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Beilage

Dienstag, 26. Januar 1932

Der Abend

Spalausgabe des Vorwärts

Luise Zietz

Geboren am 25. März 1865, gestorben am 27. Januar 1922

Luise ziek wurde als ältestes von vier Kindern in dem fleinen Ort Bargteheide in Schleswig- Holstein am 25. März 1865 geboren. Der Bater war Handweber und trotz bitterster Armut stolz auf sein selbständiges, zünftiges" Kleinmeistertum, das er nicht aufgab, trotzdem er es nur unter den größten Opfern an Kraft und Gesundheit der ganzen Familie aufrechterhalten fonnte. Er führte einen hoffnungslosen und bitter schmerzlichen Kampf gegen die moderne Textilindustrie, die in seiner nächsten Nähe in der Stadt Neumünster schon ihre großen mechanischen Webereien und Spinnereien erstehen ließ.

Die Arbeit war schwer und mühsam. Die Rohwolle mußte zerpflückt und geölt und durch den Wolf" gedreht werden, der fie weiter zerfleinerte. Dann tam sie auf die Kragmaschine, die sie zweimal passieren mußte. Diese Maschine wurde durch ein großes Tretrad getrieben, das durch zwei große Hunde in Bewegung gesetzt wurde. Versagten die Hunde, so mußten oft die Kinder in das Rad hinein. Schlimmer aber noch war das Spulen. Stunde um Stunde mußten die Kleinen bei dieser schreck­lich eintönigen, ermüdenden Arbeit auf niedrigem Schemelchen hinter dem Spulrad hocken, bis der Rücken schmerzte, der rechte Arm, der das Rad drehte, völlig lahm war und die Fingerchen der linken Hand von den scharf gesponnenen Fäden blutig gerissen waren, die auf die Spule geleitet werden mußten. Das Schlimmste jedoch war für die kleine, taum neunjährige Luise, menn

sie ,, Liefern" gehen mußte. Kam sie um vier Uhr aus der Schule, so lagen schon die großen Bündel bereit und stundenweit mußte sie in die Nachbardörfer die fertige Ware schleppen, vorn einen Bad gesponnener Wolle und auf dem Rüden einen Bad voll ge­webter Stoffe, so daß fie oft fast darunter zusammenbrach. Hatte fie aber das Geld in der Tasche, so lief sie selig heim. Winkte ihr doch außer dem Lob der Mutter noch der schönste Genuß: Sie durfte dann am Abend lesen"!

Kaum war das Kind der Schule entwachsen, so strebte es vom Hause fort und wurde zu einer Verwandten nach Ham burg gegeben. Aber das bedeutete keine Verbesserung des Loses des jungen Mädchens. So zog sie es vor, sich als freie Ar beiterin zu verdingen, um wenigstens Herrin ihrer Freizeit zu sein. Doch ihr Bildungshunger trieb sie weiter. Sie hatte nur die Volksschule absolvieren können; nun entschloß sie sich, die Fröbel­schule zu besuchen, um sich als Kindergärtnerin auszubilden. Und nicht lange dauerte es, da wurde ihr politischer Sinn gewedt. In Hamburg , der Hochburg der Sozialdemokratie, fand sie die richtigen Vorbilder und Kameraden, und dort schloß sie sich fiebenundzwanzigjährig der Partei an.

Ein Leben für die Partei!

die deutsche Partei in zwei feindliche Lager trennte. Das geschah im Jahre 1917. Spaltung!

Die Jahre von 1914 bis zum Beginn von 1917 bedeuteten eine schwere Leidenszeit für Luise Zietz . Von den inneren Kämpfen im Schoße der Partei wurde sie seelisch fast aufgerieben. Mit der­selben Leidenschaft, mit der sie sich einst in jungen Tagen der Sozialdemokratie angeschlossen, stellte fie fich in das Lager der Opposition, die sich in Gotha im April 1917 als Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands ( USPD .) unter Hugo Haafes Führung konstituierte. Mit Haase , Dittmann, Ledebour, um nur die bekanntesten Namen zu nennen, saß sie im Zentralkomitee dieser Partei. Sie schloß sich den sogenannten Zimmerwaldern an und eilte zweimal auch nach Stockholm , um im Sinne der Inter­nationale für den Frieden zu wirken. Es war jetzt wie ein ver­zehrendes Feuer über fie gekommen und ihr Arbeitseifer kannte feine Grenzen. Dabei hatte sie hart zu kämpfen, um ihr inneres Gleichgewicht wieder zu finden. Denn die unter heftigen, oft per fönlich grausam zugespizten Auseinandersetzungen erfolgte Trennung von soviel alten Kampfgefährten, hatte ihr einen Stoß versetzt, den sie nie verwunden hat und der sie weiter nach lints trieb, als es eigentlich mit ihrer Parteivergangenheit vereinbar war.

her"( 1916) beschäftigte hatte. Es fam der 9. November 1918, und Luise Zieh wurde in den Wirbel des revolutionären Geschehens gerissen, das zu einer vorübergehenden Koalition zwischen Mehra heitlern und USPD. - Leuten führte. Nicht lange, und die Gegen fäße prallten wieder aufeinander, und die feindlichen Brüder mußten sich wieder trennen. Es fam zur Gründung der Freiheit" als Organ der Unabhängigen, und es kam nach den Schredenstagen des Bürgerkrieges und der blutigen Spartakuswochen" zu den Wahlen zur Nationalversammlung. Die USPD. musterte etwa 2% Mil­lionen Stimmen und konnte 22 Vertreter in die Nationalver sammlung entsenden Daß Luise Zieh unter ihnen war, verstand sich von selbst. Den Wahlen in die Nationalversammlung folgten die mit in den Reichstag einzog, durfte erleben, daß sich die am 6. Juni 1919 die Reichstagswahlen und Luise Zieh, Stimmenzahl der USPD . auf beinahe 5 Millionen, die Zahl der Mandate auf 81 erhöht hatte.

Eines Lebens Ende.

Im November traf sie und ihre Partei ein völlig unerwarteter Schlag: Hugo Haase , der Mann, zu dem sie in tiefster Ver­ehrung aufblidte, an dem sie mit einer Kameradschaftlichkeit hing, die an schwesterliche Zärtlichkeit grenzte, der Streiter, an dessen Seite fie jahrzehntelang gekämpft, fiel einem sinnlosen, tüdischen Morde zum Opfer und fortan mußte sie ihren Lebensweg ohne den geliebten Berater und Führer gehen.

Und nun neigte sich auch der ihrige seinem Ende zu.

Auf drei Parteitagen der USPD. , Ende November 1919 in Leipzig , am 12. Oftober 1920 in Halle und anfangs Januar 1922 in Leipzig , waltete sie noch ihres Amtes als Berichterstatterin. Auch arbeitete sie mit gewohntem Eifer in der Zentralleitung der Aus ihrer Stellung als Vorstandsmitglied und Sekretärin der Partei und im Parlament, gab auch noch im Jahre 1920 eine Daneben vernachläffigte sie ihre schriftstellerische Tätigkraft schwand zusehends dahin und immer öfter mußten Freunde USPD. ermuchs ihr eine Fülle von organisatorischen Aufgaben. Broschüre Die Frauen und die Reichstagswahlen" und 1921 eine andere. betitelt ,, Die USPD . und die Beamten", heraus, aber ihre feit nicht. Sie hatte schon im Jahre 1907 eine Broschüre über ,, Landarbeiter und Sozialdemokratie" herausgegeben, die das von ihr über dieses Thema auf dem Mannheimer Parteitag gehaltene Referat in erweitertem Umfange enthielt. In rascher Folge er schienen dann ihre Aufklärungsschriften: Die Frauen und der poli­tische Kampf". Sur Frage des Säuglings- und Mutterschutzes" und eine etwas umfangreichere Publikation über Kinderarbeit, Kinder­schuß usw., die sie im Auftrage des Parteivorstandes geschrieben hatte. Ihre kleinen Werbeschriften: Bist du eine der Unserigen?", Komm zu uns", Warum sind wir arm?", die sie in den Jahren 1912, 1913 und 1914 veröffentlichte, wirkten durch ihre schlichte Sprache, der jedoch immer ein hohes Ethos innewohnte, außer ordentlich anziehend auf die Frauen und gewannen viele, noch unentschlossen Abseitsstehende für unsere Bewegung. Eine sehr wirk­same Broschüre über ,, Gewinnung und Schulung der Frau für die politische Betätigung" fann ebenso wie die vorher erwähnten Schriften auch heute noch mit Nutzen gelesen werden.

und Aerzte sie zwingen, Erholungspausen zu machen. Fraktionsfügung noch lebhaft beteiligt hatte, stürzte Luise Zietz im Am 27. Januar 1922, nachdem sie sich an der Debatte in der Sigungsfaal des Reichstags während einer Rede des Grafen polie starp bewußtlos zusammen. Mitten in der Arbeit hatte der Tod sie ereilt.

Mit dem Ende des Krieges traten neue Probleme an sie heran, mit denen sie sich vorausschauend schon in ihrer Broschüre 3ur Frage der Frauenerwerbsarbeit während des Krieges und nach­

Bald erkannte die Partei, welche Kraft ihr da heranmuchs und zögerte nicht, die junge Genoffin an verantwortlichen Stellen organi fatorisch und agitatorisch zu beschäftigen. Sie hatte sich inzwischen Frauen schreiben uns:

verheiratet und ihren Mädchennamen Körner mit dem Namen Sieg vertauscht. Mit ungeheuerem Fleiß und mit bewunders merter Energie suchte die einstige Volksschülerin die Lücken in ihrer Bildung auszufüllen. Sie machte sich vor allem an das Studium der sozialistischen Literatur. Rastlos in der Kleinarbeit, unermüdlich als Rednerin und Organisatorin, verdiente sie sich ihre Sporen in der Partei. Das drückte sich darin aus, daß sie schon im Jahre 1897 vom ersten Wahlkreis in Hamburg zu dem daselbst statt findenden Parteitag delegiert wurde.

Dort trat sie in bemerkenswerter Weise für die Beteili gung an den Preußischen Landtagswahlen ein, die Bebels damals eine sehr heftig umstrittene Frage bildete. Resolution, die sich für die Beteiligung aussprach, wurde mit 145 Stimmen gegen 64 angenommen und die Geschichte Preußens hat seither den Anhängern der Beteiligung in vollem Maße recht gegeben. Auf demselben Parteitag setzte sich Luise Zietz für den Aufbau des Systems der weiblichen Vertrauensper senen ein. Sie wies darauf hin, wie wichtig die Haltung und Tätigkeit der Frauen für den siegreichen Ausgang des eben be­endeten Hamburger Hafenarbeiterftreits gewesen sei.

Ein Jahr später sehen wir sie wieder als Delegierte auf dem Parteitag in Stuttgart , wo fie mit Sachkenntnis über die Zollfrage in Hinblick auf die Handelsverträge spricht und sich warm für den Freihandel einsetzt. Es folgt der Parteitag von Hannover 1899 mit seiner denfwürdigen De batte über den Revisionis mus. Energisch weist Luise Ziez Bernsteins Angriffe auf die Grundanschauungen der Partei zurüd. Ihre Rede legt Zeugnis dafür ab, wie tief sie in die margistischen Gedanken gänge eingedrungen ist und mit welcher Sicherheit sie ihren prinzipiellen Standpunkt zu vertreten versteht. Und auf die zweifelnde Frage Bernsteins: Können wir fiegen?" antwortet fie mit den überzeugten Worten: Darum fämpfen wir auf allen Ge­bieten, um die Arbeiterschaft in materieller und damit in geistiger, moralischer, intellektueller Hinsicht auf eine höhere Stufe zu heben. Sorgen wir, daß möglichst die Revolutionierung der Köpfe mit der Revolutionierung der Verhältnisse Schritt hält und der Sieg wird unfer sein."

So sehen wir sie nun immer in der vordersten Reihe und immer besser gewappnet, den Kampf gegen die kapitalistische Gesell­schaftsordnung führen. Auf jedem Parteitag tritt sie hervor, sei es, daß sie wie in Mainz im Jahre 1900 zur Vereinsgefeßgebung und über die Stellung der Frau in der Partei spricht, oder wie in Lübeck 1901 darlegt, wie sehr die proletarischen Frauen an der Art der Gestaltung des Zolltarifs interessiert sind, oder daß sie wie in München 1902 über Frauen-, Kinder- und Heimarbeiterinnen­schutz und verficherung beachtenswerte Borschläge macht, oder wie fie in Bremen sich glühend für die Hochhaltung der Maifeier einsetzt.

Im Jahre 1904 war sie als Vorsitzende des ersten Hamburger Wahlkreises gewählt worden, ein Posten, den sie vier Jahre lang, bis zu ihrer Uebersicdlung nach Berlin innehatte. Im Jahre 1906 begründete fie die erste Dienstbotenorganisation in Hamburg unter dem Namen Verein für Dienstmädchen, Wasch und Scheuerfrauen", deren werbender Erfolg glänzend war. Als Bemeis des Vertrauens und der Hochschäßung, die die Partei für die Arbeit von Luise Zietz empfand, wurde sie im Jahre 1908 als Beifikerin in den Parteivorstand gewählt, als das erste weibliche Mitglied dieser Institution. Später wurde fie deffen Sefretärin, bis zu dem Tag, wo die ungludselige Spaltung

dobe

Mit ihr starb ein Mensch, der immer nur das Beste gewollt, und es mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft zu verwirklichen be­strebt war, ein Herz stand still, das immer nur für die Enterbten und Erniedrigten geschlagen, ein Leben war beendet, das voll und ganz im Dienste der Arbeiterklasse gelebt worden war.

Und das Proletariat dankt es ihr über das Grab hinaus, so wie es ihr bei ihren Lebzeiten mit dem höchsten gedankt, was es zu vergeben hat: mit seinem unbegrenzten Bertrauen, mit seiner ganzen Liebe.

Wenn die Arbeiterklasse derer gedenkt, die als Pioniere den Weg zu ihrem Aufstieg bereiten halfen, dann nennt es auch ver­ehrungs- und andachtsvoll den Namen von Luise Zieß. Luise Kautsky .

Anmerkung zu Zweigs

Die Wandlung: Junge Frau von 1914"

Das Buch von Arnold Zweig , Junge Frau von 1914", wurde an dieser Stelle bereits besprochen. Die Besprechung scheint mir noch in einem Bunft, auf den gerade im Vorwärts" hingewiesen werden müßte, der Ergänzung zu bedürfen.

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Arnold Zweigs Buch ist sicher einer der besten Frauenromane der letzten Jahre. Mit erstaunlicher Einfühlung schildert der Dichter die förperliche und seelische Pein einer Abtreibung. Die große fünstlerische Bedeutung des Buches liegt aber vor allem in der überaus fein nuancierten Darstellung der Art der Beziehungen des Mädchens zu dem Mann, den sie liebt. Nur im Anfang ist ihre Liebe das große beherrschende und gleichbleibende Gefühl, das ihrem Leben Sinn gibt. Dann geht es nicht weiter mie im Märchen: ,, Und sie heirateten sich und waren glücklich bis an das Ende ihrer Tage". Aus der großen sondern es geht weiter wie im Leben. Liebe wurde eine Summe von Beziehungen, in der die ganze Skala der Gefühle, von der leidenschaftlichen Hingabe bis zum glühenden Haß, ja sogar bis zur Interesselosigkeit, immer wieder von neuem durchlebt wird.

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Nicht immer gelingt es dem Mädchen, das Fazit dieser Gefühle zu finden. Was erst so flar war, wird verworren in der Stunde, da ihr Geliebter zu ihr in die Klinik kommt, in der vor wenigen Tagen mit sich ihre Schwangerschaft unterbrochen wurde, und da er mit sich selbst beschäftigt sich dagegen sträubt, von ihr zu hören, wie es ihr ergangen ist und wie es um sie steht. Da steigt ein Haß gegen den Mann in ihr empor. Dieser Haß hat eine seiner starken Wurzeln in dem fast törperlichen Gefühl des Betrogenseins, das die Frau empfindet, in der die Qualen ihres Geschlechts nicht übertönt werden durch die Freuden der Mutterschaft, die Frau, die eine ,, perbotene Tat" begeht, während ihr Mann von alledem unbehelligt bleibt, und sogar jede Berührung mit ihrem Er­leben zu vermeiden sucht.

Ihrem Haß, der da so neu über sie hereinbricht, verleiht fie zwar zunächst feinen Ausdruck. Aber er ist da und er geht ein in ihre Gefühle für ihren Mann. Er wandelt diese Gefühle und er schafft Distanz zwischen beiden, wo früher, von ihr aus gesehen, nur Einheit war. Diese Distanz wird einmal größer und ein andermal kleiner. Manchmal wird sie fast stärker empfunden als

die Zusammengehörigkeit und in der nächsten Stunde erscheint sie als Hirngespinst aus franken Tagen. Aber in jedem Fall verlegt sie für das Mädchen den Sinn des Lebens aus dem Zusammenleben heraus in ihr eigenes Leben.

Diese Entwicklung in ihrer Mannigfaltigkeit schildert Zweig mit Meisterschaft. Er will nur die gefühlsmäßige Wandlung zeigen. Nichts, was außerhalb dieser Sphäre liegt, soll das Bild beeinflussen. Darum ist seine ,, Junge Frau von 1914" reich. Ihr Reichtum aber hebt die Veränderung ihrer Gefühle gewissermaßen aus dem hebt die Veränderung ihrer Gefühle gewissermaßen aus dem pulsierenden Leben heraus in das Bereich des Ab stratten. Ein wichtiger Teil der im allgemeinen auf die Frauen von 1914 wirkenden Umstände ist ausgeschaltet. Damit verliert die dem Buche zugrunde liegende Idee, die Gefühlswandlung der jungen Frau vom Jahre 1914 zu zeigen, teilweise ihren Sinn. Denn die fo isoliert dargestellte Wandlung der Gefühle ist nicht daratteristisch für die junge Frau von 1914. Was Arnold Zweig von der Heldin seines Buches erzählt, ist im Grunde die Geschichte jeder Ehe und in be.

schränktem Sinn sogar die Geschichte jeder intensiven Beziehung von Mensch zu Mensch. Diese Gefühle und ihre Veränderungen waren im Wesen die gleichen, auch in längst vergangenen Zeiten.

Was sich geändert hat, und was die junge Frau von 1914 von den Frauen früherer Generationen unterscheidet, das ist die Tatsache, daß fie erkennt, daß sie ausspricht, und daß sie Konsequenzen zieht aus dem was sie fühlt.

Früher wagten die Frauen auch in Stunden innerer Einkehr nicht, ihren Gefühlen auf den Grund zu schauen. Sie durften es nicht wagen, denn ihre Gefühle mußten das Fundament bilden für ihre äußere Existenz. In den zerrüttenden ersten Jahren nach dem Krieg schien vielen Frauen jedes einzelne ihrer Gefühle der Diskussion und auch der Konsequenz würdig. Heute be­mühen sich die Frauen, aus der Summe ihrer Gefühle, aus ihrem Urteil über Wert und Dauer ihrer Liebesbeziehungen und aus ihren sonstigen Interessen heraus, ihr Leben zu gestalten. Diese Lebens­gestaltung ist eine sehr reale und praktische Angelegenheit. Wäre sie nur die Konsequenz der Tatsache, daß die Frauen immer mehr ihr Leben auf sich selbst stellen müssen und wollen, so könnte Arnold 3weig in feinem Buch im Recht auf die Gestaltung dieser Seite mie er es getan hat des Problems verzichten. Er fönnte sich damit begnügen, in seiner reichen jungen Frau von 1914 den Ge­danken an einen eigenen Beruf auftauchen zu lassen.

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Der Beruf, die Arbeit, das eigene Einkommen ist aber mehr als ein Ausweg. Die Wechselwirkung zwischen Arbeit und Einkommen einerseits und der wachsenden geistigen und seelischen Unabhängigkeit der Frau andererseits ist unverkennbar. Die typische Entwicklung der jungen Frau von 1914 zu größerer innerer und äußerer Freiheit vollzog sich durch ihre Arbeit. Es war für viele Frauen ein geradezu überwältigendes Erlebnis, während des Krieges Arbeiten zu verrichten, die vordem nur ein Mann geleistet hatte, oder gar die Arbeit ihres eigenen Ehemannes zu übernehmen, wie es in Orten oder Stadtteilen oft geschehen ist, die industriell von einem Unternehmen beherrscht wurden, oder wie es typisch war für die Frau des Handwerkers und des Landwirts.

Wie schwand der Nimbus des allein schwer arbeitenden und

Geld verdienenden Mannes bei seiner Frau dahin. Wie anders zurückkehrte und in vielen Fällen auch noch monatelang als früher stand die Frau ihrem Mann gegenüber, als er 1918 arbeitslos war.

Auf dieser Ebene vollzog sich die typische Wandlung der Frau von 1914. Was Arnold Zweig gibt, ist die rein gefühlsmäßige Abstraktion dieser Erlebnisse. Darum ist die Darlegung der Wand­lung in den Gefühlen der jungen Frau von 1914 nicht weniger richtig, nur ihr Zusammenhang mit dem wahren Leben ist lockerer, ihre Begründung ist schwächlicher.

Daß dieses Buch überhaupt geschrieben wurde, dokumentiert die peränderte Stellung der Frau. Daß es von einem Mann ge­schrieben werden konnte, mag als ein Symbol dafür gelten, daß auch den Männern bewußt wird, wie viel reicher und bewegter ihr Anna Geyer . Leben wird, wenn an ihrer Seite die stärker auf sich selbst gestellte Frau lebt.