dir ieg um eine Trommel Sine exoHfche QeSchichte/ Ton S. ftichards
Der Monsum schlief. Madagassen, vom Stamme der Antafasys, setzten lärmend über den Fluß. Sie hatten einen Kriegszug gegen die Ochsenräuber an der Miindung'des Flusses beschlossen. Im Süden Madagaskars , wo die Laguneninseln sich weit ins Meer hineinschieben, ist eigentlich immer Krieg. Die schwarzbraunen Menschen schlachten sich nach der Stammesordnung ab und reiben sich ollmählich auf nur der Ochsen wegen. Ochsen, blaugehörnte Zebus, sind der Reichtum aller Stämme. Wer Büffel hat, kann alles haben: Reis, Maniok, Schnaps und... glatthäutige Frauen. Warum also, sollte man um Ochsen keine Kriege führen? Lobagola, der Häuptling der Antafasys, hatte allen Grund dazu!
Die Regenzeit war gekommen. Bei den Ochsenräubern an der Küste hatte sich eine Gruppe Europäer vor den Wasserfluten in Sicherheit gebracht. Mitten in der Nacht, der Monsum hatte eben noch Regen über den Ozean geweht, schlug plötzlich der Wind um� die schwarze Wolkenbank riß sich auf und der Mond stand wie ein goldener Kürbis am Himmel. Von den Bergen herab stieg dumpfes Brummen der heiligen Trommeln Die Antanalas beteten zu ihrem Gotte, der groß und schwarz, wie das Holz der alten Trommel war. „Tom... tom... tom... tom...!" brummte es über die Eben« hin. Schlaftrunken stürzten die Europäer aus den Zelten und hörten staunend den nächtlichen Gebetsruf der Antanalas. Beim Morgen- grauen riefen sie Sita, den Häuptling der Ochsenräuber, ins Zelt. Die weißen Männer wollten den Standort der heiligen Trommel wissen. Sita schwieg, er war kein ungläubiger Hund. Die Europäer warfen blanke Münzen auf den Tisch. Mit sprechender Geste wiesen sie auf die klingenden Goldstücke. „Zwanzig Guineen, Sita, zwanzig sollst du haben!" Der Häuptling schwieg. „Dreißig... du...?" Die rote Lamba zitterte, eine leise Bewegung um Sitas Kopf, er blieb stumm. Immer höher stieg das Angebot, kaum vermochte der Häuptling den Zahlen zu folgen. Begriffe verwischten. Gier leuchtete aus den Augen. Langsam und schweigend zählte Sita und bedachte:„Hundert Guineen... das ist viel Schnaps vom Howahändler, das sind sammethäutige Ochsen, das ist Tanz und Lust!" Die Sinne wirbelten durcheinander, automatisch setzte sich das Gebiß des Häuptlings in Bewegung. Die Zähne mahlten, als müßten die großen Gedanken zerkleinert werden, bevor Entschlüsse in diesem wuchtigen Schädel reisen konnten. Sita blieb stumm! „Hundertundzwanzig, Häuptling, und das Messer für dich...!" Verräterisch zuckten des Schwarzen Hände, sein Mund öffnete sich, um das Mahlgut auszuschütten. Sita ober schwieg. „Das letzte Wort Häuptling... hundertundfünfzig...?" Sita zuckte auf!-- Das Geheimnis der schwarzen Trommel wurde um diesen Preis verraten. Für einhundertundfünfzig Guineen versprach der Häupt- ling der Safys an der Flußmündung, die Trommel herbeizuschaffen und den Europäern nachzusenden. Es war die letzte der elf heiligen Trommeln, die einst den Aufstand gegen die Howas über die ganze Insel gebrüllt hatten. Hinter Mangroven, Schilfsumpf und bllltenschwerem Dornen- gebüsch wohlverwahrt, donnerte der Urwald sein unerforschliches Lied. Riesenfledermäuse, vom faulig süßen Geruch wilder Orchideen angezogen, flatterten trunken hin und her. Der Botumol grunzte in den Zweigen. Aus dem Flusse stieg warmer Dunst empor, blieb träge auf den Wassern stehen und wallte im dröhnenden Läuten der Glockenfrösche. Lautlos schössen zwei Kanus durch die Strom- schnellen. Wie ein Sarg bemalt, so lag die heilige Trommel quer über den Booten. Im schützenden Dunkel der afrikanischen Nacht fühlten sich die rudernden Sasykrieger geborgen. Ihre Beute hatten sie vor wenigen Tagen gegen Buschmesser, Schnaps und andere kostbaren Dinge bei den Bergstämmen eingetauscht. Keine drei Guineen war ihr Angebot wert gewesen. Sie konnten nicht wissen, das wandernde Howahändler, die alle Stämme im Süden heimlich mit Schnaps versorgten, das erstaunliche Angebot der weißen Männer dem Urwalde schon verraten hatten. Plötzlich zischte ein Speer vor den Booten ins Wasser. Die Ruderer schreckten auf. Zahlreiche Kanus schössen zur Strommitte hin, Fackelbrände loderten auf. Die scharfäugigen Krieger der Antafasys hatten das Dunkel des Flusses belauert, die heilige Trommel des Ochsenberges ward ihre Beute. Sita, der rote Hund eines Ochsenräubers, sollte nicht ungestraft die Götter beleidigen. Am Morgen fuhren die Sasykrieger mit leeren Booten heim, nur eine Botschaft Lobagolas, vom Howahändler aufgesetzt, führten sie mit:„Sita... du willst die heilige Trommel des Ochsenberges an die Weißen verkaufen. Die Trommel, die unsere Väter zum Kampfe rief... Die Antafasys bleiben ihren Geistern treu, die Trommel bekommst du nicht... Willst du die Trommel haben, dann gib zwanzig Guineen, als Opfer! Zwanzig, Sita.., und meine Krieger bringen die Trommel zur großen Furt..." Sita ließ die Botschaft verlesen. Er trank und schwitzte vor Wut. Keiner wußte Rat, die alte Trommel war nicht wieder herbeizu- schaffen. Die heilige Trommel... das beste Geschäft mit den weißen Männern! Endlich stieß Tutor den Speer in den Sand, die Versammlung schwieg. Er schlug vor, eine neue Trommel zu schlagen, die alte wäre ohnehin den Preis nicht wert gewesen. Reges Leben herrschte seit dieser Stunde im Dorfe der Safys an der Flußmündung. Sie höhlten einen Stamm. Die Frauen füllten die Höhlung mit Flußwasser und warfen glühende Steine hinein. Unter dem Drucke des siedenden Wassers weitete sich der Stamm ollmählich zur bauchigen Form der großen Trommel. Als die Schallöcher eingeschnitten waren, malte der Schamane seltsame Zeichen aus das geschwärzte Holz und dann brachten große Kriegs- kanus in feierlichem Zuge die Trommel über die Lagune zum Hafen von Majanga. Reich beschenkt, die Beutel voller Guineen, so kehrten die Ruderer singend heim und bald rief mit hastigen Schlägen die Ur- waldtrommel zum großen Palaver. Drei Tage währte die Orgie aus Schnaps, Schweiß und stampfenden Frauenleibern, dann war die Zeit des Aufbruchs gekommen. Die Herde der Antafasys weidete auf den Bergmatten. Di« Hirten trieben die Tiere zusammen, löschten die Feuer und legten sich zur Ruhe in die Grashütten. Kaira, der Aelteste, träumte von Haduna, dem weihen Stier. Mitten in der Nacht schreckte er auf. Es war, als riefe der weiße Stier aus der Ferne herüber. Kaira kroch frierend aus der Hütte und horchte in das Grasland hinaus.
Da war der Ruf:„A.. uuuhm... a... uuuhm...!" Der Alte witterte sofort Gefahr. Lichtlos kroch er in die Hütten und weckte die Hirten. Ueber die friedlich lagernde Herde wehte der klagende Ruf:„A... uuuhm... uuuhm!" Es war ein Iungstier, der aus dem Regenwald herllberblökte In breiter Reihe bewegten sich die Hirten über die dampfende Wiese. Immer näher kamen sie an den Busch heran. Der Lärm animalischen Lebens tropfte ihnen aus dem Baumgewirr des Regenwaldes entgegen. Mit dem Blöken des angst- vollen Stiers gemischt, klang es, wie die großartige, unartikulierte Sprache urzeitlicher Natur. Plötzlich spie der Wald eine Schar brüllender Neger zur Herde hinüber.„Hui... hui... iiih...!" schrie und pfiff es überall. Safys!... Die schwarzen, gräßlich bemalten und gefetteten Teufel sprangen speerschwingend die Hirten an. Feuerbrände jagten vor ihnen her. Das Geschrei der Feinde, das Stöhnen niedergerannter Hirten, das Brüllen und Stampfen der flüchtenden Tiere, knirschende Feuer und schwirrende Speere, alles vereinigte sich zu einem mörderischen Abgesang beim Untergange des Reichtums der Antafasys.
Mit den besten Stücken verschwanden die Ochsenräuber in de» düsteren Bergschluchten. Wie stickiger Nebel lag es auf den Hirnen von Lobagolas Kriegern, als Kaira vom Ochsenraub berichtete. Die Hälfte aller Hirten war nicht mehr, zwölf der besten Stiere hatten die roten Hunde rauben können Schweigend hörte Lobagola den Bericht. Auf den fahlgrauen Schläfen stand satter Schweiß, wie Milch. In den Iettaugen blitzte Mordlust. Ein Wort nur schickte er in die wartende Stille der lauschenden Männer:„Krieg!" Die Losung fiel, im befreiten Aufatmen erlosch die gährende Unrast der Krieger. Während Lobagolas Männer über den Fluß setzten, brüllten die Trommeln den Kriegsruf der Antafasys durch das Urwalddickicht. Wie ein tolles Echo wirbelte der Ruf von Dorf zu Dorf, und blieb gewitterschwer über den fernen Tälern der Berge.
Bald wird das Morden im Flußtal wieder anheben, dort, wo seit Jahrhunderten um die Freiheit gekämpft wird. Bis Trompeten die Ankunft der Kolonialtruppen melden, denn... eigentlich ist der Krieg zwischen den Stämmen im Süden Madagaskars verboten. Dann sinkt der Busch in sein drohendes Schweigen zurück, aus dem nur in Vollmondnächten das dumpfe Brummen der heiligen Trommel vom Ochsenberge klingen wird. Jener Trommel, von der Europäer behaupten, das sie längst in einem ihrer Museen von Vergangenem träume...!
Wilhelm Wundl SEum iOO. Geburtstag/ Ton S)r. S&runo AUnmnn
Der Politiker. Mit der Gewohnheit des deutschen Gelehrten alten Stils, der Wissenschaft ausschließlich seine geistigen Kräfte zu widmen, hat Wilhelm Wundt als einer der ersten unter den großen Forschern Deutschlands gebrochen. Fichte, sonst nicht Mündts besonderer Liebling, ist hierin sein Vorbild gewesen. Wie der große Redner an die deutsche Nation vom Jahre 1808 09, wollte Wundt politische Befreiungsarbeit leisten, damit die geistige Freiheit, die Freiheit des Forschens, Lehrens, Immerweiterkommens keiner Anfeindung ausgesetzt sei. Fichte stand mit diesem Kampsziel gegen Napoleon , Wundt gegen die Reaktion, die sich in den fünfziger und sechziger Iahren der Kultusministerien aller deutschen Staaten bemächtigt hatte. Er stand, von 1865 bis 1871, als Abgeordneter der zweiten badischen Kammer zur Demokratischen Partei gehörend, auch gegen Bismarck und dessen Einheitsplän«. Das Deutsche Reich wollte er freilich, aber er wollte es unter Einschluß Oe st erreich?. Er sah für Deutschland nichts Gutes voraus, wenn ein Bismorckifches Preußen„federführende" Macht im Reiche fei. Viel erreicht hat Wundt als Politiker nicht. Kurz vor Beginn des deutsch - französischen Krieges setzte er die Beseitigung der akode- mischen Sondergerichtsbarkeit in Baden durch. Dann ging politisch alles wider seine Absichten. Er verwünschte die Annexion Elsaß- Lothringens. „Diese Angliederung", schreibt er an den dafür be- geisterten Theologen David Friedrich Strauß ,„wird kein Segen für Deutschland sein und der erfolgreiche Staatsmann in Berlin wird sie vielleicht am allerbittersten bereuen." Als die Souveränität Badens durch die Unterstellung seiner Wehrmacht unter das preußische Kriegsministerium eine besonders empfindliche Einschränkung erfuhr, zog er sich für lange von aller öffentlich- politischen Tätigkeit zurück. Dem Mannheimer Sohn, zeitlebens gut weltbllrgerlich gesinnt, faß tief der Groll gegen das reaktionäre Preußen. Im Weltkrieg trat Wundt mit zwei politischen Be- kundungen vor. Er unterzeichnete das viel angefochtene D o k u- ment der 93 Hochschullehrer. Die andere Bekundung war indirekt politisch. Als Werner Sombert mit seiner grotesk-albernen Schmähschrift„Händler und Helden" die deutschen Gelehrten mustergültig auf ein ganzes Jahrzehnt blamierte, rettete Wundt ihre wissenschaftliche Ehre mit dem Buch„Die Nationen und ihre Philosophie". Durch Zusammenarbeit der philosophierenden Persönlichkeiten aus aller Herren Länder ist diese Wissenschaft wie jede andere eine Kulturpotenz geworden; von solcher Zusammenarbeit Höngen olle weiteren Fortschritte ab. Das war das gut belegte Ergebnis seiner Untersuchung. Es war die Publikation, mit der sich Wundt , 83 Jahre alt, verabschiedet«. Gelebt hat er bis 1920. Der Forscher. Der Forscher Wundt war viel größer als der Politiker. Eigenartig Hot er schon begonnen. Zu einer Zeit, da alles aus der Philosophie flüchtet«, weil angeblich die Einzelwissenschasten deren Problem« besser bewältigten, wandte er sich, von der Medizin kommend, der Philosophie zu. Ihn quälten die ewigen Probleme des Zusammenhangs von Leib und Seele, die Faustische Frage nach dem Wesen und der Versassung des Unioersums und diese Probleme, davon war er überzeugt, könnte wenn überhaupt eine Disziplin, so nur die Philosophie lösen. Freilich keine blaß aus allgemeinsten Begriffen ableitende und zu Weltanschauungen aussteigende Philosophie vorkantischen Stils. Mit möglichst um- fangreicher Verwendung der SpezialWissenschaften müsse der Philosoph arbeiten, anderenfalls würden seine Bemühungen im Problembereich der Philosophie fruchtlos bleiben. Es fragte sich, welche Spezialwissenschast, denn nicht alle hoben gleichen Vorbereitungswert. Die zeitgenössischen Gelehrten um 1860/70 herum, wiesen ihre Schüler in diesem Falle so gut wie immer an die Naturwissenschaften. Wundt , auch hierin selbständig, lehnte Einseitigkeiten ab. Gewiß, auch von den Natur- Wissenschaften könnte man zur Philosophie hinüberleiten, aber mindestens ebenso brauchbare Stützpunkte gebe die Psycho- l o g i e her. Mit dieser Entscheidung hatte sich Wundt selbst in eine schwierige Situation begeben. Die Psychologie, welche bei seinem Eintritt in die Forschung vorlag, war überhaupt zu nichts, am allerwenigsten für philosophische Schlußwendungen, zu gebrauchen. Man hatte sich auf den Universitäten von Herbert einreden lassen, daß die Seele über einen einzigen Realgehalt, über die Vorstellungen, ver- füge. Aus Vorstellungen entstünden Gefühle, Affekte. Standpunkte. Charaktere nebenbei, aber wirklich existent in psychischer Eigen- hastigkeit seien nur sie, die Vorstellungen. Mit dieser Beschränkung hat Wundt Schluß gemacht. Gefühle, Empfindungen, Affekte sind selbständige Elemente des Seelenlebens wie Vorstellungen auch. In einem einheitlichen Akt treten sie bei jeder psychischen Aeußerung auf, bald das eine Element vor- herrschend, bald das andere und alle stets unter der formenden Gewalt des Willens. Damit hatte Wundt der Seele theoretisch die unerschöpfliche Reichhaltigkeit wisdergegeben, die sie besitzt. Die Psychologie befreite er noch van zwei anderen Einseitig»
leiten. Selbstbeobachtung, sagte die amtliche Wissenschaft damals, fei die einzige Methode der Psychologie. Wundt zeigte, die Lehren F e ch n e r s und Webers über die Beziehungen von Reiz und Empfindung fortführend, daß neben der Selbstbeobachtung das Experiment als Hilfsmittel der psychologischen Forschung zu brauchen sei. Dem Experiment seien prinzipiell alle seelischen Tätigkeiten und Qualitäten unterwerfbar, selbst so komplizierte wie Gedächtnis, Begabung, Charaktere. Ohne Zweifel sind die wichtig- sten psychischen Ergebnisse durch experimentierende Bearbeitung er- zielt worden. Seelisches Leben erkannte man seinerzeit nur dem Indivi- duum zu. Auch die Massen, die menschlichen Gemeinschaften, die Völker haben seelisches Eigenleben, machte Wundt dagegen gel- tend und in seinem monumentalsten Werk, in der zehnbändi- gen Völkerpsychologie, hat er die typischen Aeußerungen des Vöker- und Gruppenlebens beschrieben. Mit alledem war die Psychologie vorerst auf die Be schrei» bung hingewiesen. Für eine Wissenschaft, die erklären will, die außerdem sich an das Vorbild der Naturwissenschaft hält, genügt die Beschreibung allein nicht. Die braucht Gesetze. Fechner, Weber, Lotze haben sich daran versucht. Wundt ist die Auf- stellung von Gesetzen gelungen. Die drei Gesetze der Seele. Alles seelische Verhalten untersteht drei Gesetzen. Zunächst dem„Prinzip der schöpferischen Resul- tanten". Ein« Melodie ist mehr als die Summe der sie for- mierenden Töne; jede räumliche Vorstellung umfaßt mehr als die additive Verbindung der Raumteile; ein Affekt bedeutet mehr als die ihn erregenden Einzelgefühle. Die schöpferische Persönlichkeit schafft dieses Plus. Ein Gesetz, das in der Tat viele Erscheinungen erklärt. In der Kulturgeschichte beispielsweise das Wesen der Originalität. Wer ist noch originell? Man hat das, besonders von den vergleichenden Wissenschaften aus, fast allen Genies ab- gestritten. Sie sollen nichts weiter als Epigonen und Imitatoren ihrer Vorgänger sein. Karl Marxens Lebenswerk soll bei- spielswesse nichts als ein Gefüge der Lehren Smiths, Ricar- dos, Cantes, Owens und der populären Aufklärer a la Moleschott, Feuerbach , Büchner sein. Freilich, die Be- standteile sind schon vor Marx da, ober darum fehlt noch lange nicht die Originalität. Dank Mündts Prinzip von der schöpferi- scheu Resultante wissen wir: in der Verbindung der Elemente zum Gesamtwerk zeigt sich die schöpferische Leistung. Das psychische Geschehen folgt— Mündts zweites Gesetz— dem „Prinzip der seelischen Kontra st e". Eine populär ge- wordene Weisheit. Literatur und politische Geschichte liefern all- bekannte Beispiele. Auf Cäsarismus folgt Demokratie, auf Im- perialismus Saturierung und umgekehrt. Bis in die Geschichte der Moden, der sittlichen Anschauungen, des religiösen Verhaltens läßt sich die Herrschaft dieses Gesetzes nachweisen. Wundt selbst sieht als seine bedeutendste Entdeckung das dritte psychische Gesetz an. Er nennt es„Heterogonie(Entgegen- gesetztheit) der Zweck e". Die Wirkungen menschlicher Hand- lungen reichen vielfach über die ursprünglichen Absichten hinaus. Dadurch entstehen neue Motiv«, neue Pläne, Gestaltwandlungen, neue Lebensstile. Keiner menschlichen Existenz von nur durchschnitt- lichem Lebensschwung bleibt dieser Umschlag erspart. Unser Lebens- weg biegt mehr oder minder oft von unseren Ausgangsplänen ab und zum Schluß sind wir andere Menschen, als wir ursprünglich werden wollten. Es ist ein Segen, daß auch die geistig-gefchichtliche Bewegung dem Wandel unter dem Prinzip der Zweckabbiegung ausgesetzt ist. Auf diese Weise— Wundt legt das genau in seiner „Völkerpsychologie" dar— ist Kultur entstanden und zur Entfaltung gelangt. Aus der sinnlichen Begehrlichkeit und sexuellen Willkür der Massen entstand so die Ehe: aus dem Mythus die Religion, die Kunst, die Wissenschaft: aus der täglichen Gepflogen- heit die Sitte, die Moral und das Recht: aus der Gewohnheit des gelegentlichen Schenkens und Tauschens die Wirtschaft. Wundts Lebenswerk. Zu guter Letzt bewährte sich das Prinzip der Heterogonie an Wundt selber. Er hatte sich in die Spevalwisienschaiten hineingekniet. um zur Philosophie zu gelangen. Auch die Psychologie sollte nur Durchgangsstadium sein. Sie wurde sein Lebenswerk. Schließlich hat er sich— von der Psychologie aus, speziell von der Völkerpsychologie, der marxistischen Denkweise ge- nähert. Ihre weltanschauliche Grundlage, den historischen Materia- lismus. hat er zwar abgelehnt. Indem er aber mit allem Vach - druck die Bedeutung des gesellschaftlichen Faktors in der Kulturentwicklung hervorhob, indem er darlegte, daß Phänomene wie Sprache, Mythus . Legende. Recht. Sittlichkeit. Wissenschaft als gesellschaftliche Prozesse entstehen, folgte er Karl Marx , der seinerzeit mit'der gleichen Schärfe auf dos gesellschaftliche Moment als Antriebskraft der geistig-geschichtlichen Entwicklung hinwies. Hätte sich Wundt dazu verstehen können, den ökonomischen Bedin- gungen oie Gestaltungskraft einzuräumen, welche sie wirklich hoben, so wäre die monumentale Völkerpsychologie ein Hauptwerk der marxistischen Literatur geworden.