstraße, die das mondäne französische Bad Evian am Gensersee mit dem alten Klosterstädtchen Annecy und weiter mit dem französischen Gastein , Aix-les-Bain », verbindet. Rechts von der Straße ist Schweiz : saubere bürgerliche Landhäuser flankieren sie da, in gutgehaltenen Gärten mit peinlich gepflegten Kieswegen. Eine Atmosphäre von seelenloser, aber absoluter Reinlichkeit umweht sie. Man spürt, daß hier viel Seife verwendet wird/ daß da» Leben planvoll in fest- gefügten Grenzen dahinrollt. Links liegt Frankreich , das dämonischere Ufer der Straße. Großzügig sind etwas verwahrloste einzelne Häuser über das hügelige Terrain gestreät. Der Strich Landes zwischen der Grenze und der steilaufsteigenden Nordwand des Saleve scheint nicht zu den bestgehüteten, reichsten Teilen der französischen Republik zu gehören. Ein Steinbruch wird hier abgebaut. Sonst sieht das Land wild, unergiebig aus. Stark mit Unterholz durchsetzter Wald, undurch- dringliches.Gebüsch, Heideland, karger Weidegrund wechseln mit- einander ab, willkürlich, so wie sie die Natur selbst verteilt hat. Nur der Zug, dessen Gleise etwas abgerückt parallel mit der Straße laufen, trägt hier fahrplanmäßig einen flüchtigen Hauch von Paris durch die Gegend. Auf gutgefederten Rädern saufen die Schlaf-, die Speise- und die Pullmanwagen des Expreß Paris�-Evian vor- bei. In ihren langgestreckten Leibern Menschen tragen, deren Ge- danken noch in Paris , in London oder New Tort oder schon in Evian bei der Kur, am Strand oder am Spieltisch sind. Bei der Personenzugstation Boissey, sie hat kein sichtbare- Hinterland, nur eine große Namenstasel steht auf dem sandigen Fahrdamm, übertreuzen wir die Gleise. Ein steiniger Fußweg führt in der Richtung des Saleve hinan. Ein halbverfallenes Hau« bleibt links liegen, ein paar Baracken der Steinbrudzsarbeiter. Dann kriecht der Weg zwischen regennassem Gebüsch hindurch, kaum Raum für einen einzelnen Menschen lassend. Schweigend marschieren wir im Gausemarsch zwischen den feuchten Blätterwänden. Wie haben die Dllellanten dtese» Weg zurückgelegt? Sie müssen die Wagen unten auf der Straße gelassen haben, müssen diese halbe Stunde im fahlen Licht des Herbstmorgens zu Fuß gegangen fein. Ein hoff- nungslofer Todesweg, bedrängt von Gedanken des Unentrinnbaren, Endgültigen, ohne Weite, ohne Ausblick. Aber Lassalle hat oll das ja nicht empfunden. Er war des guten Ausgangs so sicher gewesen. Er hatte es abgelehnt, sich einzuschieben.„Unsinn, ich weiß, was da» Schicksal mir bestimmt hat." war seine optimistische Antwort auf die Vorstellungen seiner Freunde gewesen. Etwa» weiter treten die Gebüsche auseinander, eine Wiese ver- schmilzt ansteigend mit den Hängen des Saleve, Dann wieder Ge- büsch und Wald. Der Weg windet sich, führt über Steine und
Wurzeln. Dann bleibt der Wald nur als Flanke des Weges auf der Seit« des Saleoes zurück. Rechts liegt ein tn dieser bizarren Wildnis auffallend regelmäßig geformter Wiesenfleck, Drei Kanten werden vom Wold gezogen, die vierte bildet der Weg, Wir gehen über den feuchten Rasen, der merkwürdig hellgrün gegen die düstere Waldumrahmung aufleuchtet. Rote Kleeblumenköpse, weihe Wiesen- kümmeldolden streifen unsere Schuhe, Ganz nahe der einen Waldecke des Gevierts, etwas in den Schatten der ersten Bäume gerückt, steht eine unbehauene Stein- Pyramide. Kaum einen halben Meter hoch, mehr wie ein erratisches Steinstück, das irgendeine Naturgewolt hier in den mosigen feuchten Waldbodeii gestreut hat, In die vordere Breitseite ist ein rundes Medaillon geschliffen, anspruchslose Buchstaben sind in seine Fläche gegraben: Ferd. Lassalle nd le 11 Avril 1823 wort ä la suite d'un duel le 31 acut 1864. Ferd. Lassalle Geboren am 11. Zlpril 1825 Gestorben an den Folgen eines Duells am 31. Anglist 1864. Kleine grüne Moospolster füllen die Kerben der Buchstaben. Verwitterung nagt an dem Stein. Ueber ihm ziehe» Eichen, Buchen. Fichten ein undurchdringliches Gewölbe, Man sieht keinen Himmel, keine Sonne, n»r die modernde Trostlosigkeit des feuchten Wald- bodens, bedeckt mit welken Blättern, kümmerlichem Epheu, Moos und Flechten. Ein paar Schritte weiter in den Wold hinein liegt«in kleiner See, clne Lache mit schwarzbraunem Moorwosscr. in ewigem Schatten, Hier fiel Lassalle in einem Duell, in dieser Art de» Zwei- kampss, die er stets verachtet und als ein Gottesgericht des Mittel- alters gebrandmarkt hatte. Müßig, darüber Worte zu verlieren, warum er sich in dieses Duell gestürzt hat. Viele, die sein Leben bis in die letzten Konsequenzen verfolgt hoben, gldubcn, es sei voll- endet gewesen als er starb, andere wieder sagen, er sei erst im Anfang gestanden, der kühne Bogen seiner Bahn sei nur jäh durch ein hartes Schicksal zerbrochen worden. Nur eines ist sicher, sein Leben endet in einer Dissonanz, die keine Kunst in Harmonie auf- zuiöscn vermag, ä>er Raubmörder als Segelflieger _ Jeder weiß, daß die Segeifliegerci eine schone, ungefährliche Sache ist für den, der sie versteht, aber wenige kennen den ersten Segelflieger, der es wagte, sich mit einem primitiven Holz- und Fcdergeftell der freien Luft anzuvertrauen� Niemand wird wissen, daß dieser erste Segelflieger ein Verbrecher, ein Raubmörder war! In den Uranfängen der Segelfliegcrei, da noch kein Mensch, selbst der Erfinder nicht, der neuen Erfindung recht traute(die übrigens auch bald darauf wieder einschlief),-war es naturgemäß jd?wer, jemanden zu finden.- der sich freiwillig zu diesem ersten Experiment hergab. Keiner wollte— trotz ausgesetzter hoher Be- lohnungen— den„Sprung ins Ungewisse" wagen, einen Fallschirm kannte man nicht— also war guter Rat teuer... Da tat man kurzerhand folgendes: man holte sich einen gefangenen Schwerverbrecher und stellte ihn vor die Alternative: Fliegen oder Boll- streckung des Urtells! Bei Gelingen des Fluges— die Freiheit, bei Nichtgelingen— der Tod, der dem mehrfachen Raubmörder aber ohnehin bestimmt war! Ein durch das Gesetz gnadenlos zum Tode Verurteilter wird sich tir solchen FWen rricht'tange. besinnen. Einen Kopf hat er nur zu verlieren. So oder so, Am 29, September 1777 gab der Raubmörder Dominik Dufort zu Port Louis in der Bretagne die Einwilligung zu dem ersten Segelfluz mit Hilfd eines leicht konstruierten, mit Federn besetzten umschnallbaren Flugmantels, erfunden und erbaut von A. Defontage. Man reichte Dufort ein herzstärkendes Medikament und führte ihn auf das etwa 60 Fuß hohe Dach des Zeughausturms. Man über- prüfte nochmals das Gestänge des Federaufbaue-. Dufort schnallte sich darin fest und sprang bei starkem Winde in die Tiefe hinab. Ueber zehntausend Menschen, der Gouverneur Graf Aegouillon und die Akademie der Wissenschaften wohnten dem Absturz bei. Duforts primitive Segelflugmafchine flatterte eine Zeitlang im Winde, schaukelte und stürzte und begann dann, langsam und gravitätisch zu sinken In allernächster Nähe der Absprungstelle ge- langte der moderne Ikarus wohlbehalten zu Boden, umjubelt von der begeisterten Menge, Beschert mit einer hohen Belohnung, die durch sofortige Sammlung unter den Zusdiauern aufgebracht wurde, zog er nach einem reichlichen Festmahl von bannen... der Mörder Dominik Dufort hatte sich„frei geflogen". Lp.
SSraderie In Ostfrankreich ist nach dem Kriege eine Einrichtung entstanden, die so großen Beifall gefunden hat, daß sie seit zwei Jahren auch im Luxemburger Land nachgeahmt wird und vielleicht auch in Deutschland noch eine fröhlidie Auferstehung feiern wird. Der Aus- druck Braderie steht noch in keinem Wörterbuch, Nur das Wort brader kam früher in der Aolksfpradie vor und bedeutete spottbillig ausverkaufen. Man versteht aber jetzt unter Braderie keinen ge- wohnlichen Ausoerkauf, sondern eine außerordentliche Berkaüfs- gelegenheit, die in großem Maßstab von allen Geschäften einer Stadt einheitlich inszeniert wird. Man wählt dazu z. B. die Tage nach einer Kirmes oder einem sonstigen Fest, bei dem doch viel Volk auf den Beinen ist. Der Tag wird mit kräftigem Tamtam in den Zeitungen angekündigt, und am Braderie-Tag legen die Kaufleute ihre Waren nicht bloß im Laden und in den Schaufenstern, sondern auch auf dem Bürgersteig mit besonders billigen Preisnotierungen aus. Durch geschickte Reklame ist Schwung in die kauflustige wie auch bloß neugierige Menge gebracht worden, und jeder, der sich die Waren ansieht, findet etwas, was ihm besonders vorteilhaft erscheint. So kann der Kaufmann nicht bloß alte Ladenhüter los- werden, sondern auch marktgängige Waren leichter absetzen. In den französischen und luxemburgischen Städten, in denen bisher eine Braderie veranstaltet wurde, waren Geschäftswelt und Pnbli- tum in gleicher Weife mit dem Ergebnis zufrieden, und die Veran- staltung wird deshalb olljährlich wiederholt. Die Hauptsache ist, daß in die Verbindung zwischen Publikum und Geschäftswelt mehr Leben und Bewegung gebracht wird, damit Waren und Geld zuin Vorteil für beide Teile besser in Umlauf kommen. In Frankreich hat man sogar den Tag des Buches braderieartig ausgestaltet, so daß dort ein viel größerer Umsatz erzielt wurde als bei der allzu steifen Form des deutschen Buchtages, Bei einer Nachahmung in Deutschland müßte natürlich auf die besonderen deutschen Verhält- nilse und namentlich die Eigenart des Volkes und der Landschaft Rücksidst genommen werden, Aus den Verkehrsmitteln Berlins , also mit Straßenbahn, Om- nibu», Untergrundbahn, Stadt-, Ring- und � Vorortbahn, werden jährlid, 1300 Millionen Fahrgäste befördert. Diese Menichenzahl cutspricht der Erdbcvölkerung der Gegenwart.