� Morgenausgabe Rr. 323
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Vevttnev Vottsblatt
Dienstag 12. 3uli 1932 Groß-Äerlin 10 Pf. Auswärts 15 Pf.
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Bilanz eines Sonntags. 1? Tote, 10 tödlich Verwundete.— 181 Schwerverletzte.
Erst am Montagabend ließ sich das Ergebnis des letzten blutigen Wahlsonntags in seinem ganzen Umfange übersehen. Dieses Ergebnis ist erschreckend. Wir registrieren: Ohlau........ 4 Tote. 34 verletzte Eckernförde ...... 2 Tote, t tödlich verletzter Eanth löchlef.)..... 18 verletzte Kassel ........ 1 Toter. 12 verletzte Gnadenfrei(Schtes.)... 1 Toter Reichenbach(Schief.)... 14 Verletzte Dessau ........ 1 Toter. 7 verletzte Trier ........ 1 Toter. 6 verletzte Duisburg-Hamborn.... 2 Tote. 7 Verletzte Darmstadt ....... 1 Toter Plauen ........ t Toter Bremen....... 1 Toter Köln ......... 1 Toter Elausdorf....... 1 Toter Die Blutbilanz dieses Sonntages, die wir bei Schwer- und Leichtverwundeten nicht vollzählig wiedergeben konnten, umfaßt 17 Tote und 191 Verwundete. * Die Regierung Papen-Schleicher-Tayl hat die SA. wieder erlaubt, die SA. -Kasernen wieder geöffnet, den Privatsoldaten Hitlers ihre Uniformen zurückgegeben. Nicht genug damit, hat sie zugleich auch in der heißesten Jahreszeit, in der ohnehin, wie jeder Kriminalstatistiker zeigt, die Neigung zu Gewalttätigkeiten steigt, einen Wahlkampf ohne erkenn- bares politisches Ziel eröffnet. Sie hat sodann auch durch ihre Notverordnung vom 14. Juni die Lebenshaltung von Mit- lionen unter das Existenzminimum gedrückt und damit wei- teren Erregungsstoff geschaffen. Von der SA. allein hatte die Regierung Brüning in der Begründung ihres Verbots
gesagt, daß ihr Bestehen zu bürgerkriegsähnlichcn Zuständen führen müsse. Als ob dieses Pulverfaß allein noch nicht genügte, hat man noch einige andere daneben gestellt. Kann man sich wundern, wenn es nun überall losgeht? Vor zwei Wochen fragten die Vertreter der sozialdemo- kratischen Reichstagsfraktion den Reichsinnenminister von G o y l, ob er nicht nun endlich dem R e i ch s p r ä s i- denten empfehlen wolle, gegen dos Treiben der SA., wie angekündigt, mit allen verfassungsmäßigen Mitteln vor- zugehen. Das war zwei Tage nach dein Ueberfall auf den „Vorwärts". Herr von Eayl antwortete damals:„Noch nicht!" Die Sozialdemokraten haben damals sehr deutlich ge- sprachen. Aber die 17 Toten vom letzten Sonntag reden noch deutlicher und sie fragen noch eindringlicher:„Herr von Gayl — nochimmernicht?" Am 31. Juli werden wir die Reichsregierung für die Zustände, die sie verschuldet hat. zur Verantwortung ziehen. Das wind um so kräftiger geschehen können, je kaltblütiger und besonnener unsere Parteigenossen im Lande zu Werke gehen. Selbstverständlich ist es ihr Recht und ihre Pflicht, sich gegen Angriffe der Nazis kräftig zur Wehrzusetzen. Sonst aber gilt es, wie bisher auch weiter k a l t e-s B l u t zu bewahren! Die Stärke der Sozialdemokratie beruht auf der Disziplin ihrer Anhänger. Diese Disziplin hat sich bisher in allen Kämpfen glänzend bewährt, und sie wird sich weiter be- währen. Unsere Genossen werden, wo es notwendig ist, kräftig ihr Recht wahren, sie werden aber weder provo- zieren noch sich provozieren lassen! Nicht in sinnlosen und opferreichen Schlügereien fällt die Entscheidung, sie fällt am 31. Juli. Wer den Feind besiegen will, sorge für einen sozialdemokratischen Wahlsieg!
Warum SPO.? Eine Antwort an viele Krager. Von Hellmut von Gerlach . Ich bin nicht Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Trotzdem stimme ich am 31. Juli für Liste 1 und hoffe, daß viele meiner Gesinnungsgenossen ebenso handeln werden. Kein hehl mache ich daraus, daß ich, wenn ich Franzose wäre, der Radikalsozialistischen Partei angehören würde. Allerdings stünde ich auf ihrem linkesten Flügel, so etwa neben dem Abgeordneten Pierre Cot . In Deutschland gibt es keine bürgerliche Partei— wenigstens keine von parlamentarischem Gewicht oder parla- mentarischen Aussichten—, die mit der Partei herriots ver- glichen werden könnte. Als gleich nach der Revolution die Deutsch -Demo- kratische Partei gegründet wurde, schloß ich mich ihr aus vollster Ueberzeugung an. Mit ihren 75 Mandaten wurde sie eine Macht in der Nationalversammlung, eine zu- nächst segensreich wirkende Macht. Aber von Jahr zu Jahr rückte sie mehr und mehr von der Linken nach der Mitte hin. Sie verlor ebenso an Charakter wie an Wählern. Bis sie 1936 durch ihre Mißehe mit dem Iungdeutschen Orden nicht nur ihren Namen, sondern auch ihre Existenzgrundlage einbüßte. Die zwei Abgeordneten, die sie heute noch im Preußischen Landtag aufweist, waren die Quittung der demo- kratischen Wählerschaft. Von ein paar lokalen, durch Personenfragen bedingten Ausnahmen wie in Hamburg abgesehen, existiert die Staats- partei als parlamentarischer Machtfaktor nicht mehr. Sie be- sitzt noch einflußreiche Zeitungen und intelligente Politiker. Aber die breite Basis ist geschwunden. Rettet sie durch Listen- Verbindung mit einer großen Partei am 31. Juli noch ein paar Mandate— sich selbst kann sie nicht mehr retten. Was ist aus den Millionen von Wählern geworden, die 1919 die 75 demokratischen Abgeordneten in den Reichstag entsandten? Sie haben sich verlaufen, nach allen Seiten hin, sind Sozialdemokraten oder Nationalsozialisten, Volksparteiler oder Wirtschaftsparteiler geworden. Ein recht großer Pro- zentfatz, darunter nicht wenige der wertvollsten Elemente, gehört zu keiner Partei. Sie find politisch heimatlos, haben sich damit selbst vom Einfluß auf das öffentliche Leben aus- geschaltet. Viele sind einer Art Fatalismus verfallen. Sie wählen überhaupt nicht mehr. Wozu noch? Der Karren rollt ja doch in den Abgrund. Es ist schauerlich, wenn man sich vorstellt, wie dieser Fatalismus ehemals aktiver und auch heute noch über- zeugter Demokraten die Chancen Hitlers steigern muß. Wer Arne Garborgs wundervolles Buch„Müde Seelen" kennt, wird in den müden Seelen der Demokraten z. D. das politische Seitenstück zu jenen wiedererkennen. Gibt es kein Mittel, diesen intellektuell und wirtschaftlich beachtlichen Schichten des Bürgertums wieder eine politische Heimstätte zu schaffen? Vorläufig scheint es nicht so. Alle Versuche zu Partei- fusionen oder neuen Parteigründungen sind gescheitert. Alle Wahlen der letzten Zeit haben gezeigt, daß die Sorge der Wähler, ihre Stimmen könnten bei der Abgabe für eine der kleineren Parteien verlorengehen, alle andere Erwägungen überragt. Die Wähler wollen kein bloß platonisches Wahl- vergnügen einer Art Selbstbefriedigung genießen, sie wollen ihre Stimmen in eine Waagschale werfen, die auch funktioniert. Darum die unwiderstehliche Anziehungskraft der Massen- Parteien. Wer sich selber nichts vormachen will, muß offen aussprechen, daß für den 31. Juli nur vier Par- teien ernsthaft in Frage kommen: SPD. , KPD. , Zentrum und Nationalsozialisten. Bei den preußischen Landtagswahlen haben eine ganze Anzahl Demokraten die Zentrumsliste unterstützt. Damit haben sie jedenfalls klüger gehandelt, als wenn sie für eine kleine Partei gestimmt oder gar sich der Abstimmung ent- halten hätten. Immerhin war ein gewisses Risiko mit einer solchen Ab- stimmung verbunden. Das Zentrum ist nun einmal eine Partei der Mitte und will es bleiben. So scharf es jetzt gegen die Regierung Papen und gegen Hitler eingestellt ist, seinem Wesen nach kann es sich ebenso gut mit der Rechten wie mit der Linken koalieren. Sicher ist es zur Zeit von den bürger- lichen Parteien das weitaus kleinste Uebel. Aber ein unbe- dingter Sicherheitsfaktor im Sinne der Linken ist es nicht, kann es nicht fein. Niemand wird von Brüning erwarten, daß er, wie einjt Wirch, ausrufe: der Feind steht rechtsl
Brüssel . 11. Juli. (Eigenbericht.) In der Umgebung von Charleroi kam es in der Nacht zum Sonntag und am Sonntagnachmittag zu schweren Unruhen und Zusammenstößen mit der Polizei. Zehn Streikende und ein Polizeibeamter wurden verletzt. Ueber S6VY Menschen zogen in der Nacht zum Sonntag zunächst vor die Villa eines Direktors der großen Eisenwerke Providence . Die Arbeiter setzten zwei- Autos in Brand und zündeten schließlich auch das Haus an. Männer und Frauen schafften aus dem Hause fort, was sich fortschaffen ließ. Fässer mit Wein wurden auf die Straße gerollt und ausgetrunken. Inzwischen schössen die Flammen aus der Villa hervor, und bald krachten die Balken und Mauern wie ein Kartenhaus zusanimen. Militär und Gendarmerie fanden an der Brandstelle nur noch einige Reste der Mauern vor. Die Menge hatte sich inzwischen verzogen. Der Gewerkschastsrat-und der sozialistische Distrikts- verband von Charleroi beschlossen, am Sonntag angesichts der Situation den Generalstreik aller Industrien" im Distrikt von Charleroi zu propagieren. Der sozialistische Parteivorstand tagt in Brüssel in Per- manenz. Er hat am Sonnabend ein Manifest herausgegeben, in dem die provokatorische Haltung der Unternehmer und die reaktio- näre Politik der Regierung, die die Arbeiter nach langen Leiden zur Hungerrevolte getrieben habe, gebrandmarkt werden. Es ver- langt sofortige Maßnahmen zur Erfüllung der gerechten Forderungen der Arbeiter und appelliert zugleich an diese, kaltes Blut zu be- wahren, sich Unruhen zu enthalten, den Provokationen zweideutiger Elemente kein Gehör zu schenken und sich ausschließlich nach den Be- schlüssen der regelrechten Gewerkschastsorganisationen zu richten. Weitere Ausdehnung des Streiks. Brüssel . 11. Iuli.(Eigenbericht.) Am Montag dauerte die Streikbewegung in allen belgischen Strelkgebieten in vollem Umfang an. In allen Volks- Häusern der Industriegebiete wurden gewaltige Versammlungen ab- gehalten. Die Gewerkschaftsführer und sozialistischen Führer be-
mühten sich mit Erfolg, der Streikbewegung eine klare und positive Zielsetzung zu geben. Die ausgestellten Forderungen, die überall die Zustimmung der Streikenden fanden, sind in der Hauptsache folgende: Alle in der letzten Zeit entlassenen Arbeiter sind wieder einzustellen, die Regierungsverordnung, die scharfe Bedingungen für die Erwerbslosen- Unterstützung festseht, ist zurückzuziehen: die B r o t st e u e r ist abzuschaffen. die Hausmiele für Erwerbslose herabzusehen: vorhandene Arbeitsgelegenheit ist unter Mitwirkung der Gewerkschaften unter den Arbeitern gerecht zu verleiten, schließlich Auflösung des Parlaments und sofortige Reuwahlen. Zn den bestreikten Revieren herrschte am Montag ziemliche Ruhe. Rur in Eharlsroi kam es infolge kommunistischer Störungen wieder zu Unruhen. Der sozialistische Führer Vandervelde sprach vom Balkon des Volkshauses von Eharlöroi zu den Streikenden. Er erklärte, die Arbeiterpartei sei mit den Streikenden gegen die Unternehmer und die Regierung völlig s o l i d a r i s ch. sie lehne aber jede Solidarität mit den Unruhestiftern ab. Einige hundert Kommunisten versuchten Vandervelde niederzubrüllen. Schließlich gingen sie gegen das Volkshaus vor, wurden aber von der Arbeiterwehr zurückgeworfen. Die Kommunisten plünderten dann einen Brotwagen der Genossenschaft. Im Revier des Zentrums haben die Straßenbahnerden Streik proklamiert. Zm Lütticher Revier, das an dem Konflikt nicht direkt beteiligt ist, stehen elf Zechen im Streik als Protest gegen den Einzug der Gendarmerie. In der Stadt Rivelles, südlich von Brüssel , ist der Generalstreik proklamier«. Kommunistische Kührer verhastet. Die Regierung verkündet, sie habe unumstößliche Beweise dafür gefunden, daß der Streik auf kommunistischer und revolutionärer Grundlage entstanden sei. Der Mittelpunkt der kommunistischen Un- ruhen sei in Wasmes in der Nähe von Möns entdeckt worden. Dokumente wurden beschlagnahmt, u. a. auch Schriftstücke, aus denen hervorgehe, daß die belgischen Kommunisten in Frankreich und cholland Verbindung hätten. Mehrere kommunistische Führer wurden verhaftet. Es ist ebenso falsch als bequem, die ganze Streikbewegung lediglich auf kommunistische Treibereien zurückzuführen.