SSherl SSrennecke: 3) HS SlCVbCtlCtnd.
Gegen Morgengrauen erwachte Mutter Kölsch. Durch die dünne Lehmwand klangen die Schreie der jungen Frau. Dqzu die resolute, immer wieder beschwichtigend« Stimm« der Hebamme. Mutter Kölsch raffte einige armselige Kleidungestücke vom Fuß- boden, die ihr während der Nacht al» Unterlage gedient hatten,— und trat dann an das Bett, wo die beiden Kinder des Glasbläser» schliefen. Sie atmeten ruhig und hielten sich im Schlaf mit den dünnen Aermchen umschlungen. Die alte Frau seufzte auf und machte sich an die Arbeit, das glimmende Herdfeuer wieder anzufachen. Die Schreie der Kreisenden schwollen stärker, bis sie nach einem letzten entsetzlichen Aufschrei in ein leises Wimmern übergingen. Ein zartes Weinen mischte sich darein. Wenige Augenblicke später klopfte es gegen die Tür. Mutter kölsch öffnete; es war die Hebamme. en bihken warmes Wasser, Mutter Kölsch;— ist allen? gutgegangen.— aber diesmal ist et bloß en Mädchen,— noch keine drei Pfund schwerl" Mutter Kölsch legte mahnend den Zeigefinger an den Mund und machte eine Handbewegung in Richtung des Bettes. �„Ach so, die Göhren schlafen noch!— Js man ooch gut, daß sie hier unterkriechen konnten."-- Während Mutter Kölsch das dampfende Wasser behutsam in die Wanne goß, flüsterte die Hebamme weiter: „Ist ne Not da drüben,— es Herz könnte sich einem im Leib« umdrehen,—(ein Hemdchen, keine anständige Windel!— Und so'n fleißiger Mann wie er ist, schuftet und quält sich den ganzen Tag!" „Es langt eben nicht hin und her," unterbrach Nlutter Kölsch,— �.sieben Mäuler wollen erst gestopft sein bei dem Hungerlohn!" „Iaja," stöhnte die Hebamme, während sie die Schüssel auf- nahm,„und nun wieder was Kleenes,— und dabei ist die Frau so schwach und hinfällig,— das reine Elend, wenn man's so ansehen muß—---." . Die Tür siel knarrend ins Schloß. Mutter Kölsch überzeugte sich, daß die Kinder noch schliefen,— und öffnete dann nachdenklich den Deckel der alten Truhe, darinnen sie ihre paar Habseligkeiten verwahrte. Zuoberst lag der Brautkranz, welk und verblichen,— daneben ein breitkrempiger Hut, der von ihrem Manne stammte, dem Schäfer Andreas Kölsch, der schon über ein Jahrzehnt draußen auf dem kleinen Waldfriedhof begraben lag. War'ne schwere Zeit seither gewesen. Wenn sie das bißchen Invalidenrente nicht gehabt hätte, wäre sie gewiß schon längst ver- hungert. Denn nur einmal hatte sie es gewagt, den feisten, wohl-
I habenden Gutsherrn um«in« Unterstützung zu bitten, ver aber hatte sie barsch abgewiesen, obwohl ihm der Schäfer Andreas Kölsch ein Menschenalter hindurch treulich gedient hatte. Mit den dürren, von Not und Entbehrung zerfurchten Händen kramte die Frau«in Paket hervor, sorgsam gebündelt und mit weißem Papier umhüllt. Ehe sie den Knoten löste, streichelte sie zärtlich darüber hinweg. Da» hatte sie sich vom Mund« abgespart, und es war das Letzte, was sie mit dem Schicksal einigermaßen versöhnte: ein eigenes, anständiges Sterbehemd zu besitzen, wenn«» galt, in die Grub« zu fahren. Sie streifte das Papier ab und ließ die weiße Leinewand durch die Finger gleiten. Es war gutes, weiches Linnen und stammte noch au» der kargen Aussteuer, die sie damals als frisches, dralles Mädchen mit in die Ehe gebracht hatte. Biel war es ja nicht ge- wesen, auch hatte ihr Andreas niemals«in Wort darüber verloren. Der gute Andreas!-- Nun, er würde sie droben im Himmel auch nicht schief angucken, wenn sie nur das einfache Armenhemd am Leibe hatte, das man den Toten auf Kosten der Gemeinde gab. Sie lauschte zur Wand. Wieder wurde das zarte Weinen ver- nehmbar. Ein Sonnenstreifen fiel durch das schmale Fenster und umflirrte goldschimmernd das greise Gesicht der Knienden. Als die Frühglocke dünn und blechern aufschrillte, saß Mutter Kölsch hinter ihren roten Geranientöpfen und zog fleißig Faden um Faden. Auf dem Tisch lag zugeschnitten ein ganzer Stapel von Windeln und kleiner Hemdchen. „Mutter Kölsch, was machst denn," rief Georg, der zuerst wach geworden war. und sich im Bett aufgerichtet hatte. Die alte Frau schob die Brille in die Stirn und sagte lächelnd: „Ei, solch ein Langschläfer!-- Schlafen bis in den hellen Tag hinein und lassen das neue Schwesterchen warten." „Ein Schwesterchen." jubelten plötzlich zwei Knabenstimmen, wovon die eine noch sehr schlaftrunken klang. „Nun aber rasch in die Buxen,— und anständig anklopfen, wenn ihr zur Mutter geht.— und für das Schwesterchen nimmt jeder ein Hemdchen mit, dann paßt mal aus, wie es euch anlachen wird!— Und zur Mutter sagt ihr, daß ich die anderen Hemden und Windeln erst noch nähen mutz." Wie der Wind sind die beiden Knaben zur Tür hinaus, und während Mutter Kölsch«inen neuen Faden in die Nadel zieht, kann sie gar nichts dafür, daß ein paar Tränen auf das weiße Linnen fallen.
Pirmin Wegner: �UCJfß III
Ich nehme ineine alten Gewohnheiten aus dem Orient wieder auf. Seit gestern wohne ich in einer kleinen Herberge im Norden von Teheran . Eigentlich ist es nur eine Garküche; zu ebener Erde, hinter einer grüngestrichenen, schaukelnden Glastür, nebeneinander der Speiseraum und die Küche; im ersten Stock aus dem Dach drei schmale Zimmer, in denen ich der einzige Gast bin. Hier lebe ich für neun Kran(drei Mark fünfzig) täglich in Teheran , der teuersten Stadt Persiens , in Reis und Hammelfleisch schlemmend, wie ein Karawanenführer. Ich habe fünf Leute zu meiner Bedienung, das heißt, da jedet immer der Stellvertreter und Bediente des anderen ist, wird es mir schwer, festzustellen, welches ihre besonderen Aufgaben sind. Man kann In Persten sagen, daß auf zwei Leute, die eine Arbeit verrichten wollen, immer drei kommen, die sie daran hindern. Da ist der Wirt, sein Verwalter, der Kellner, der Koch und der Küchenjunge, ein fünfzehnjähriger Knabe mit schönen großen Augen. Der Wirt oertritt die Würde, der Verwalter den Einkauf, der Kellner die Bedienung, der Koch die Küche und der Küchenjunge den Ofen. Der Koch, in dessen Ge- ficht die Falten so kreisförmig um die Augen über das ganz« Gesicht stehen, wie die Jahresringe auf einem durchsägten Baum, hat stets im Stehen das Kinn in die Hand gestützt, während er mit der ande- ren mit dem Löffel in einem Topf rührt. Wenn er mir den Reis auf der Schüssel zurechtmacht, fährt er erst ein paarmal tief mit den Händen hindurch wie durch einen Haarschops, ehe er ihn mit den Fingern spitz und schneeschimmernd wie den Gipfel de» Dema- vent über meinem Teller auftürmt. Ich ekele mich keineswegs; denn die Hände deese-s Halunken mit seiner schmutzigen Lappen- schürze sind sauberer wie mancher Löffel in diesem Lande. Uebri- gens bin ich aus den Jahren des Krieges im Orient Schlimmeres gewohnt. Zu meiner besonderen Obhut ist Askra bestellt. Ich spreche mit ihm in einer Mischung von russischen und türkischen Wörtern, und er hat eine besondere Art, mich von untenher mit einer sozusagen „niederschmetternden Demut" anzusehen. Jeden Abend, wenn ich spät in der Nacht heimkomme, begleitet er mich auf mein Zimmer, wo er den Jammer einer zerschlagenen Petroleumlampe mit solcher Andacht wie die Lichter eines heiligen Brunnens entzrindet, bis er mich schließlich auf dem dunklen Dache zurückläßt, wo ich in der fröstelnden Nacht allein mit den Sternen wohne. * Ich Hab« mich getäuscht. Es sind nicht fünf, sondern acht Be- diente in meinem Hotel. Da ist noch der Gehilse des Verwalters, der Gehilfe des Gehilfen des Verwalters und der Gehilfe des Küchen- jungen. Da sie niemanden außer mir zu bedienen haben, umgeben sie mich stets in voller Zahl und verfolgen mit liebevollen Blicken jeden Bissen nach meinem Munde. Heute abend, al» ich mit lahmen Füßen aus der Stadt zurückkehrte, die vom vielen Umherlaufen schmerzten, geschah etwas Aufregendes. Ich hatte mich kaum zu Tisch gesetzt, als der Küchenjunge, von Krämpfen geschüttelt, zu Boden sank. Der Verwalter stürzte sich, ein handlanges Küchen- Messer in der Faust, auf ihn, so daß ich im Zweifel war, wollte er ihn zur Ader lassen oder töten? Entsetzt erhob ich mich. Aber schon war er niedergekniet, um mit dem Messer«inen Krei, um den Kranken zu ziehen, wobei er die Spitze so scharf auf die Steine setzte, daß die Funken sprühten; es war, als könnte man die zer- schnittenen Leiber der bösen Geister sich. leibhaftig In ihrem Blute wälzen sehen. Ich weiß nicht, worüber mein Entsetzen im Augenblick größer war, über die Wut dieses Aberglaubens oder den Anblick des hilf- losen Jungen, dessen schönes Gesicht vollkommen entstellt ,war, und dem der Schaum von den Lippen troff. Heute sollte ich die Macht des persischen Aberglaubens an mir selber erfahren. Ich hatte bei einem Ausflug nach Abdul Achad, einem frommen Wallfahrtsort bei Teheran , kaum den Eingang des Basars betreten, hinter dem die Moschee liegt, al, ich plätzlich von einer Menschenmenge umringt wurde, die mich am Weitergehen zu hindern suchte. Wilde Gestalten umringten mich im Halbdunkel des
Ganges , drohende Blicke sahen mich an. Ich bemühte mich, einem Händler auf Französisch verständlich zi� machen, daß es gar nicht meine Absicht wäre, den Hof der Moschee zu betreten, sondern nur den Basar. Aber die Haltung der Leute wurde nicht freundlicher. Ein junger Kaufmann wies auf meinen photogmphischen Apparat und jagte mit flehenden Augen zu mir: „jso yous prie instarament de retourner tont de suite. C'est pour votre vie!" In diesem Augenblick erinnerte ich mich daran, daß der amerl- kanisch« Konsul vor zwei Jahren in Teheran von der fanatischen Menge erschlagen wurde, weil er einen heiligen Brunnen photo- graphieren wollte. Um diesen Brunnen hatte es folgende Be- wandtnis: Eines Tages faß vor dem Brunnen ein rechtgläubiger Bettler, der einem vorübergehenden Behaisten zu trinken anbot. Die Behaisten sind ein« freiheitliche und friedliebende Sekte, die gerade darum in Persien al, revolutionär gilt und von der strenggläubigen Geistlichkeit bitter verfolgt wird. Als der Behaist getrunken hatte, bat ihn der Bettler im Namen seines Hestigen um einen Schahi. „Hättest du mich im Nomen des Bab gebeten", sagte der Behaist,„hätte ich dir sogar einen Toman gegeben..., so bekommst du gar nichts." Di« Verwünschungen des Bettlers endeten in einem Schrei zu Allah , er möge den Behaisten mit Blindheit- schlagen. Da geschah das„Wunder", und der Behaist stürzte hin, wurde blind und be- kehrte sich zum rechten Glauben. Als die Priester von Teheran den Bekehrten an den Brunnen stellten, um der versammelten Menge seine Geschichte zu erzählen, nahte der amerikanische Konsul mit seinem phtographischen Apparat. Er war als Amerikaner besonders verdächtig, weil die Behaisten, eine heute über die ganze Erde verbreitete Gemeinschast, gerade in Amerika zahlreich« Anhänger besitzen. Einige behaupteten sogar, der Brunnen wäre in diesem Augenblick versiegt und man hätte die Schuld in dem„bösen Blick" der photographischen Linse gesehen. Der Konsul wurde von der Menge zu Boden geworfen, zertrampelt, und als er halbtot sich auf die Wache flüchten wollte, hatte man dem Sterbenden noch den Kopf mit heißem Wasser verbrüht. Nur mit großer Scham erinnern sich die aufgeklärten modernen Perser dieses Vorganges und sind nun selber bemüht, die Fremden zu warnen. Immer drohender umdrängte mich die Menge, während ich mich langsam zurückzog. Nur die Frauen hockten schweigend und reglos, vermummt wie schwarze Säcke, an den Mauern. Da erschienen auch schon zwei persische Gendarmen, um mich in ihrem Schutz aus den finsteren Gängen wieder hinauszubegleiten. Brausend schloß sich hinter mir bi« Kehle des Basars, ein tödlicher und böse zuckender Mund. Ich lief bis vor die Tore des kleinen Wallfahrtsortes hinaus. Auf den Aeckern gingen Bauern trotz des Feiertages pflügend hinter ihren Büffelgespannen einher. Am Wege ein Bauernhof, dertnoch den traurigen Besitz seines Elends hinter Lehmmauern und Schieß- scharten wie in einer Burg verschloß. Lang« irrte Ich auf den Feldern umher, um den letzten Toten- türm der Parsen zu finden, die auch hier ihre Toten nicht bestatten, sondern den Vögeln zum Fraß hinwerfen. Wie die Bärenzähn« riesenhafter Mammuts ragten einige Steinhügel hinter den Feldern steil und unmittelbar aus der kahlen Ebene. Die Erde, die Stein«, alles log schwarz verbrannt in der Sonn«. Endlich leuchtete oben weiß zwischen den Felsen«in« Schale von Gips. Ein Geier erhob sich bei meinem Nahen von ihrem Rand, verschwand zwischen den Steinhügeln. Im Innern lag mit angezogenen Knien ein abgeschäl- t»« Gerippe, von d«r Sonne gebleicht wie eine vertrocknete Distel. Al, ich au» den Bergen wieder nach Abdul Achad zurückkehrte, begegnete ich noch vor der Stadt zwischen den hohen Lehmmauern der einsamen Gärten einem Automobil. Zwei Perserinnen und ein Knabe stiegen aus. Die Frauen hatten zu meiner Verwunderung ihr« Schleier geöffnet, die Mäntel zurückgeschlagen. Es schien, als wäre hier draußen alle Scham von diesen Städterinnen genommen, sie offensichtlich den bessereu Stän- j
den angehörten und in Teheran stets nur finster und schweigsam an mir oorübergeglitten waren; hier, wo sie sich unbeobachtet wuß- ten, schien ihr Verhalten das völlige Gegenteil von dem, was ich noch am Morgen in Abdul Achad erlebt hatte. Sie winkten und zeigten auf meinen photographischen Apparat. Der Knabe, die Frauen, der Chauffeur, alle lachten. Ich ging vorüber und blickte mich um. Auch sie blieben stehen. Der Knabe winkte, die Frauen winkten, und schließlich kehrte ich um. Di««in« Frau ging vor mir her, wobei sie sorgsam in ihren weichen Schuhen den Weg zwischen den Pfützen wählte. Ihre Stirn war hoch, die schwarzen Brauen, die in der Mitte zusammenstießen, geschweift wi« die Schwingen«ine« Raben. Ihr Lachen schien mir wollüstig und verführerisch. Die anderen waren zurückgeblieben und mein Herz klopfte. Endlich öffnete sich in der Lehmmauer eine hölzerne Pforte. Der öde, noch winterliche Garten lag leer, und nur an der Seite erblickte ich eine Laube aus geflochtenen Strohmatten. Die Tür fiel hinter uns zu. # In meinem Hotel ging eine Veränderung vor. Als ich gestern abend aus Abdul Asis nach Hause zurückkehrte, waren die zwei roten Teppiche, der einzige Schmuck in dem kleinen Speiseraum, von der Wand verschwunden. Auch ein paar Tische und Stühle hatte man fortgetragen. Was ist geschehen? Vergeblich suche ich mich mit meinen wenigen russischen und türkischen Worten verständlich zu machen. Will man umziehen oder ist alles verpfändet? Nur soviel begreif« ich, daß man kein Geld mehr hat. Am Abend fand ich mein eigenes Zimmer fast leer. Tisch, Stuhl, Teppich fort. Nur die Bettstelle hat man mir gelösten. Aus den Nebenzimmern sind die Möbel schon verschwunden. Der steinern« Boden atmet eisige Kälte. Auf der Matratze hockend, zog ich mich aus. e- Der letzte Tag. Das ganze Haus ist geräumt. Auch die großen Kochschüsseln auf dem Herde sind nun verschwunden. Mitten im Zimmer ein großer Aschenhaufen. Auf der nackten Erde hockt der Küchenjunge, offenbar hat man ihn entlasten. Sein bronzener Ober- körper ist vollkommen nackt, er hat das Hemd ausgezogen, und während sein Gesicht von Tränen überströmt, ist er dabei, sich die Läuse aus seiner Wäsche zu suchen, die er schluchzend zwischen den Fingern zerknackt. Im Nachbarhause hat man noch einmal für mich gedeckt und begleitet zum letzten Male mit stummen Augen jeden Bissen, den ich verzehre. Askra brachte mir meinen Pelz, schlürfend kam er auf seinen ausgetretenen Pantoffeln die Treppe herunter, er wies auf die Taschen meines Mantels und ließ mich nachsehen, daß nichts verschwunden war. Lange blickte er mich an wie ein Dater beim Abschied seines Sohnes; dann legte er zum Zeichen seines Kummers zweimal die beiden ausgestreckten Mittelfinger aus die geschlossenen Augen. Jniernationale Spielhölle Tagsüber ist Tanger , die marokkanische Hafenstadt, eine alte orientalische Stadt, die die Spuren vieler Völkerschaften, die sie nach- einander erhobert hatten, trägt. Es ist auch die internationale Stadt, in der ein spanischer„tabor" und eine französische Garnison ftied- lich beieinander Hausen, die Stadt mit den vielen Postämtern, dem französischen, dem spanischen, dem englischen und vielleicht noch anderen, wenn man die Geduld hat, die Aufschristen zu entziffern. Tagsüber ist es die Stadt der Gärten und der Schlösser, die teils arabischen Würdenträgern gehören, wie das des M. von Tazi, des Vertreter» des Sultans, teils aber Eigentum der Gesandtschaften-u sind, wie das der italienischen Legation zum Beispiel. Abends aber beginnt erst das wahre und eigentliche Leben von Tanger . Dann wirft Tanger seine Maske ab und zeigt plötzlich sein wahres Gesicht, das Gesicht eines hundertköpfigen Spielers. Tanger ist nämlich eine internationale Spielhvhle. Ringsum von Tanger herrschen strenge Spielverbote: die französischen und spa- nischen Protektoren verbieten ihren Protektionsbefohlenen das Spiel. Hier aber, in der internationalen Zone von Marokko , wird da» Spiel von niemanden verboten. Hier lebt es sich aus; hier wird es zum eigentlichen Sinn des Daseins und erklärt die scheinbar« Ruhe des Tages, die nichts anderes ist als die Erwartung des Abend». Auch am Tage wird hin und wieder gespielt, aber diese Spiele sind be- deutungslos, denn die eigeMlichen beginnen erst in der Nacht. Sobald es dunkel geworden ist und die großen iMernationalen Hotels ihren Gästen in langen und üppigen Menüs alle Spezialitäten des Landes dargeboten haben, erwachen, wie von einem Zauberstabe berührt, die großen Hallen der internationalen„Kursäle", in denen gespielt wird. Diese Kursäle beherbergen zwar auch Tanzlokale und Kinotheater, aber das ist nur so nebenbei, ganz unbedeutend und nur zum Schein arrangiert. Das einzig Wichtige ist der Spielsaal, wo die Kugel der Roulette rollt und der Ruf der Croupier« erschallt: „Kien ne va plus." Und wo die unverblühmte Gier der Gesichter so international ist wie die Spielmünz«, die man zum Spiel bekommt gegen jede Währung. Hier in diesen Spielhöhlen, wo die Lange- weile des Kolonialdaseins aufhört, hier erstirbt die Marokkofrage im Rollen der iMernationalen Kugel. Franzosen und Spanier ver- brüdern sich, und der zugereiste Engländer hört genau so gern das bekannte:„hartes votre jeu, Messieursl" In den dunklen und engen Gasten von Tanger sieht man Licht durch die geöffneten Türen fallen, und man weiß: hinter diesen Türen wird ebenfalls gespielt. Welch«in sonderbares Bild bieten aber diese Spielhöhlen der„Eingeborenen"! Im Halbkreis auf Matten sitzend spielen sechs bis zehn Männer Karten, und ihre heißen Augen brennen in den leidenschaftlichen Gesichtern. Sie haben auch die Welt und die Menschen vergessen, und vergessen haben sie wohl auch ihre Gebete und ihren Glauben. Während sie spielen, ergreift jemand ein Instrument, und es erklingt die sehnsuchtsvolle, monotone Musik. Ja, die Araber spielen Karten beim Klänge dieser weh- mütigen Musik, und wenn wir die engen Gassen dieser sonderbaren Stadt durcheilen und beim Klange der Musik stehen bleiben, so sehen wir überall das gleiche Bild. Weit draußen aber rauscht da» Meer. Ein unendlicher Sternen- Himmel, eine sanfte Vollmondnacht. Kaum kann man in einer solchen Nacht an all die Greuel denken, die verübt worden sind im Namen der Gerechtigkeit und im Namen dieser schönen Stadt Tanger , die der Gott des Spieles so oereint, trotz aller Unterschiede verbrüdert, daß man sagen könnte: in dieser Stadt schlagen alle Herzen dem gleichen Gott entgegen, dem Gotte des Zufalls. 8. IC
Die ältesten Juwelen. Zu den ältesten Schmuckstücken der Welt- geschichte gehören die Kostbarkeiten, die jetzt in London als Funde der letzten ägyptischen Ausgrabungen ausgestellt tberden. Blau- schimmernde Ouarzkugeln, die auf ein Alter von mehr als«M Jahre zurückblicken, haben ihr« ganze Schönheit bewahrt. Auch andere vieltausendjährige Edelsteine sind hier zu sehen, und überhaupt zeigt sich, daß sich die Schmuckmoden im Laufe der Jahrtausende nur wenig geändert haben. Biese Halsbänder, die einst den Nacken der Pharaonen und ihrer Gattinnen zierten, stimmen in Form, Farbe und Größe mit dem Schmuck überein, den man heute in den Juwelengeschästen kaust. Hunderte von Ringen, Halsketten und Armbändern, die man aus uralten Gräbern geborgen hat, zeugen von der ewigen Gleichhett des Schmuckbedürfnistes der Menschheit.