Einzelbild herunterladen
 

Morgenausgabe

Nr. 423

A 213

48.Jahrgang

Wöchentlich 85 Pf., monatlich 3,60 M. ( davon 95 Pf. monatlich für Zustel lung ins Haus) im voraus zahlbar. Bostbezug 4,32 M. einschließlich 60 Pf. Boitzeitungs- und 72 Pf. Postbestellge bühren. Auslandsabonnement 6,-. pro Monat; für Länder mit ermäßig tem Drucksachenporto 5,- M.

Der ,, Borwärts" erscheint wochentäg­lich zweimal, Sonntags und Montags einmal, die Abendausgabe für Berlin und im Handel mit dem Titel Der Abend", Jllustrierte Sonntagsbeilage Bolt und Zeit".

Vorwärts

Berliner Bolksblatt

Donnerstag 10. September 1931

Groß- Berlin 10 Pf.

Auswärts 15 Pf.

Die einspalt. Nonpareillezeile 80 f. Reklamezeile 5,- R. ,, Kleine An­zeigen" das fettgedruckte Wort 25 Pf. ( zuläffig zwei fettgebrudte Morte), jedes weitere Wort 12 Pf. Rabatt It. Tarif. Stellengesuche das erste Wort 15 Pf., jedes weitere Wort 10 Bf. Worte über 15 Buchstaben zählen für zwei Worte. Arbeitsmarkt Zeile 60 Pf. Familien­anzeigen Zeile 40 Bf. Anzeigenannahme im Hauptgeschäf Lindenstraße 3, wochen­täglich von 81/2 bis 17 Uhr. Der Berlag behält sich das Recht der Ablehnung nicht genehmer Anzeigen vor!

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Redaktion und Verlag: Berlin SW 68, Lindenstr. 3 Fernspr.: Dönhoff ( A 7) 292-297. Telegramm- Adr.: Sozialdemokrat Berlin .

Vorwärts- Verlag G. m. b. H.

Postscheckkonto: Berlin 37 536.- Bankkonto: Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten, Lindenstr. 3. Dt. B. u. Disc.- Ges., Depofitent., Jerusalemer Str. 65/66.

Englands Gewerkschaften zur Krise

Das Abwehrprogramm des Generalrates.

London , 9. September. ( Eigenbericht.)

Dem Gewerkschaftstongreß in Bristol lag am Mittwoch ein Bericht des Generalrates über die jüng­ften politischen Ereignisse in England vor. Der Bericht stellt fest, daß die politische Krise des August 1931 nur der kul­minationspunkt einer sich dauernd verschlechternden Situation in England gewesen sei, deren Wurzeln in der Nachwirtung des Krieges und in seinem Erbe, den Reparationen und Kriegsschulden, zu suchen sei, sowie in der verfehllen De­flationspolitik der englischen Betriebe. Tatsächlich sei Englands Lage im Vergleich zu derjenigen anderer Länder im Jahre 1931 gegen­über der 1928 günstiger.

Die Mittel, die der Gewerkschaftsrat zur Bekämpfung der langfristigen krise in England empfiehlt, sind: Be­endigung der Deflationspolitik der lehten zehn Jahre, Modernifie­rung der englischen Industrie unter dem Einfluß der öffentlichen Hand, eine internationale Politif, die auf Weltfrieden und die Revision der Reparationen und der Kriegsschulden abgestellt ist. Die Politik der Cohnsentung sei grundver­tehrf und werde nur zu weiterer Deflation und daher zu weiterer Wirtschaftsnot führen. Die Fessehung der Goldparität des Pfundes im Jahre 1925 auf den Vorkriegsstand sei ein Fehler gewesen. Nehme man jetzt die Her abwertung des Pfundes vor, so werde das zwar seine kauffraft schwächen, aber gleichzeitig die Schuldeniast vermindern und den Exportindustrien neuen Antrieb geben. Würden sich die Verhältnisse nicht bessern, so werde England zur Aufgabe der gegenwärtigen Pfundparität gezwungen werden. Ueber das Problem des Finan 330lles hat der Generalrat

noch feine Entscheidung getroffen.

Rotverordnungsverfahren.

London , 9. September. ( Eigenbericht.)

Jm Unterhaus brachte die Regierung am Mittwoch ein Gesetz ein, das die Durchführung des Sparprogramms ohne Zeitverlust im Parlament ermöglichen foll. Danach fönnen Einzelheiten der Spargeseze durch kabinettsbeschluß Geschestraft erhalten. Das bedeutet nicht, daß die Regierung jetzt mit Notverordnungen regieren will. Die grundlegenden

|

Bestimmungen der geplanten Maßnahmen werden nach wie vor im Parlament besprochen werden. Außerdem hat das Gefeh nur Gel­tung für Sparmaßnahmen und nicht für neu zu erhebende Steuern.

Unter der Regierungsmehrheit befinden sich nur 3wölf Labour- Abgeordnete, darunter allein fieben Mitglieder der Regierung. Die Arbeiterpartei ist im Parlament unter der Führung Hendersons geschlossen geblieben. Neuerdings wird allgemein die Erwartung ausgesprochen, daß bereits in furzer Zeit. etwa Ende Oktober oder im November, Neuwahlen nötig sein werden.

Fußballspiel mit Damenhut.

London , 9. September.

Bei der heutigen Unterhausdebatte, bei der sich die Ungeduld in Erwartung der morgigen Erklärung des Schazkanzlers Snowden deutlich kundtat, tam es zu einem ebenso amüsanten wie ungewöhn­deutlich kundtat, kam es zu einem ebenso amüsanten wie ungewöhn­lichen Zwischenfall. Nach der Regel des Hauses muß ein Mitglied, das, während eine Abstimmung im Gange ist, eine Frage an den Sprecher wegen der Geschäftsordnung richten will,

das Haupt bedecken.

Nun wollte ein Arbeiterführer eine solche Anfrage stellen. Im entscheidenden Augenblick aber hatte er teinen Hut zur Stelle, worauf Frau Manning, das weibliche Arbeitermitglied für Oftinslington ihren Hut, der zwar nach der neuesten Mode einem runden Herrenhut glich, aber zwei große Federn hatte, dem in Not befindlichen Kollegen herüberreichen ließ. Ein hilfs bereites Mitglied stülpte dem Fragesteller den Damenhut auf. Als dieser aber merkte, daß er mit fremden Federn geschmückt mar, riß er empört den Hut vom Kopfe. Unter feinen Partei­freunden sette darauf eine

förmliche Jagd nach dem unglücklichen Hut

ein. Schließlich gelang es der rechtmäßigen Besitzerin, den Hut wiederzuerlangen, der jedoch fa um wiederzuertennen war. Der Filz war zerschunden, und von den Federn war faum noch etwas übrig. Jedenfalls dürfte Frau Manning es sich schwer über­legen, ehe sie ihren Hut wieder einem Kollegen borgt.

Preußens Sparprogramm.

Lujo Brentano .

Ein Weltbürger, der für die Freiheit und den Aufstieg der Arbeiterschaft kämpfte.

München , 9. September.

Professor Lujo Brentano ist heute nachmittag im 87. Lebensjahre gestorben. Der Berblichene war 1872 Professor der Staatswissenschaften in Breslau geworden, wirkte dann in Straßburg , Wien , Leipzig und München und trat im Jahre 1914 in den Ruhestand. Brentano war einer der führenden deutschen Sozialpolitiker und Nationalökonomen. Lujo Brentano ist in hohem Alter gestorben. Am 18. De­3ember wäre er 87 Jahre alt geworden. 1924 hatte er den Lehrstuhl für Nationalökonomie an der Münchener Universität endgültig verlassen. Seitdem lebte Brentano in Prien am Chiemsee. Den letzten Winter und das Frühjahr verbrachte er zur Erholung an der französischen Riviera in Juan les Pins , wo er an feinem Tage den Besuch der herrlichen Gärten am Cap d'Antibes versäumte. Als wir ihn zuletzt sahen und fragten, wie es geht, meinte er: ,, wie es einem 86jährigen Mann halt gehen kann." Aber seine Augen schauten so fest und listig wie je dabei, weil er mußte, daß ihm keiner den alten Mann glaubte.

"

83 Jahren begann er die Veröffentlichung einer fünfbändigen Brentano ist troß seiner 86 Jahre nie alt geworden. Mit 83 Jahren begann er die Veröffentlichung einer fünfbändigen Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Englands". Im Jahre 1929, mit 85 Jahren, durchschnitt er in fester Ent­schlossenheit und in ebenso großer Enttäuschung das Tischtuch er hatte den amischen sich und dem Berein für Sozialpolitik Verein gegründet und ihm 56 Jahre lang führend angehört weil die sozialpolitische und wirtschaftsliberale Tradition dieser berühmtesten Bereinigung deutscher Volkswirte kapitalistischer Liebedienerei geopfert worden war. Bor ganz wenigen Wochen noch, dem Tode schon nahe, lief er in der Sozialen Praxis" Sturm gegen die beabsichtigte neue Lohnsenkung in Deutschland und gegen die Unternehmertheorie des Empor­hungerns.

Ausgabensenkung um 180-200 Millionen Mark. - Abbau sämtlicher Funktions: fehen, die sich in der politischen Freiheit und

und Leistungszulagen.

Die Beratungen der preußischen Regierung über die Not- an. Ihm wird vorgeworfen, daß er sich während der Be­verordnung zur Ausbalancierung des preußi­schen Etats und der Etats der preußischen Gemeinden find am Mittwoch nach der grundfählichen Seite hin abgeschlossen worden. Die Veröffentlichung der Verordnung wird jedoch erst erfolgen, sobald die Reichsregierung zu den preußischen Maßnahmen Stellung genommen hat und der wahrscheinlich erforderliche Aus­gleich zwischen den preußischen Plänen und neuen bevorstehenden Maßnahmen der Reichsregierung erfolgt ist.

Die preußische Notverordnung sieht vor allem einen Abba ú sämtlicher Funttions- und Leistungszulagen ab 1. Ottober um mindestens ein Drittel und mehr des bisherigen Sages vor. Außerdem sollen eine ganze Reihe von Stellen ein gespart werden. Von dieser Maßnahme merden alle Beamten­fategorien, also auch die Volksschullehrer und die Lehrer der höheren Schulen, betroffen. Darüber hinaus ist für die Beamten der Gruppe A, d. h. das Gros der Beamtenschaft, insofern eine Be soldungssperre vorgesehen, als Beförderungen bzw. ent­

Sprechende Zulagen in Zukunft nicht mehr jährlich, sondern nur noch alle drei Jahre gestattet werden. Durch diese und andere Maßnahmen erfährt der preußische Etat für den Rest des Haus haltsjahres 1931/32 voraussichtlich eine Ausgaben senfung

von etwa 180 bis 200 millionen Mart.

Die in der Notverordnung enthaltenen Maßnahmen zur Sanie­rung der fommunalen Finanzen beruhen im wesentlichen auf den Finanz- und Wirtschaftsplänen des Deutschen Städtetages. Die Gemeindeverwaltungen werden u. a. ermächtigt, von sich aus geeignete Maßnahmen zur Sanierung ihrer Haushalte zu treffen. Auf diese Weise sollen Ersparnisse von insgesamt 200 mil lionen Mark ermöglicht werden.

Im Zusammenhang mit Erörterungen über die Ab baumaßnahmen der preußischen Regierung bei den Schulen greifen staatsparteiliche Blätter und folche des Zentrums den preußischen Kultusminister heftig

ratungen des Kabinetts nicht schüßend vor die Schule gestellt und Abbaumaßnahmen bei der Schule aus parteitaktischen Erwägungen geduldet habe. Diesen Behauptungen gegenüber muß festgestellt werden: Die Abbaumaßnahmen bei den Schulen, die insgesamt eine Ersparnis von rund 40 Millionen Mark ausmachen, sind zum größten Teil gegen den preußischen Kultusminister, und zwar mit den Stimmen der staatsparteilichen und 3 en trums minister beschlossen worden.

Personalwechsel- Systemwechsel?

Direttorenwechsel bei der Dresdner Bant.

Die Dresdner Bank teilt mit: In der Mittwochsitzung des vom Aufsichtsrat der Dresdner Bank eingesetzten Personal- und Kreditausschusses wurde der Vertrag mit Herrn Direktor Göbisher Commerz- und Privatbank als ordentliches Vor­standsmitglied abgeschloffen. Direktor Götz wird nunmehr seine Tätigkeit bei der Dresdner Bank aufnehmen.

Ferner wurde vom Personal- und Kreditausschuß davon Kenni­nis genommen, daß die Herren Herbert M. Gutmann , Georg Mosler und Paul Schmidt- Branden ihre Aemter als Vorstandsmitglieder niederlegen werden und daß Herr Wilhelm Kleemann mit Ablauf des Jahres aus dem Vor­ftand der Dresdner Bank ausfcheidet. Herr Kleemann wird bis zum Ende des Jahres die Leitung der Genossenschafts­abteilung der Dresdner Bank beibehalten. Die ausscheidenden Herren haben sich auf Wunsch des Personal- und Kreditausschusses bereit erklärt, sich der Bank auch nach Niederlegung ihrer Aemter zur Verfügung zu stellen. Die bisherigen Mitglieder des Borstandes Henry Nathan und Geheimrat Frisch gehören auch

fernerhin dem Vorstande an.

Genfer Reden im Rundfunk. Am heutigen Vormittag wird Briands Rede vor der Bölkerbundversammlung auch in Berlin durch Rundfunk übertragen. Morgen vormittag wird Dr. Cur tius Rede ebenfalls übertragen. Die genauen Zeiten werden noch bekanntgegeben.

Diese rastlose Gelehrtenarbeit und diese entschieden tämpferische Haltung noch im hohen Alter kennzeichnet den ganzen Mann und sein ganzes Leben. Brentano war nie Sozialist; er hat Karl Marg in den 70er und 80er Jahren literarisch befehdet. Er hat das kapitalistische, ind i= vidualistische Wirtschaftssystem für richtig und notwendig gehalten, aber er hat zugleich die Existenzfähigkeit dieses Systems nur in der sozialen Weitherzigkeit seiner Bertreter gegenüber der Arbeiterschaft begründet ge­Gleichberechtigung der Arbeiterklasse, in dem staat­lichen Arbeiterschuh und im wirtschaftlichen Aufstieg der Ar­beiterschaft auswirken mußte. Brentano war der Begründer des sozialen Liberalismus in Deutschland . Ihm hat er sein ganzes Leben lang gedient, auch in der politischen Front. Unter den Hohenzollern kämpfte er 1899 in vorderster Reihe gegen die Zuchthaus vorlage, die Streifende ins Zuchthaus schicken wollte. Bis zum Umsturz kämpfte er gegen den§ 153 der Gewerbeordnung, der das Streifpoftenstehen formal erlaubte, praktisch aber die Streif­posten mit einem Fuß ins Zuchthaus stellte. Brentano gehörte der Sozialisierungskommission an. Er schrieb mehrfach in der Gesellschaft". Er war fein Sozialist, aber er stand der Arbeiterschaft sehr nahe.

"

Brentano war es in erster Linie, der in der Wissenschaft und der bürgerlichen Deffentlichkeit der organisierten Arbeiterschaft und ihrem Kampf um Freiheit und bessere Arbeitsbedingungen Sympathien warb. Aus Studien­reisen in England brachte er schon 1870 de erste deutsche wissenschaftliche Werk über die Gewerkschawegung, die Arbeitergilden der Gegenwart" mit. 1876 gundierte er in der klassischen Arbeit ,, Ueber das Verhältnis von Arbeitslohn und Arbeitszeit" die These, daß Lohnerhöhung und Ver­fürzung der Arbeitszeit die Arbeitskosten nicht erhöhen müssen. Das rechtliche Arbeitsverhältnis", Die Arbeiterversicherun­gen", den problematischen Schutz der Arbeitswilligen" unter­fuchte er 1877, 1879 und 1899. So lange Brentano lehrte, war der Zustrom zu seinen Vorlesungen ungeheuer. Wer sich unter seiner Anleitung die wissenschaftlichen Sporen ver­dient hat, konnte nicht leicht mehr ein Feind der Arbeiter­interessen werden. J

"

In den letzten Jahren ist die Lebensarbeit dieses Mannes durch die Sozial- und Agrarreaktion der deutschen Schwer­industrie und des ostelbischen Junkertums wieder zu hoher Aktualität gelangt. Da hat sich der 86jährige Brentano an die Seite der Arbeiterschaft und der Konsu­menten gestellt gegen Lohndruck und Brotwucher. Er hat