Nr. 275 49. Jahrgang
2. Beilage des Vorwärts
Kritik der Sozialversicherung.
Dienstag, 14. Juni 1932
mit dieser ihrer ersten Publikation einen ausgezeichneten Start ge funden. Die Wissenschaft und vor allem die ernste politische Publi zistit können an diesem Werk sozialistischer Wissenschaftler, das die Sozialversicherung als unentbehrlich für das kapitalistische System und zugleich auch als zwangsläufigen Gehilfen zu dessen lleberwindung
Ihre wirtschaftlichen Funktionen/ Sozialistische Wissenschaft meldet sich zum Wort. erweist, nicht vorbei. Der Schlagwortverne belung durch
-
In diesen Tagen ist die erste Schrift der Sozialistischen Ver| Sozialversicherung besonders der Arbeitslosenversicherung auf einigung für Wirtschafts- und Gesellschaftsforschung Die wirt das Angebot von Arbeitskräften und die Bezahlung der Arbeits fchaftlichen Funktionen der Sozialversicherung" fraft. Indem Broeder nachweist, daß die Leistungen der Kranken-, ( Berlagsgesellschaft des ADGB. , 136 Seiten) als Rollettivarbeit von Unfall und Invaliditätsversicherung vom Arbeitsmarkt Kranke oder acht sozialistischen Wissenschaftlern erschienen. Sie im Zentralorgan erwerbsbeschränkte Personen fernhalten( Berrirgerung der Arbeiter der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gebührend anzukündi- reserve) und die Arbeitslosenversicherung die Einhaltung der durch gen, ist eine schöne, aber nicht leichte Aufgabe.. Tarifverträge festgelegten Arbeitsbedingungen fördert, wird die Funktion der Sozialversicherung als
Es ist zwar sicheres Gedankengut der modernen Geistesmelt meit über die eigentliche Marr'sche hinaus, daß Karl Marg' ,, öfonomische Kritik des Rapitals" die Umwandlung der individualistischen in die sozialistische Wirtschaftsverfassung als eine dem kapitalistischen System selbst innewohnende Notwendigkeit nachweist. Aber im sozialistischen Gedankengut klafft
jeit Karl Marr eine Lüde:
die Politik der Arbeiterklasse wurde anders als das Kommunistische Manifest es voraussah und das geschah, weil die wirtschaftliche und gesellschaftliche Emanzipation der Arbeiterklasse andere Wege ging, als es Margens revolutionäre politische Philosophie vorzeichnete. Ebenso alt ist das bedrückende Gefühl, daß der Arbeiterklasse zu diesen ,, anderen" Wegen bis heute die Theorie fehlt. Wir haben die ökonomische Kritik des Kapitals, die den Sozialismus als historische Notwendigkeit stabilisiert hat, aber wir haben, trotz der massenhaften Darstellungen zu diesen Erscheinungen, noch feine missenschaftliche, die Politik der Arbeiterklasse zur Einheitlichkeit zwingende Nachweisung darüber, daß die Realpolitik beispiels meise der Gewerkschaften, Konsumvereine und der Sozialdemokratischen Bartei das geeignete Instrument zur Herbeiführung des Sozialis mus ift. Was fehlt, ist die durch ökonomische Kritik für die ganze Arbeiterflasse unerschütterlich gemachte Erkenntnis, daß die heute von der Arbeiterklasse angewandten realpolitischen Methoden zur Erreichung des historisch revolutionären fozialistischen Zieles die einzig richtigen sind, was zum Ergebnis haben müßte, daß politische Spaltungen der Arbeiterklasse, weil vor dem Verstande mit feinem Mittel zu rechtfertigen, auf die Dauer auch nicht möglich wären.
Dieser Nachweis wäre auch für das zur realistischen Gemerf schafts- und Parteipolitik gehörende Gebiet der Sozialversicherung und Sozialpolitik zu führen, womit für uns der Standort der Kritik für die hier zu besprechende Kollektivarbeit bestimmt ist.
„ Für uns ist der Mensch.. Mittelpunkt und Ziel alles Wirtschaftens...
Selbst wenn unter gewissen Umständen der Warenertrag der Wirtschaft durch eine Einrichtung der Sozialversicherung eine Einbuße erlitte, so würden wir eine Ablehnung dieser Einrichtung( natürlich immer abgesehen von organisatorischen Mängeln) nur dann für gerechtfertigt halten, wenn die Minderung des volfswirtschaftlichen Ertrages so groß wäre, daß sie die durch die Sozialversicherung beabsichtigte Existenzsicherung des Menschen wieder in Frage stellte. An diesem Punkte scheiden sich die Geister..." Mit diesen Worten aus Dr. Hilde Oppenheimers Einführung scheint das Problem Sozialversicherung als realistisches Instrument zum sozialistischen Ziel richtig gestellt und zugleich das Kriterium richtig angegeben: die Grenzen für Aufwand und Ziele der Sozialversicherung als Teil alles Wirtschaftens sind nicht in der Gefährdung des Wirtschaftszieles nach tapitalistischen, sondern nach sozialistischen Gesichtspunkten zu erblicken.
-
-
-
Dr. Ludwig Preller , dem Verfasser des ersten Kapitels „ Sozialversicherung und Arbeitsfähigteit" gelingt in seiner hervorragenden, in den Formulierungen besonders glüd: lichen und mehr als ein Drittel des Kollektivmerfes umfassenden Arbeit der Nachweis, daß die historische Entwicklung und die reale Wirksamkeit der Sozialversicherung die sozialistische 3ielfetzung rechtfertigen. Durch den
Funktionswandel der Sozialversicherung von der schädenheilenden zur schädenverhütenden und schließlich die fünftige Arbeitskraft pflegenden Tätigkeit
bis hin zur Säuglingsfürsorge, zur Kapitalverwendung für den Wohnungsbau und zur Förderung der Wander- und Sportbeme= gung ist hier aus der Erfahrung der Bemeis erbracht, daß eine volkswirtschaftliche Bewirtschaftung des Kapitals nur möglich ist, wenn diese zugleich die rationellste Menschenbewirt schaftung in fich schließt. Dazu gibt Preller ein fast übermältigen des Beweismaterial.
Im zweiten Kapitel„ Sozialversicherung und Arbeitsmartt" be handeln Dr. B.roeder und Dr. Halafi die Wirkungen der
follettivistisches Instrument zum Schutz der Arbeitskraft gegenüber einer rein privatkapitalistischen Tendenz des Wirtschaf tens deutlich herausgestellt. Halaji betont mit Recht, daß die lohn schüßende und äußerlich lohnerhöhende Wirkung der Sozialversiche= rung( Arbeitgeber und Staatsbeiträge) in einem gewissen Grade auch ohne Sozialversicherung vorhanden wäre, da dann die entsprechenden Leistungen durch private oder staatliche Fürsorge bereit gestellt werden müßten. Nach Halasi fann eine lohnüber höhende Wirkung der Sozial, lasten" in dem Sinne, daß dadurch zusätzliche Arbeitslosigkeit erzeugt werde, nicht bewiesen werde. Für Hilde Oppenheimers These, die Aufwandsgrenze für die Sozialversicherung sei erst gegeben, wenn die von der Sozialversicherung erstrebte Eristenzsicherung des Arbeiters selbst durch die Aufwandshöhe gefährdet werde, sind Halafis Untersuchungen eine mertvolle praktische Demonstration.
Das von Dr. Marschaf und Friz Naphtali bearbeitete dritte Kapitel Sozialversicherung und Kapitel Sozialversicherung und Berbrauchsgestaltung" beweist
die frijendämpfende und die Wirtschaftlichkeit erhöhende Funktion der Sozialversicherung.
Someit eine sozialistische Wirtschaft die Krisen beseitigen und auch Bedarfsdeckung und Verbrauch planmäßig gestalten mill, wird die im technischen Sinne sozialisierende Tendenz der Sozialversicherung mit gutem Material als eine bisher noch menig beachtete Erkennt nis gesichert. Marschaf weist nach, daß die häufung der Sozialleistungen in Krisenperioden( das gilt besonders für die Arbeitslosenversicherung) die Depression auf dem inneren Markt der Massenverbrauchsartikel mildert und die in der Krise durch Auftragsmangel entstehenden Leerlaufverluste vermindert, wodurch den Unternehmern bei der Arbeitslosenversicherung von 1925 bis 1930 nicht weniger als 40 Proz. ihrer Arbeitgeberbei träge mieder eingespart wurden. Naphtali zeigt durch eine Zusammen stellung sämtlicher Sachleistungen aller Versicherungszweige, daß ein Betrag von rund ein Fünftel des für freie Käufe auf dem Markt bereiten Arbeitnehmereinkommens durch diese Sachleistunnen eine 3 mang s läufige Verbrauchsrichtung erhält, die durch ihre Planmäßigkeit und Massenhaftigkeit auch eine wirtschaftlichere Bedarfsbefriedigung ermöglicht.
,, Größe der( versicherungsmäßigen) Rapitalbildung" und die Bene der Kavitalverwendung" in der Sozialversicherung behandelt im fünften Kapitel Dr. Croner. Für 1925 bis 1930 wird
die kapitalbildung der Sozialversicherung ( netto 3,5 bis 4 Milliarden) auf 10 Praz. der Kapitalbildung in Deutschland beziffert; davon waren 3,8 Milliarden in Wertpapieren, Darlehen, Hypotheken und eigenem Grundbesig angelegt. Aus diesen hohen Beträgen schließt Croner auf Einflußmöglichkeiten der Sozialversicherung auf die Kapitallenfung und sagt mit Recht, daß die Rücklagen der Sozialversicherung erst dann richtig" angelegt sind, wenn der Verwendungszweck dem 3med der Sozialversicherung selbst dient, d. h. den Menschen und der menschlichen Arbeitskraft als Wirtschaftszweck zu dienen geeignet ist.
Im fünften Kapitel Sozialversicherung und Broduktionsfosten" macht Dr. Ernst Nölting die michtige Feststellung, daß 3011 und fartellgeschütte Industrien auf dem Ummeg der Preisbildung für nicht geschützte Berbraucherindustrien auch Soziallasten" überzuwälzen in der Lage sein können. Nölting setzt sich auch mit Lietz, Horneffer und Harz auseinander, die die staatliche Zwangsversicherung in mehr oder weniger verschiede= nen Formen durch ein 3 mangssparsystem( Individualver sicherung) ersetzen wollen.
" 1
Hilde Oppenheimer schließt das Werk mit einer den Willen zur wissenschaftlichen Graftheit fast zu sehr betonenden..3u fammenfassung" der Ergebnisse.
Unsere furze Inhaltsangabe zeigt, daß hier ein trotz seines geringen Umfanges bedeutsames Werf vorliegt. Die Sozia liftische Vereinigung für Wirtschafts- und Gesellschaftsforschung hat
die Gegner der Sozialpolitik tann die Arbeiterklasse durch dieses Wert ein auf den neuesten Stand gebrachtes wissenschaftliches Er. kenntnisgut entgegenstellen.
-
-
Freilich wird dem Leser das Durcharbeiten trog der Zahlens nicht immer leicht fallen. Das liegt beispiele und vielen Daten nicht nur daran, daß die Paragraphenmälder der So zialversicherung und Sozialpolitik ein schlechtes Gelände für geistige Spaziergänge find, und damit fommen wir zu unserer Ausgangsbetrachtung zurück.
Das Werk liest sich auch schmer, meil jeder der Verfasser mit der Schwierigkeit ringt, daß ihm die Bedeutung der Sozialversiche rung als realpolitischer Faktor für eine sozialistische Wirtschaftspolitik gefühlsmäßig absolut flar ist, daß er aber wegen
des Mangels einer„ öfonomischen Kritik der sozialistischen Realpolitik"
sich an die Methoden der Bearbeitung des vorliegenden Materials erst herantasten muß, statt von ihnen ausgehen zu können. Wir stehen nicht an, das als einen Mangel des Buches zu bezeichnen. Indem mir das aber fun, zeigen mir nur von neuem die Lücke im sozia listischen Erkenntnisgut auf, von der mir eingangs sprachen, an der die Verfasser des Werkes aber unschuldig sind. Wir hoffen, daß die Sozialistische Vereinigung für Wirtschafts- und Gesellschaftsforschung diese Lücke schließen wird. mürde damit den entscheidenden Schritt zur Berwirklichung des Sozialismus tun, jsomeit nur Wissenschaft und Forschung diese EntG. Klingelhöfer scheidung herbeiführen können.
Sie
die
Unser 2 msterdamer Mitarbeiter meldet über Folgen des Butterfrieges: Während nady der deutsen Einfuhrbeschränkung für niederländische Butter der Preis für beste Jniandsbutter zeitweilig auf 45 und 50 Cent( 70 und 80 Biennig) das Pfund heruntergegangen war, machen sich die Folgen des margarine vermischungsgejeges, das für alle Margarine einen Zusag von mindestens 25 Proz. Naturbutter vorschreibt, bereits bemerkbar. Die Margarinefabrikanten treten als Käufer von Naturbutter in steigendem Maße auf, die Nachfrage nimmt zu, und die Preise gehen allmählich in die Höhe. Augenblicklich bemegt sich der Preis für beste niederländische Inlandsbutter zwischen 60 und 65 Cent( 1 M. bis 1,10 M.) das Pfund, und ein weiteres Anziehen ist schon in den nächsten Tagen zu erwarten. Gleichzeitig mird auch der Margarinepreis langsam gesteigert. Damit hat die Regierung Runs die Lasten der Agrarfrije glücklich auf die Schultern der ärmsten Verbraucher abgewälzt. Bei den Kammermahlen des nächsten Jahres wird die Sozialdemokratie, die in beiden Kame mern geschlossen gegen das Gesez stimmte, darauf zurückkommen." Es sei darauf hingewiesen, daß die Rechtsparteien in Deutsch land sich mit ähnlichen Projeften tragen( Margarinesteuer, Beimischungszwang usw.).
Die Katastrophe in der Bauwirtschaft.
Der Monat April brachte gegenüber März in der Bauwirtschaft zwar eine Besserung, aber die Lage bleibt katastrophal. In den Groß- und Mittelstädten wurden mit 3234 Wohnungen fünf Prozent mehr fertiggestellt als im März, aber um 66 Pro 3. weniger als im April vorigen Jahres. In den ersten vier Monaten 1932 blieb mit 14 100 Wohnungen der Zugang um 60 Pro3. hinter dem vorjährigen zurück. Dabei waren im April 35 Proz. aller neuen Wohnungen durch Umbau alter Wohnungen entstanden. Die Zahl der gonnenen Wohnungsbauten ist von 1228 im März auf 2994 im April( gegenüber dem Borjahr ein Minus von 30 Proz.), die Zahl der zum Bau genehmigten Wohnungen von 1769 auf 3468 gestiegen ( gegenüber dem Vorjahr 27 Proz. meniger).
be
Dividende nach der Sanierung. Daß zahlreiche Betriebe rentabel arbeiten fönnen, menn nicht unangemessen hohe Kapitalansprüche Künstlich aufrechterhalten werden, dafür liefert der Abschluß der udwigshafener Walzmühle den Beweis. Das Unternehmen mußte zum Ausgleich des Verlustes vom Jahre 1930 saniert merden( Kapitalzusammenlegung 5 zu 3), und schon für das Jahr 1931 fann eine Dividende von 6 Proz. auf das Kapital von 2,2 Millionen Mart verteilt werden. Im Geschäftsbericht wird an Schieles Getreidepolitif, befonders am Bermahlungszwang für inländisches Getreide, scharfe Kritik geübt.
DIE NEUE
ERUSA
43
UND
58
IN ALLEN TABAKWARENGESCHÄFTEN ERHÄLTLICH
Wer Handarbeitszigaretten raucht, hilft Arbeitslosigkeit vermindern