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BERLIN  Donnerstag 11. August 1932

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Nr. 376

B 183

49. Jahrgang

Bußpredigt zur Verfassung

Gayl fordert Verfassungsänderung, schlechteres Wahlrecht und-Oberhaus

Der heutige Verfassungstag gibt Anlaß zu Betrachtungen alleraktuellster Natur.

Unter dem gestürzten alten System" war es üblich, daß jede Reichsregierung nach etwa ein bis zwei Jahren zurücktrat und ein umständliches Verhandeln über die Bildung einer neuen Regierung begann. Das war gewiß nicht schön, und allen Freunden des alten Systems war es oft unerfreulich genug, zusehen zu müssen, wie um Ministerporte­feuilles gehandelt wurde, als ob es alte Hosen wären.

Wir haben jetzt eine grundsäglich neue Art der Staats­führung". Wodurch unterscheidet sie sich von der alten? Offenbar zunächst dadurch, daß ein Reichskabinett nicht mehr ein Jahr oder darüber, sondern nur noch zwei Monate vorhält, und daß das Marktgeschrei um die Umbildung noch schriller flingt als jemals zuvor.

Man tut heute, als wären ,, Präsidialregierungen" etwas ganz Neues. Als ob die Regierung Cuno seligen Angeden­fens etwas anderes als eine Präsidialregierung" gewesen wäre! Als ob nicht schon Herr Dr. Luther als Chef einer ,, Präsidialregierung" seine Tätigkeit mit den Worten be­gonnen hätte: ,, Meine Herren, regiert muß doch irgendwie

werden!"

Immer wenn die Bildung einer Koalitionsregierung nicht möglich war, tauchten die Redensarten vom überpartei­lichen" Kabinett der Köpfe, der Persönlichkeiten, der Fach­minister usw. auf. Jetzt ist es genau dasselbe. Das weise Bort des Rabbi   Ben Akiba   ,,, alles ist schon dagewesen", gilt auch heute noch. Und für die Verhandlungsmethoden der Nationalsozialisten gilt es ganz besonders.

Die Nationalsozialisten, geschworene Feinde der Demo­fratie, überschlagen sich geradezu in demokratischen Argu­menten, um zu beweisen, daß ihr Adolf Hitler   Reichskanzler werden müsse. Dies sei ,, der Wille der Nation".

Immerhin hat die Nation nicht Hitler, sondern Hinden­ burg   zum Reichspräsidenten   gewählt. Und von Hindenburg  heißt es jetzt, daß er Hitler nicht zum Kanzler ernennen mill. Was nun weiter?

Das Zentrum ist verhandlungsbereit. Zum Sonn­abend hat es in Preußen Nazis   und Deutschnationale zu einer Besprechung gebeten. Es riecht nach Bürgerblock! Auch nach Putsch?

Den Nazis ist die Beteiligung an einer Präsidial­regierung" angeboten, ihnen ist die Beteiligung an einer Roalitionsregierung angeboten. Werden sie unter Ablehnung solcher Angebote den ,, Marsch auf Rom  " antreten? Sie würden ja doch bestenfalls nur in Berlin   ankommen, wo eine ganz andere Luft weht und wo der Empfang ein ganz

anderer sein könnte!

Einstweilen verhandelt man. Zwischendurch feiert man die Verfassung. Dann wird weiter verhandelt. ,, Grundsätzlich neue Art der Staatsführung?" Wieso?

Keine Parteiregierung.

Hindenburgs Standpunkt.

Unter ausdrücklicher Betonung der autoritativen Herkunft wird folgendes offiziös mitgeteilt:

Der Reichspräsident hält absolut an der Linie feft, nach der die bisherige Regierung gebildet worden ist, d. h. eine vom Parlament unabhängige Regierung. Das gilt nicht nur für heute, das gilt für die jetzigen Verhandlungen überhaupt, und von dieser Linie geht der Reichspräsident nicht ab.

In dieser bemerkenswerten Erklärung dürften die Worte ,, Dom Parlament unabhängige Regierung" wohl nicht so ge­meint sein, wie sie schwarz auf weiß wirken müssen. Die Reichsverfassung, die heute vom Reichspräsidenten   und von der Reichsregierung gefeiert wird, besagt ausdrücklich, daß die Reichsregierung zu ihrer Amtsführung des Ver trauens des Reichstages bedarf.

Freiheit! Freiheit!

Das republikanische Volk bei der amtlichen Feier.

Zur Verfassungsfeier in diesem Jahre war die Aus ich müdung des Reichstagsja ales gegen die vorher­gegangenen Gedenktage nicht unwesentlich verändert. Die Einleitungsformel der Reichsverfassung, die sonst stets zu beiden Seiten des großen Reichsadlers an der Stirnmand zu sehen war, fehlte diesmal. Dafür war in der linken Saalecke eine

große schwarzweißrote Fahne, allerdings mit der Gösch

angebracht, während in früheren Jahren diese Flagge nur draußen

auf dem Platz der Republik   wegen der Reichs mehrparade neben der schwarzrotgoldenen Fahne mehte. Selbstverständlich war die Flagge der Republik   in gleicher Größe in der anderen Saalecke zu sehen. Der Besuch der Feier war wiederum starf, wenn auch geringer als in den vergangenen Jahren. Die Diplomatenloge war start besetzt.

präsidenten von Kardorff, dem Reichsinnenminister Baron Um 12 Uhr erschien der Reichspräsident, begleitet vom Bize Gay und dem Reichswehrminister von Schleicher, der letztere die übrigen Reichsminister mit Herrn von Papen an der Spize in Reichsmehruniform mit allen Orden. Kurz vorher waren am Regierungstisch erschienen. Der Reichskanzler hatte seinen schwarzen Anzug mit beiden Eisernen Kreuzen geschmückt. Hin= denburg dagegen, der doch gewiß alle Kriegsorden besitzt, trug auf dem schwarzen Rod nicht einen einzigen!

leberparteiliche Musik eröffnete die Feier. Beethovens

Egmont Ouvertüre mit ihrem Jubel über die Be­freiung eines geknechteten Volkes. Darauf hielt Baron Gay I eine

Bußpredigt zur Feier der Verfassung,

in der er u. a. folgendes fagte:

Seitdem am 11. August 1919 die Nationalversammlung zu Weimar   das Verfassungsmert abschloß, um das Reich, wie es in dem Vorspruch der Verfassung heißt, in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuen und zu festigen, dem inneren und äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern", find 13 schwere und leidvolle Jahre verflossen, in denen eine Erfüllung des Vorspruchs uns nicht gegeben war. Inmitten einer ihm immer noch feindlichen

Welt hat unser Volk die schwersten Bürden äußerer und innerer Not zu tragen. Für frohe Feste, freundliche Rück- und Ausblicke ist in unserem Zeitalter menig Raum vorhanden. Durch alle Feste, die unser Volk in mannigfaltigen Formen noch feiert, klingt ehern die Stimme der Not. Ihr Klang entspannt nicht die Feiernden, sondern erregt immer aufs neue die Herzen. In diesen Zeiten hat sich unser Feiertag zusammenfinden können. Alle Versuche, den Ver­Volk noch nicht zu einem alle Teile einigenden, nationalen fassungstag zu einem gemeinsamen, volkstümlichen Feiertag zu ge= stalten, sind bisher fehlgeschlagen.

Hier sind nicht Ort und Stunde, um diese Frage zu vertiefen. Es genügt offen zu bekennen, daß es so ist und daß

die Berfaffung die Geiffer nicht einigt, sondern trennt. Dennoch hat die Reichsregierung sich entschlossen, den Ver­fassungstag amtlich zu begehen. Wir geben uns dabei nicht der Hoffnung hin, diesen Tag zu einem Festtag für unser Volt machen zu können. Wir sehen auch in dem 11. Auguſt keinen Feiertag, der unter allen Umständen begangen werden muß, einen ähnlichen Gedenktag feiern und wir ihnen das nachmachen weil es bisher so Brauch war oder weil auch andere Völker wollen. Wir wehren uns auch gegen große, rauschende Feste, die dem Ernst unserer Lage und unserer Armut nicht entsprechen würden. Aber wir wollen diesen Tag, an dem unser Bolt sich die heute geltende Form seines staatlichen Lebens gab und der, wie man immer zur Weimarer Verfassung stehen mag,

ein geschichtlicher Gedenktag ist und bleibt, bewußt dazu benutzen, um in Gegenwart des allverehrten Herrn Reichspräsidenten  , im Saale des Deutschen Reichstags, in würdiger Umrahmung durch klassische deutsche   Kunst zu unserem Voik sprechen. wir wollen feine Feierstunde, sondern eine Stunde stiller Einkehr heute halten, inmitten der Unraft unserer Tage. Wir wollen an einem Meilenstein unseres mühseligen Wegs durch die Tiefen

unserer Geschichte einmal raften und uns auf das besinnen, was uns Not tut, was wir tun müssen, wenn wir als Volk leben und unsere Pflicht gegenüber den kommenden Geschlechtern erfüllen wollen. Zu diesem Zweck sind wir heute hier.

In einer Versammlung von Deutschen   wäre es ein müßiges Be­ginnen, in einer kurzen Ansprache die äußerlich erkennbaren Not­stände, unter denen unser Volk leidet, im einzelnen aufzuführen und ihren Ursachen nachzugeben. Im Ringen der Völker um ihr Dasein find letzten Endes und entscheidend die unwägbaren Kräfte

eines Bolf es ausschlaggebend. Von ihrem Durchbruch durch die materiellen Sorgen des Tages zu machtvoller Betätigung hängt die Zukunft ab, der wir entgegengehen. juo

Diese unwägbaren seelischen

Kräfte und Werte eines Volkes find an feine Formen und Ver­faffungsurkunden gebunden.

Es gibt im Leben der Völker Zeiten, in denen diese Kräfte verschüttet scheinen durch materialistische Auffassung des Lebens, und es gibt

Beiten, in denen sie lauter und offen fließen. Die starken Kräfte, die einst das Erleben des Weltkrieges freigemacht hatten,

maren nicht tot. Lebendig brachen sie in den verschiedenen Formen und auf vielerlei Wege aufs neue hervor. In allen Schichten unseres Volkes regte sich neues Hoffen, Wollen und Handeln.

Tiefer als bisher empfanden viele ihre Verantwortung gegen­über ihrem Volfe, immer lebendiger wurde der Wille zum

Dienen an der Gesamtheit unter Hintanjegung des eigenen Ichs

und seines Wohlbefindens. Immer stärker wurde die Sehnsucht nach einem neuen, freien, sich selbst bestimmenden Deutschland  . Je stärker

diese ethischen Regungen in einem Teil unseres Volkes lebendig

wurden,

desto heftiger wurde der Widerstand derer, die sich in ihren bis­herigen Lebensanschauungen bedroht fühlten.

So ist unser Volk in unseren Tagen in zwei Lager zer= spalten, zwischen denen ein erbitterter Kampf um die Macht im Staate tobt. Jedes Cager nennt das andere Bolks­verderber und Staatsfeind und bekennt sich zu dem Streitruf ,, Wer nicht für mich ist, ist wider den Staat". So sollten die Dinge nicht sein. Was in unserem Volk heute ausgefochten wird, das ist ein Kampf der Weltanschauungen, der ein Ringen der Geister und nicht eine handgreifliche Auseinandersetzung sein soll. Wir tun gut, auch den weltanschaulichen und politischen Gegner bis zum Beweise des Gegenteils als einen ehrlichen Volksgenossen zu be= trachten- der auf seine Weise und nach seiner Ueberzeugung das Beste unseres Volkes will. Bewußt ausgeschlossen sei dagegen jeder, der einen nationalen deutschen   Staat grundsätzlich verleugnet und bekämpft.

Man mag zu den Einzelheiten der Weimarer Verfassung   stehen, wie man will. Sie ist heute dereinzige Grund, auf dem alle, unbeschadet ihrer weltanschaulichen und politischen Meinung stehen müssen, die einen deutschen   Staat überhaupt bejahen. Auf diesem Grund müssen wir uns finden und handeln, denn wir haben keinen anderen, von dem aus wir den Vormarsch zu einem neuen staatlichen Leben überhaupt antreten

fönnen.

Damit ist aber nicht gesagt, daß die Weimarer Verfassung  etwas Unabänderliches wäre. Bereits in meiner Antrittsrede vor kein starres Idol ist, daß Verfassungen dem Wandel unterworfen dem Reichsrat habe ich mir erlaubt zu sagen, daß eine Verfassung und daher abänderungsbedürftig sind, wenn sie Mängel zeigen, die im Interesse der Entwicklung eines Volkes abgeändert werden müssen.

Rückblickend auf die 13 Jahre des Bestehens unserer Ver­fassung müssen wir bekennen, daß sie abänderungsbedürftig ist. Es war ein Verdienst der verfassunggebenden Nationalver­ sammlung  , aber auch Preußens, Bayerns   und aller anderen deutschen   Länder, daß 1919 in verhältnismäßig furzer Zeit nach dem allgemeinen Zusammenbruch überhaupt eine Ber­fassung zustandekam, melche die Reichseinheit gewährleistete und für längere Zeit eine Grundlage staatlichen Lebens schuf, auf der auch tatsächlich sehr schwere Zeiten überwunden werden