Morgenausgabe
Nr. 220
A 111
49. Jahrgang
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Vorwärts
Beeliner Boltsblatt
Donnerstag
12. Mai 1932
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Gregor Straßer hatte am Montag den Reichstag mit einem Versuch überrascht, sich mit dem Programm der Sozialdemokratie geistig auseinanderzusehen und ihm das eigene Programm des Nationalsozialismus gegenüberzustellen. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hatte Herrn Straßer gestern die große Ehre erwiesen, ihren besten Theoretiker gegen ihn vorzuschicken. Diese Ehre war vielleicht nicht ganz verdient, und doch hat die Fraktion gut damit getan, und es bleibt das Verdienst des Herrn Straßer, daß er zu der gestrigen Rede Hilferdings den Anlaß geboten hat.
Man war am Montag allgemein erstaunt, einen Nationalsozialisten zu hören, der nicht schimpfte, log und verleumdete, sondern argumentierte. Leider muß man fürchten, daß dieser Vorgang ohne Folge bleiben wird. Die Nationalfozialisten sind im Schimpfen, Lügen und Verleumden ganz unbestrittene Meister, und diesen Künsten verdanten sie auch die sehr vergänglichen Erfolge, die sie unter der furchtbaren Wirkung der Wirtschaftskrise bei verzweifelten und politisch unaufgeflärten Massen errungen haben. Ihr Bersuch aber, sich mit der Sozialdemokratie geistig zu messen, hat ihnen eine zerschmetternde Niederlage eingebracht. Es ist zu vermuten, daß sie sich fluchtartig aus diesem ihnen un günstigen Terrain auf jenes andere zurückziehen werden, auf dem sie zu Hause zu kämpfen gewohnt sind.
Hilferding sprach als ein Polemiker von hohem wissen schaftlichen Rang, der an den klassischen Leistungen von Marg, Lassalle und Bebel geschult ist. Wie sie ihre Proudhon, Schulze- Delitzsch und Stöcker behandelt hatten, so nahm Hilferding seinen Straßer in Behandlung, und die Art, in der er es tat, war der großen Meister würdig.
3weifellos war Straßers Rede ein besonderes Stück demagogischer Rethorit. Bei Hilferding wird man vergebens auch nur eine Spur von Demagogie suchen. Er fämpfte mit ungleich stärkeren Waffen als sein Gegner, nämlich mit den Baffen eines überlegenen, wissenschaftlich geschulten Geistes, er setzte der nationalsozialistischen Schaumschlägerei die unerbittlich wahrheitsmutige Aufrichtigkeit entgegen, die nichts beschönigt und nichts verschweigt, sondern die Dinge zeigt, wie sie sind. Der Eindruck auf die Hörer war außerordentlich. Selbst den Nationalsozialisten schien zu dämmern, daß sie die erste Schlacht auf dem Boden geistiger Auseinandersetzung mit dem Marrismus vollständig verloren hatten. Der Eindruck auf die Leser wird nicht weniger start sein. Er wird ihnen zeigen, in welches Lager der Mann und die Frau gehören, denen der Sozialismus nicht bloß ein flingendes Wort, sondern Herzens- und Ueberzeugungsfache und heiliger Tatmille ist.
Die Rede wird alsbald in Massenauflage erscheinen. Für ihre weiteste Verbreitung zu sorgen, wird in nächster Zeit zum Besten gehören, was ein Sozialdemokrat für seine Partei tun fann.
Abg. Dr. Hilferding( Soz.):
Die Entsendung des Abg. Dr. Kleiner als Redner ist ein Ausdruck der Nichtachtung der Frattion Hugenberg gegenüber der deutfchen Boltsvertretung. Es ist mir unmöglich, gegen seine Aus führungen zu polemisieren, wir müssen ihre Korrektur der nächsten Wahl überlassen. Zwischen dem Vorwurf des Landesverrats gegen unsere Partei und ihr steht die hohe Mauer sozialdemokratischer Soldaten und Toter und Schwerverwundeter im Kriege. Der erste Stein dieser Mauer trägt den Namen unseres Reichstagsabgeordneten Ludwig Franf. Es ist moralische Verwilderung, wenn immer wieder dieser Borwurf gegen unsere Partei erhoben wird, und ich lehne es ab, mich mit Leuten zu beschäftigen, die das tun.( Beifall.) Auch wir fordern Gleichberechtigung Deutschlands auf dem Gebiete der Abrüstung, und mit uns fordert das die ganze sozialistische Internationale, und mit besonderem Mut und Nachdruck unsere französischen Freunde.( Lebh. Beifall der Soz.) Nicht Rüstungsfreiheit und neue Aufrüstung, die nur Vorwand neuer Kriege wäre, sondern Rüstungsverminderung und Abrüstung muß das Ziel der deutschen Politik sein.
Auch wir möchten hoffen, daß es dem Reichskanzler gelingt, in den internationalen Verhandlungen flarzumachen, daß ein Schlußwort zu sprechen ist. Es ist klar, daß eine Wiederaufnahme der Kriegsfchuldenzahlungen die Nationen ungleich mehr fosten würde, als sie ihnen einbrächte.
Die deutsche Krise kostet uns in jedem Jahr 20 bis 25 Milliarden Mark an Verminderung des Arbeitseinkommens. Die deutsche Arbeitslosigkeit ist etwa ein Viertel bis ein Fünftel der Arbeitslosigkeit der Welt, d. h. da wir in einem fortgeschrittenen Industriestaat leben, hat die Welt infolge der Krise des Kapitalismus 110 bis 130 Milliarden jährlich Mindereinnahmen. Dagegen würden die 2 Milliarden Reparationen verschwinden, wenn nicht ihre Aufrechterhaltung immer neues Mißtrauen, Unsicherheit und dadurch fortdauernde Kriegsgefahr bedeuten würden.( Lebh. Zustimmung links.)
Wir haben immer wieder gesagt, daß diese Reparationszahlungen fich totlaufen werden. Aber wir haben gesagt, daß ihre willkür liche Einstellung uns ungemein mehr fosten würde,
als eine Politit, die darauf berechnet war, den Wahnsinn dieser Zahlungen der Welt zum Bewußtsein zu bringen. Gerade anges sichts der bevorstehenden internationalen Entscheidung stimmen wir dem Reichskanzler durchaus zu, menn er die Aufrechterhaltung der Währung als eine der wichtigsten Aufgaben bezeichnet. Jedes Abgehen davon würde die internationalen Verhandlungen aufs äußerste erschweren und uns den Vorwurf zuziehen, daß wir absichtlich Dinge machen, um uns der Zahlungen zu entledigen.
Weil mir in Lausanne zur endgültigen Lösung tommen wollen, müssen mir notwendig die privaten Schuldverpflich tungen Deutschlands weiter zahlen. Bir dürfen nichts tun, um die Berantwortung der anderen Mächte für einen etwaigen Mißerfolg der Lausanner Konferenz zu vermindern. Wir haben uns deshalb auch mit den Maßnahmen der Devisenpolitik abgefunden, die jedoch nicht zum Nachteil der deutschen Handelspolitik mißbraucht werden dürfen.
Eine Stunde Marrismus.
Mit dem Sozialismus der NSDAP . beschäftige ich mich unter der Borauslegung des A1sob: als wenn die Ansichten, die Herr Straßer hier entwickelt hat, von allen wichtigen Gruppen seiner Partei geteilt und tatsächlich die Richtlinien ihrer fünftigen Bolitif fein würden. Herr Straßer hat mit Recht gesagt, daß heute das deutsche Volk zu 96 Proz. mit antikapitalistischer Stimmung erfüllt
ist. Ich muß bedauern, daß die Nationalsozialisten uns nicht unterstützt haben dabei, aus dieser Stimmung die not wendigen politischen und sozialpolitischen Kon= fequenzen zu ziehen. Wir haben Sie sehr vermißt, als unser Antrag auf der Tagesordnung stand, die Verstaatlichung der auch nach Ihrem Programm zu vergesellschaftenden Großbetriebe der Eisenindustrie zu verlangen.( Buruf rechts: Stimmen Sie für die Bantenverstaatlichung?) Die ist ja zum großen Teil schen durchgeführt. Bei der Bantensanierung handelte es sich um die Aufrechterhaltung ihrer Funktion als Verwalter des gesamten kleinen Geldkapitals, die nicht mit einem Mal stillgelegt werden kann, ohne die Volkswirtschaft auf das schwerste zu schädigen. Diese Funktion mußte auch aufrechterhalten werden für Lohnzahlungen, für die Einfuhr notwendiger Stoffe usw. Wie lange aber die Banken zu er halten sind, ist eine rein politische Frage. Da wäre es vielleicht möglich,
in viel höherem Maße, als geschehen ist, die Forderung Ihres Programms nach Bergesellschaftung der Banken sofort durchzuführen aber da haben Sie ja gefehlt!( Heiterkeit.)
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Den Sozialismus, den Sie auf dem Papier haben, durchzuführen, haben Sie uns allein überlassen.( 3unehmender Lärm und Schmährufe der Njoz.) Aber Sie können sich ja noch bessern, ebenso wie Sie ja vorgestern Ihr Benehmen gebessert hatten. Sie werden ja Roalitionsverhandlungen mit den bürgerlichen Parteien zu führen und dabei Gelegenheit haben, Ihren Sozialismus durch= zuführen, so in Preußen, wo ja sehr große Betätigungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand bestehen, die noch sehr erweitert werden können. Auch im Reich werden Sie ja Verhandlungen führen können. Ich hoffe, Sie werden dabei anders vorgehen, als bei den Verhandlungen mit den befreundeten Deutschnationalen vor und nach Harzburg , von denen Hugenberg gesagt hat, folche Verhandlungen habe er noch nie erlebt, obwohl er schon mit Tscherkessen und Türken verhandelt habe.( Heiterfeit.) Sie verlangten damals den Reichstanzler, den preußischen Ministerpräsidenten, den preußischen Innenminister und den Reichswehrminister. Auf Bescheidenheit legen Sie ja teinen allzu großen Wert.
Aber weder den Wirtschafts - noch den Arbeitsminister haben Sie gefordert, die entscheidend sind für Sozialismus und Sozialpolitit. Ich hoffe, daß Sie jetzt das damals Berfäumte nachholen werden. Dann dürfte fich erweisen, was von Ihrem Sozialismus zu halten ist.( Sehr gut! links.)
Aus der Rede Straßers ist das nicht so ganz flar zu erkennen gewesen. Denn da war Richtiges und Falsches zum Teil so vermengt, daß man nicht weiß, ob Sie den Hauptwert auf das Richtige legen. Straßer hat an die Spize gestellt: Es gibt auf der Welt zwei ewige Werte, von denen alles ausgeht, was wir uns schaffen können: Bodenschäße und Arbeitstraft. Alles Gerede, wie„ Kapital schafft Arbeit", ist falsch, erst Arbeit schafft
Kapital.
Dieser Satz brachte mir einen anderen in Erinnerung: " Der Mensch tann in seiner Produffion nur verfahren wie die Natur selbst, d. h. nur die Formen der Stoffe ändern. In dieser Arbeit der Formung wird er beständig unterstützt von Naturkräften. Die Arbeit ist also der Bater allen stofflichen Reichtums und die Erde seine Mutter."
Die beiden Sätze stimmen also vollkommen überein; der zweite ift formuliert von Sarl Marg!( Große Heiterfeit.) Ich weiß nicht, woher Abg. Straßer diesen Saß hat; schwer zu finden ist er nicht, denn der Sah steht schon auf Seite 11 des„ Kapitals". Herr
| Straßer gleicht so der Figur des Bourgeois- Gentilhomme bei Molière , der sich außerordentlich wundert, als er einmal gewahr wird, daß
alles, was er bisher gesprochen hat, von einem anderen ist. Ich verstehe, daß Sie sich jetzt wundern, daß das, was Straßer gesprochen hat, Margismus ist; wenn er auch den Marxismus beschimpt hat. Der Bourgeois erschlägt eben immer den Gentil homme, den Gentleman.( Sehr gut! links.)
Weiter sagte Herr Straßer:
Feststellen und festhalten müssen wir das liegt im tiefsten Innern und in der Gewißheit des denkenden Volkes begründet, daß der Herrgott an sich auf der Welt für alle Menschen genug zu essen wachsen läßt. Wenn der Verteilungs apparat des wirtschaftlichen Systems von heute es nicht versteht, den Ertragsreichtum der Natur richtig zu verteilen, dann ist dieses System falsch und muß geändert werden, um des Volfes willen. Das Bolt protestiert gegen eine Wirtschaftsordnung, die nur in Geld, Profit, Dividende denkt, und die vergessen hat, in Arbeit und Leistung zu denken."
Das erinnert wieder start an Heinrich Heine :
,, Es gibt hienieden Brot genug
für alle Menschenfinder."
Ich halte es für erwiesen, daß Herr Straßer nicht nur Mary, sondern auch Heine zitiert. Der von ihm ausgesprochene Gedanke ist von Karl Marg. Es gehört zu Mary' großen Verdiensten, nachgewiesen zu haben, daß
die kapitalistische Gesellschaft nicht der Bedarfsdedung, sondern der Profilerzeugung dient, und daß in diesem Gesellschaftssystem die freie Konkurrenz notwendigerweise eine Umwälzung der Verhältnisse schaffen und die Gesellschaft geändert werden muß, damit an die Stelle der Anarchie die Planmäßigkeit fritt, eine Gefellschaft, deren Ziel die Bedarfsdeckung ist und nicht der Profit.
das System des ökonomischen Liberalismus gehe zu Wenn Straßer sagte, wir ständen an einer Weltwende, Ende, so bin ich nur mit der Zeitdatierung nicht ganz einverstanden, denn gegen das System des ökonomischen Liberalismus, dem es genügt, daß die Menschen frei miteinander fonkurrieren können, um das Höchste leisten zu können, hat sich schon der Sozialismus von Karl Marr gemerdet, und ihm längst, vor drei Generationen, das sozialistische System entgegengeseßt.
Dabei soll Herr Straßer vorsichtig sein und nicht falsch zitieren. So hat er sich im Kampf gegen den ökonomischen Liberalismus auf einen Professor berufen, der selbst ein letztes Ueberbleibsel aus jener Zeit war, da der ökonomische Liberalismus noch existiert hat.( Heiterkeit.) Wenn Sie aber so gegen den Liberalismus losziehen, so handelt es sich bei Ihnen gewiß mehr um das, was der politische Liberalismus in der Glanzzeit des Bürgertums geleistet hat: um die persönliche Freiheit, um die Selbstbestimmung des Menschen, um die Ge wie die großen französischen Aufklärer, wie die großen deutschen wissensfreiheit. An diesen Errungenschaften, die wir lieben, Philosophen Kant , Fichte und Hegel, lassen wir nicht rütteln. ( Stürmischer Beifall der Soz.)
Nicht Arbeit schafft Kapital, aber Ausbeutung der Arbeit tut es. Kapital sind nicht die Maschinen selbst, aber das gesellschaftliche Verhältnis zu ihnen, das private Monopol an den Produktionsmitteln. Und sozialistisch ist die Gesellschaft, die die Produktionsmittel besitzt und zum Wohle der Gesamtheit ver. mendet.