Nr. 519 48. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Eine historische Abbruchstelle
Es mutet eigenartig an, im Zentrum einer Weltstadt wie Berlin einen offenen Abbruchplatz zu sehen, der zu nichts anderem nütze ist, als zum Tummelplatz für Kinder.
Hier stand eines der ältesten Häuser Berlins im Zuge der Stralauer Straße am Mühlendamm. Das Grundstück gehörte ursprünglich der Brauerei Landré. Das Gebäude wurde bereits 19 10 roegen des U- Bahn- Tunnels der Linie AlexanderplatzSpittelmarkt abgerissen. Auch heute, nach 11 Jahren, hat sich auf der Ruinenstätte nichts geändert. Die Spree nagt immer noch an den verfallenden Ufern dieser traurigen Großstadtroüste.
Donnerstag, 5. November 1931
Bubenhände am Werk.
Ginnlose Zerstörungen am Märchenbrunnen.
Eines der schönsten Bauwerke Berlins , der Märchenbrunnen am Friedrichshain , ist in der Nacht zum Mittwoch von Bubenhänden schwer. demoliert worden. Mit einem Hammer sind einige der besten Märchenfiguren stark beschädigt worden, Arme, Beine und Ohren wurden abgeschlagen. llebel zugerichtet wurden die Figuren von Hänsel und Gretel.
Der Märchenbrunnen, der rings von einem Zaun bzw. einer Mauer umgeben ist, wird jeden Abend mit eintretender Dunkelheit abgeschlossen. Der Wärter bemerkte die Zerstörungen gegen 11.50 Uhr nachts. Von dem Täter und seinen mutmaßlichen Komplicen war troh der Bemühungen der Kriminalpolizei feine Spur zu entdecken. Ob es sich bei der üblen Tat um das Werk eines frankhaft veranlagten Menschen oder um sinnlose Exzesse zerstörungswütiger Elemente handelt, ist gleichfalls noch unaufgeklärt.
Es wird nicht so schnell möglich sein, den angerichteten Schaden wieder gutzumachen, da die Reparaturen beträchtliche Geldsummen erfordern, die im Augenblick natürlich schwer aufzubringen sind.
Oberstaatsanwalt schreibt einen Roman
Eine Strafanzeige wegen übler Nachrede.
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Der Oberstaatsanwalt in Heilbronn , Elmert, hat einen Roman geschrieben: Mechtilde". Der Held dieses Romans ist der Staatsanwalt Hagedorn, Direktor einer Frauenstras anstalt. Ein sauberer Herr, dieser erdichtete Staatsanwalt. Unter Verlobungsversprechen verführt er das Töchterlein des Pförtners und wird von seiner Verlobten überrascht, wie er mit einer Ge
Kaplan als Kinderverführer. raurigen Borlommnis noch verſchiedene Bunkte, die dringend der fangenen ein Schäferſtündchen abhält. Staatsanwalt Hagedorn Hift
Mißbrauch Jugendlicher in charitativer Erziehungsanstalt. Unter dem dringenden Berdacht, fortgefeht unzüchtige Handlungen an Kindern vorgenommen zu haben, die ihm als Erzieher anvertraut waren, wurde der kaplan des Johannesstifts in Weißensee festgenommen. Angeblich soll es sich um einen italienischen Staatsangehörigen handeln. Unsere Informationen lauten anders. Der Staatsanwalt hat Haftbefehl auf Grund des § 176 des Strafgesetzbuches erlaffen.
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leber Jahre hinaus hat dieser Erzieher fein frevles Spiel getrieben. Lediglich einem Zufall verdanken die dort untergebrachten Rinder im Alter von 10 bis 14 Jahren, daß sie endlich von ihrem Beiniger befreit worden sind.
Bor einigen Wochen erschien einer der Zöglinge bei seiner Mutter und flagte über Schmerzen. Lange mollte der Junge nicht mit der Sprache heraus, bis er endlich gestand, daß er mehrmals wöchentlich den Herrn Kaplan besuchen müsse, der fich in nicht wiederzugebender Weise an ihm und anderen Rindern der Anstalt verging.. Als Entgelt befamen die Kinder jedesmal 1 bis 2 Mart. Wenn der materielle Gewinn die Kinder nicht zwang, so half der unnatürliche Erzieher mit ideellen Zwangsmitteln nach. Die Mutter beklagte sich in bitteren Worten über das ganze Syffem der charitativen Fürsorge.
Nach dem Tode ihres Gaiten arbeitete die Frau als Heimnäherin, um fich und die Kinder auf anständige Art und Weise durchs Leben zu bringen. Sie war verhältnismäßig jung und lernte einen Ar beiter tennen, den sie nad) längerer Bekanntschaft bei sich aufnahm. Jetzt fing die fatholische Fürsorge energisch an, sich um ihre Verhältnisse zu fümmern. Auf keinen Fall dürften die Kinder in der Bohnung der Mutter bleiben. Man redete auf die einfache Frau ein, man drohte und erreichte dann schließlich, daß die Frau der Kirche die Erziehung der Kinder überließ. Ein Kind kehrte vor kurzem in das Mutterhaus zurüd, das andere ist das mißbrauchte. Auch das zurückgekehrte Kind behauptet heute, mißbraucht worden zu sein.
Die Mutter fragt mit Recht, wer die Berantwortung für diese Borfälle trägt. Die Staatsanwaltschaft wird sich mit der
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Familie Soviet
Roman Don Elfe Stisbus
Das sind die Tage, an denen der Vater lacht und scherzt, an denen er die beiden Kinder auf den Schoß nimmt und sich nicht genug tun fann mit Nedereien und Luftigkeiten. Und an diesen Abenden nimmt Germaine den Vater, ganz in Beschlag. Alles muß er hören, alles wissen, was in der Schule vorging, und wenn er sich dann in gut gespieltem Entsetzen die Ohren zuhält, dann versucht Germaine, die Finger gewaltsam zu lösen und ihren Willen durchzusetzen. Das sind die fröhlichen Stunden, in denen sich der Bater an den Schreibtisch setzt und mit todernster Miene einige Zeilen aufs Papier wirft. Und Walter jubelt vor Bergnügen, und selbst die Mutter muß wohl oder übel in die allgemeine Freude einstimmen, wenn dann Germaine mit Grabes stimme vorliest, daß meine Tochter die Gesangsstunde am Nachmittag wegen heftigen Nafenblutens nicht besuchen" fonnte. Denn die Gesangsstunde ist Germaines Hölle, sie leidet entseglich unter der ewigen Wiederholung der primi tivsten musikalischen Gehörübungen, und Loriot freut sich wie ein Kind, einen der verhaßten Schulmeister, die ihm auf die Nerven fallen, auf harmlose Weise hinters Licht führen zu
fönnen.
So gleitet Monat um Monat, Jahr um Jahr dieser Jugend dahin, in der die Freude in allen Abstufungen ihren Blaz einnimmt. Und niemals tommt Germaine der Gedanke, daß diese Freude einmal erlöschen könnte.
Denn Germaine ist ganz jung, ganz allem Erleben hingegeben, und fie lebt gang der Gegenwart. Und wenn fie einmal an die Zukunft denkt, dann geschieht das in einem beglückenden, traumhaften Gefühl, wie wenn hinter dem Kreis des Sichtbaren Erlebnisse von noch viel reicherer Schönheit, von noch viel tieferem Glanz heraufdämmerten.
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Die breite, schattige Allee, die Baden- Baden mit dem einstigen Dörfchen Lichtental verbindet, steht in voller Blüte. In den Beeten der gepflegten Anlagen blühen Maiglöckchen
mord.
Berhaftung des Kaplans nicht begnügen fönnen. Es sind bei dem Aufklärung bedürfen. Mehrere vernommene Kinder behaupten unter anderem unmiberlegt, daß der Kaplan gesagt hätte, er fei auch ein entschiedener Berfechter des§ 218 und endet mit Selbstnoch lange nicht so schlimm wie sein Borgänger! Wahrscheinlich wird diese Drohung nur eine Berleumdung des Amisvorgängers fein. Auf jeden Fall muß verlangt werden, daß den Anschuldigungen der Kinder auf das gründlichste nachgegangen wird.
Sommerliches Novemberwetter.
Gestern 19 Grad Wärme in Berlin .
Unter dem Einfluß eines verbreiteten Hochdrudgebietes, das fich über Südoft- und Südeuropa erstredt, ist seit Dienstag im ganzen Reich fommerliches Better eingetreten.
Bei moltenlosem Himmel waren gestern beispielsweise in Westdeutschland Temperaturen bis zu 20 Grad Wärme zu verzeichnen. Berlin hatte am Dienstag als höchste Tagestempe ratur 14 Grad, am Mittwoch um 12 Uhr aber bereits 17 Grad Wärme. Die südlichen Winde haben zu einer starten Erwärmung der oberen Luftschichten beigetragen. Gestern vormittag wurden in 1000 Meter Höhe annähernd 10 Grad Wärme gemessen. Das marme Wetter dürfte zunächst noch fortdauern, allerdings ist wieder mit Bemöllung zu rechnen, da im Westen Europas lagernde Depreffionen Neigung zeigen, weiter weffwärts abzuwandern. In der letzten Nacht gingen die Températuren sehr unterschiedlich zurüd. In Frankfurt a. M., das tagsüber 17 Grad Wärme verzeichnete, fiel die Quecksilbersäule auf drei Grad Kälte und in Norddeutschland, zum Beispiel in Hamburg , betrug die tiefste Nacht temperatur 12 Grad Wärme. Wie sich das Wetter zum Wochenende gestalten wird, ist zurzeit noch völlig ungewiß.
Opernabend im Stadthaus Wilmersdorf. Am Donnerstag, 5. November, 20 Uhr, findet im Festsaale des Stadthauses Wilmers dorf, Kaiserallee 1-12, der 2. Städtische Kunstabend ein Opern abend.. statt. Zur Mitwirtung sind das Berliner Sinfonieorchester unter Leitung von Dr. Frieder Weißmann und als Solistin Helene Schulz( Alt) gewonnen worden.
und Hyazinthen, Papageitulpen und Krokus, Anemonen und Narzissen. Berauschend ist der Duft, betäubend die milde, weiche Luft, die sich mit dem herben Erdgeruch der sprießen den, drängenden, feimenden Erde vermischt.
Germaine wälzt sich unruhig in ihrem Bett hin und her. Irgend etwas liegt ihr im Blut, seit Wochen schon, sie weiß nicht recht, was sie mit sich anfangen soll. Sie hat seltsam ziehende Schmerzen in der Brust und im Leib, Wachstum und Uebergangsschmerzen, wie sie der Arzt nannte. Die Schmerzen an sich beschweren sie nicht weiter, aber die drängende Unruhe in ihrem Körper macht sie unzufrieden und mißmutig. Dazu dieses schwüle, überweiche Klima in dem von Bergen eingeschlossenen Taltessel! Biel lieber würde sie hinaufsteigen auf die Schwarzwaldhöhen, auf denen noch der Schnee liegt.
Sie hat plöglich eine grenzenlose Sehnsucht, aufzustehen und fortzulaufen. Jetzt da oben zu wandern, sich den Früh jahrssturm durch die Kleider wehen lassen, wandern in Schnee und Kälte, bis man todmüde geworden ist! Aber Bater wollte diesmal durchaus nach Baden- Baden , und die Familie Loriot ist daran gewöhnt, seinen Willen als aus ichlaggebend zu betrachten, da er höchstens einmal jährlich gemeinsam mit Frau und Kindern reist. Die übrige Ferien zeit verlebt man getrennt. Seufzend wälzt sich Germaine auf die andere Seite und versucht, wieder einzuschlafen. Aber mit einemmal fährt sie aus dumpfem Halbschlaf jäh in die Höhe. Leise Stimmen tönen aus dem Neben zimmer, laut genug, um an ihr geschärftes Gehör zu dringen. Ungeduldig und gereizt flingt die Stimme des Vaters. Germaine richtet sich im Bett auf und horcht. Dann gleitet sie von einem zwingenden Gefühl getrieben zur Tür. Du kannst jederzeit gehen, Andre", sagt die ruhige Stimme der Mutter, aber diesen Betrug hinter meinem Rüden ertrage ich nicht länger. Ileberall weiß man davon, überall lächelt man über mich, da ich anscheinend so dumum bin, nichts zu merken. Ich kann dieses Leben nicht meiter führen."
Der Bater unterbricht sie heiser. Hättest du mich das mals gehen lassen, nach Dolfs Tobe, aber du wolltest ja nicht, obwohl ich dir mit schonungsloser Offenheit fagte, was dich und mich erwartet. Aber darin seid ihr Frauen alle gleich. Erst große, heilige Bersprechungen, daß ihr mit allem zu frieden sein mollt, was man euch gibt, und wenn man dann nachgibt, dann könnt ihr nicht genug von einem haben!"
Aber auch die Stimme der Mutter hat nun einen ge
Weshalb sollte ein Oberstaatsanwalt nicht auch einen Roman schreiben und seiner Phantafie freien Lauf laffen. Die Sache hat einen Staatsanwalt unter sich namens Hagedorn. Die Tochter dieses nur einen Hafen: Oberstaatsanwalt Elwert hatte als Vorgesetzter lebenden Staatsanwalts hieß Mechtilde, ganz so wie die Tochter des erdichteten Staatsanwalts. Und der Oberstaatsammalt Elmert hatte in Heilbronn die Wohnung seines Staatsanwalts Hagedorn im Hause dessen Schwiegervaters bezogen.
Die Württemberger Justiz wußte natürlich Bescheid um das zufällige" Zusammentreffen der beiden Namen. Staatsanwalt Hagedorn schwieg wohlweislich. Durch eine Klage hätte er nur die menig saubere schriftstellerische Leistung seines Borgesetzten populär gemacht, sich aber wenig genügt. Bis eines Tages die Deffentlichkeit sich mit seiner Person doch befaßte: er hatte das Verfahren gegen die Aerzte Dr. Wolff und Frau Dr. Kiehnle in der berüchtigten Stuttgarter Abtreibungsangelegenheit zu leiten. Das Berliner fom munistische Abendblatt, die ,, Belt am Abend", richtete an das Justizministerium die Frage, ob der Staatsanwalt Hagedorn etwa mit der Romanfigur des Oberstaatsanwalts identisch sei. Der Artikel gab zu verstehen, daß etwas an der Darstellung des Romans doch mahr sein müsse. Eine Berichtigung des württembergischen Justizministeriums wurde in der gleichen Weise gloffiert. Es erfolgte Strajanzeige wegen übler Nachrede. Oberstaatsanwalt Elwert. fommissarisch vernommen, erklärte, der Staatsanwalt Hagedorn Tei ihm nur ganz flüchtig befannt, er habe bei der Niederschrift seines Romans durchaus nicht ihn im Auge gehabt, Das Gericht verurteilte den angeklagten Redakteur wegen übler Nachrede in zwei Fällen zu 100 refp. 200 Mart Geldstrafe.
Getränkesteuer bleibt.
Der Magiftrat hat in seiner geftrigen Sihang befchloffen, dem Ersuchen der Stadtverordnetenversammlung auf Aufhebung der Getränkesteuer nicht beizutreten, besonders nachdem die Reichsregierung jeht die Geltungsdauer der Getränkesteuer über den 1. April 1932 hinaus auf unbeschränkte Zeit verlängert hat..
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reizten, tief verlegten Klang. Du solltest dich wirklich schämen, mir so etwas zu sagen, mir, die ich das darf ich mit ruhigem Gewissen fagen- so selbstlos an deiner Seite gewesen bin, wie es feine andere Frau vermocht hätte. Daß bu mich jetzt an diese Stunde erinnerst, an diese Zeit, in der -". Sie bricht ab und ich selbst dem Tode nahe mar meint leise. Germaine zittert am ganzen Körper. Sie ist nahe daran, die Tür zu öffnen und vor die Eltern zu treten. Atemlos horcht sie. Aber im gleichen Augenblick fällt die Tür ins Schloß, und ein rascher Schritt tönt die Treppe hinab. Mit ein paar Säßen ist Germaine am Fenster. Beim Schein der Laterne sieht sie die Gestalt des Vaters mit großen Schritten über die Allee eilen und in der Nacht verschwinden.
Germaine steht wie gelähmt. Es ist ihr alles unfaßbar, unbegreiflich, wie ein furchtbarer Traum. Und plötzlich steigt ein Bild vor ihr auf. Sie sieht sich selbst als fleines Mädchen am Bett des Todkranken, der sich von ihr abgewendet hat, um seine Tränen zu verbergen. Und das fleine Mädchen starrt auf die Radierung über dem Bett, auf die schadhafte Mühle mit den zerbrochenen Flügeln, fie starrt zur Tür und fühlt plötzlich mit einer hellseherischen Gewißheit, daß in diesem Hause zusammenhänge bestehen, unheilvolle Fäden nom einen zum anderen, dunkle Geheimnisse, verborgene Qualen Irgendwo liegt hier eine Schuld, ein Berhängnis, das den Tod herbeizieht.
Acht Jahre liegen zwischen diesem Tag und der heutigen Nacht, aber noch hat sich nichts geändert, alles ist wie damals, und sie ist wieder das fleine Mädchen, das sich zufammenframpft, das feine Berzweiflung hinausschreien möchte und das doch nichts anderes tun fann, als alle Kraft zusammenzunehmen, um die Aufgabe zu erfüllen, die diese Verhältnisse ihr stellen. Wie weggewischt mar das alles, untergegangen, versunken in den dunklen Tiefen des Unterbewußtseins. Aber jetzt ist es da und es fordert herrisch und unerbittlich sein Recht.
Mechanisch wirft Germaine einige Kleidungsstücke über und geht zur Tür. Frau Loriot fizt am Tisch und hat den Kopf in beide Arme gelegt. Beim Eintritt der Tochter hebt fie das Geficht empor. Aber feine Träne steht in ihren Augen. Ihr Gesicht ist ruhig und unbewegt. Fragend, fast abweisend blickt sie die Tochter an. Unsicher und unschlüssig steht Germaine an der Tür. Sie fühlt sich plötzlich überflüssig hier, aber fie fann jezt unmöglich eine Ausrede gebrauchen. ,, Was ist mit Bater?" bricht sie endlich hervor. ( Fortsetzung folgt:)