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Arbeitsbeschaffung." Arbeitslose sollen Stummel suchen. Daß Arbeitslose heutzutage nach jedem Strohhalm greifen, ist bekannt; neuerdings sollen sie aber auch nach Zigarrenstummeln greifen. So will es ein geschäftstüchtiger Herr, der unlängst ein- fache, fleißige Leute suchte, die sich einen Neben- o e r d i e n st verschaffen wollen. Natürlich mangelte es nicht an einfachen, fleißigen Leuten, die sich meldeten, und jeder Bewerber erhielt darauf folgenden Zettel: Es werden Aufkäufer gesucht für Zigarren- und Zigaretten- stummel, die sich in allen Restaurants und Cafes usw. in mehr oder weniger großen Mengen laufend ansammeln. Erfahrungs- gemäß geben die Gastwirte diese Abfälle gern umsonst ab, wenn sie täglich abgeholt werden. Es lohnt sich aber auch, dieselben mit etwa Pf. pro Pfund zu bezahlen, wenn sie nur wöchentlich abgeholt zu werden brauchen. Der Aufkäufer erhält 15 Pf. pro Pfund und kann je nach seinem Bezirk und seinem Fleiß 50 Pfund und mehr pro Tag sammeln. Bezahlung erfolgt bei Ab- lieferung. Für die Sammeltätigkeit muß der Aufkäufer einen Rucksack oder dergleichen besitzen. Jedem Aufkäufer werden zwei bis vier der amtlichen Stadtbezirke in nächster Nähe seiner Woh- nung zugewiesen, in denen er allein sammeln kann. Es ist leicht möglich, daß der Verdienst aus dieser Beschäftigung größer ist als der Lohn eines Facharbeiters. Es können ober nur ordent- liche und pünktliche Leute beschäftigt werden. Mit Drucksachen werden Sie von hier aus unterstützt. Wenn die Sache Sie interessiert, usw...." Als Empörung kann man den Zustand nicht gut bezeichnen, in den die Arbeitslosen gerieten, als sie diesen Zettel ins Haus be- kamen. Zum anderen hätte der Mann gleich noch dosEin- jährige" für die Tätigkeit eines Stummelsuchers verlangen sollen. pachischwindel im Lunapark. Dieselben Stände doppelt und dreifach verpachtet. Mt der Idee, in dem Berliner   Lunapark im Winter pinen wiener prater" zu eröffnen, hatte der Kaufmann Kurth ganz tolle Pachtschwindeleien begangen. Kurth pachtete im August vorigen Jahres die Terrassen des Lunaparks für den Winter. Um seine Absichten zu verwirklichen, fehlten ihm alle Geldmittel. Daher inserierte er, daß er im Luna- park gute Pachten zu vergeben hätte. Dann verpachtete er die Büfetts, die Garderoben, die Lotterie st ände an Leute, die ihm bis zu 2500 Mark Pacht zahlten. Ueber die finanziell« Lage seines Unternehmens hatte Kurth falsche Aus- künfte gegeben. Da ihm die Geldmittel noch nicht reichten, ver- pachtete er dieselben Stände oft zwei- und dreimal» so daß er schließlich selbst nicht mehr Bescheid in seinen Pachtver- trägen wußte. Als der Zusammenbruch eintrat, waren die ganzen Pächter um insgesamt mehr als 10 000 Mark geschädigt. Das Schöffengericht Charlottenburg   verurteilte Kaufmann Kurth wegen fortgesetzten Betruges zu einem Jahr drei Monaten Gefängnis. Ein Mitangeklagter, der bei den Pachtschwindeleien beteiligt war und der früher ein bekanntes Vergnügungslokal an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche   besessen hatte, wurde zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Raubüberfall auf Zimmervermieierin. Der Täter von einer mutigen Frau gestellt. Ein verwegener Raubübersoll wurde in den späten Vormittags­stunden des gestrigen Donnerstag im alten Berliner   Westen auf eine Zimmeroermieterin verübt. In einer Hochparterrewohnung des Hauses Steglitzer Straße 8 wohnt seit vielen Jahren die 47 Jahre alte Helene P r e u ß, die ihren Unterhalt durch Vermieten von möblierten Zimmern bestreitet. Bis vor etwa einem Vierteljahr wohnte bei ihr ein 20jähriger Wilhelm Meyer, der, nachdem er ausgezogen war, die Wohnungsschlüssel behielt. Meyer soll nun vor zwei Tagen, also am Dienstag, wieder ein Zimmer bei Frau Preuß gemietet haben. Als er Donnerstagvormittag zwischen 11 und 1 Uhr die Wohnung betrat, sperrte er seine Wirtin in ihr Zimmer ein und entwendete dann in der Küche einen Geldbetrag von un- gesähr 200 M. Mit seiner Beute verließ er dann unauffällig das Haus und bog in die Dennewitzstraße ein. Inzwischen war Frau Preuß in ihrer Angst, der Mieter würde ihr ein Leid antun, aus dem Fenster ihres Zimmers auf die Straße gesprungen. Dabei hatte sie sich einen
Die Lüge von den Krankenkassenpaiästen Ein Mittelständler, der den Mut zur Wahrheit findet
Die Inanspruchnahme aller Kräfte und der gesamten verfüg- baren Zeit im letzten Wahlkampf hat es mit sich gebracht, daß einige in jener Zeit erschienenen Veröffentlichungen nicht die Würdigung erfahren haben, die ihnen gebührt. Dazu gehört auch ein Beitrag, den Karl Siegle in derGewerkschaftszeitung" über angebliche Mißwirtschaft in den Krankenkassen  " veröffentlicht hat. Die wich- tigsten Auslassungen Siegles seien hier zusammengefaßt. Er schreibt: Mißwirtschaft in den Krankenkassen." Unter solchen und ähn- lichen Ueberschriften findet man in einem Teil der bürgerlichen Presse Artikel, die sich mit den Neubauten von V e r w a l- tungsgebäuden einer Reihe von Allgemeinen Orts- krankenkassen beschäftigen. Es wird da u. a. behauptet, daß die Krankenkassen riesige, prunkvolle Verwaltungsbauten errichten. Darin läge eine Verschwendung von Arbeitergroschen. Die Sozial- d e m o k r a t i e, die in der Leitung der Krankenkassen überwiegen- den Einfluß besäße und sich so gern als Arbeiterpartei bezeichne, sei in der Verwaltung der ihr anvertrauten Gelder nicht vorsichtig genug gewesen. Die veranschlagten Baukosten seien fast durchweg überschritten worden. Um die aufgestellten Behauptungen zu beweisen, wird z. B. gesagt, daß der Voranschlag für das neue Verwaltungsgebäude der Allgemeinen O r t s k r a n k e n k a s s e der Stadt Berlin  mit 2,8 Millionen Mark angesetzt war, während die wirtlichen Bau- tosten 5,1 Millionen Mark betragen. Diese Behauptung ist glatt erfunden. Der Voranschlag für das neu« Verwaltungsgebäude dieser Kasse beziffert sich auf 4.8 Millionen Mark. Bisher war auch noch keine Ueberschreitung des Voranschlags bei der Vergabe von Arbeiten vorgekommen, so daß damit gerechnet werden kann, daß die endgültigen Baukosten unter dem Boranschlag bleiben werden. Wie ist es nun mit dem Einfluß der Sozialdemo- k r a t i e in den Kassenorganen? Die Sozialdemokratische Partei   hat weder mit der Entsendung der Versichertenvertreter in die Kassen- organe etwas zu tun, noch auf deren Tätigkeit irgendwelchen Einfluß auszuüben. Diese Ausgabe überläßt sie den dafür zuständigen Ge- werkschasten. Eine Verantwortlichkeit liegt nur bei den Gewerk- schaften. Aber auch die freien Gewerkschaften be- herrschen die Kassenorgane nicht allein. Die anderen Richtungen sind ebenfalls vertreten. Besonders eigenartig mutet es an, wenn in Arbeitgeber- Zeitungen, wie z. B. im Publikotionsorgan der Tischlerinnung zu Berlin  ,Das deutsche Holzgewerbe", vom 5. März 1932, in das- selbe Horn getutet wird. Einmal wissen diese Herren ganz genau,
daß auch die Arbeitgeber in den Kassenorganen mit- zuwirken haben und von ihrem Mitbestimmungsrecht recht gut Ge- brauch zu machen wissen. In den meisten der angeführten Fälle von Krankenkassen-Neubauten sind die Beschlüsse für die Errichtung von Verwaltungsgebäuden einstimmig gesaßt worden. Da ist es wenigstens erfreulich, wenn der frühere Obermeister der Berliner  Tischlerinnung, der frühere deutschnationale Reichstagsabgeordnete P a e t h, der weder der Sozialdemokratie noch den Gewerkschaften nahesteht, den Herrschaften selbst die Maske vom Gesicht reißt. In seinem Organ schreibt er seinen ehemaligen Bundesgenossen in Er- widerung auf einen ArtikelSo wirtschaften die Ortskrankenkassen" im Publitaticmsorgan der Tischlerinnung zu Berlin  ,Das deutsche Holzgewerbe", u. a. folgendes ins Stammbuch: Es zeugt deshalb von der grenzenlosen Beschränktheit und Weltfremdheit sogenannter Politiker, die in ihrem Beruf vielleicht Schulmeister, subalterne Beamte oder sonstige, im Volkswirtschafts- leben ahnungslose gute Menschen oder vielleicht auch, wie ein Herr Dr. Sch., sogenannte Nationalökonomen sind, wenn sie in häusig demagogischer Tonart über Luxus zetern, wenn hier und dort einmal es wird ja immer seltener ein behördlicher oder sonstiger größerer Bau ausgeführt wird. Es ist diesen Armen noch gar nicht zum Bewußtsein gekommen, daß unsere sieben Millionen Arbeitslose zum größten Teil des- halb arbeitslos sind, weil nicht mehr gebaut wird, und sie ahnen auch beim Schreiben ihrerhohen Politik" anscheinend gar nicht, daß, wenn der Schornstein der Wirtschaft und Produktion nicht mehr raucht, sie dann auch keine Gehälter mehr bekommen. Es ist ja auch bald so weit." Und zum Schluß:Durch die Ver- hetzung bei den Wahlen, die absolute Unkenntnis der Masse der Wähler und der nicht mit den inneren Zusammenhängen der Wirt- schaft vertrauten Bevölkerung ist es geradezu geboten, all dem ent- gegenzutreten, was die Atmosphäre nur noch weiter zu vergiften geeignet ist und uns aus dem wirtschaftlichen Zusammenbruch nicht heraus, sondern allenfalls noch immer tieser hinein bringt." Wie sieht es nun mit dem Luxus aus, der bei den Neubauten getrieben worden sein soll? Sämtliche Bauten sind in einfachem Stil geholten. Don Pracht- und Luxusbauten kann gar kein« Rede sein. Mit denBraunen Häusern" sind sie in keiner Beziehung ver- gleichbar. Wenn die Kreise, die über Mißwirtschaft in den Krankenkassen schreien, in ihren Unternehmungen, und ganz besonders bei der Er- richtung von Neubauten, dieselbe Vorsicht hätten walten lassen und das Prinzip der Sparsamkeit so streng angewandt hätten, wie es bei den Krankenkassen geschehen ist, dann wäre so manches Unter- nehmen nicht zusammengebrochen, um dann mit Hilfe des Reiches wieder in Gang gebracht zu werden.
Knöchelbruch und einen Bluterguß im Oberschenkel zugezogen. Die Passanten nahmen sich sofort der Verletzten an, jedoch tonnt« man keine Spur des Diebes mehr entdecken. Dieser war ober un- bemerkt von einer Frau Margarete R. aus der Körnerstraße ver- folgt worden, die ihn schließlich in nächster Nähe des 31. Polizei- reviers in der Kulmstraße 37, wohin man inzwischen gelangt war. festhielt und einem gerade zum Dienst gehenden Polizeihaupt- Wachtmeister übergab, der ihn zur Revierwache brachte.
Tragisches Artistenlos. Bei der Abfchiedsvorfieilung abgestürzt. Zwei Kinder tot. Mannheim  , 18. August. Bei der Abschiedsvorstellung der Seiltänzer- samilie Arank, die in Schwetzingen   gastierte, ereignete sich ein schweres Unglück. Infolge eines Rlalerialsehler«, verbunden mit der Unvorsichtigkeit eines Angestellten, brach das Gerüst zusammen. Die aus dem 12 Meter hohen Seil arbeitenden vier Personen stürzten in die Tiefe. 5rank erlitt nur leichte Verletzungen, seine zwölfjährige Tochter Zngeborg, sein elf- jähriger Sohn h or st und der 1b jährige Artistenlehrling Heinrich Tie» n e r wurden blutüberströmt vom platz getragen. Im kranken­hause sind die beiden Kinder heute nacht ihren schweren Verletzungen erlegen. Heinrich Neuner liegt mit Snochenbriichen und schweren inneren Verletzungen hoffnungslos darnieder.
Großer Wasserrohrbruch in Zohannisthal. In der Porkstraße Eck« Kaiser-Wikhelm-Straße inIohannis- thal riß gestern nachmittag plötzlich der Fahrdamm in einem Um- fange von mehreren Quadratmetern auf, eine starke Wasser- f o n t ä n« schoß an die Oberfläche und die ausströmenden Wasser- mossen überfluteten emen Teil des Bürgersteigs. Wie von der alarmierten Schöneweider Feuerwehr festgestellt wurde, war das Hauptwass erdrück rohr gerissen. Die Bruchstelle war so groß, daß gewaltige Wossermengen an die Oberfläche traten. Durch Einschalten der Sicherheitsschieber wurde das beschädigte Rohr noch einiger Zeit außer Tätigkeit gesetzt. Später traf eine Arbeiterkolonne der Wasserwerk« an der Unfallstelle ein und nahm die Auswechslung des geplatzten Rohres in Angriff. Die Arbeiten dürsten aller Bor- aussicht nach heute vormittag beendet sein. Während dieser Zeit war die Parkstraße zwischen der Johannis- und Koiser-Wilhelm- Straße für den gesamten Verkehr polizeilich gesperrt. Mehrere Häuserblocks waren durch den Rohrbruch einige Zeit ohne Wasser- zufuhren. Benzinexplosion in einer Mahnung. In einer Wohnung in der Müllerstroß« 155 ereignete sich gestern nachmittag beim Hantieren mit Benzin eine Explosion. Die Wohnungsinhaberin erlitt er- hebliche Verletzungen. Samariter der Feuerwehr leffteten der Verunglückten erste Hilf«. Das Feuer, dos durch eine Stich- flamme entstanden war und sich auszubreiten drohte, tonnte schnell erstickt werden.
Gerhart Herrmanr» Mostar  :
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Änfat
Sic nahmen die Bahre wieder auf, Gleichgültige, Freunde und Feinde, und trugen sie über den Feldweg zum Friedhof. Zwischen den halbmannshohen runden Steinen wanden sie sich hindurch, die sehr eng standen: einige davon waren beschrieben mit den Namen der Toten, darunter ruhten Männer, andere waren ohne Namen und bargen Frauen: alle aber waren mit ihrem runden Kopf, der oft einen Turban nachahmte, nach Osten geneigt, gen Mekka  . Für Hassan war eine Grube gegraben, so lang wie breit, tief und schmal. Sie ließen ihn so hinunter, daß er saß, das Gesicht nach Osten gewandt, wie all die Steine ringsum. Ein weißes Tuch hüllte ihn ein, nichts sollte ihn von der Erde trennen, kein Holz, kein Eisen, nur dies dünne weiße Tuch. Dann fiel die Erde von den Schaufeln auf seinen Leib, es polterte nicht, es schlug nur leise auf. Niemand mehr würde an sein Grab treten: kein Rechtgläubiger besucht einen Fried- hos, es sei denn, um zu begraben: kein Rechtgläubiger pflanzt Blumen auf ein Grab. Denn der Tod ist von Allah  , und Allah   will, daß er auslösche, was lebte: darum soll der Mensch nicht klein machen wollen, was groß ist, und nicht ewig, was vergänglich ist. Deshalb verfallen die Gräber, neigen sich die Steine, wenn sie eine Zeit gestanden haben, und fallen und liegen im wilden Gras: niemand aber darf die Stätte ein- ebnen, niemand dort ackern oder bauen: denn das Grab ist Allahs  . Wie der Boden geglättet ist, wenden sie sich ab, und wie sie wieder auf der Straße stehen, lachen sie sich an. Es ist ver- boten, zu weinen und zu klagen, es ist befohlen, froh zu sein nach dem Begräbnis: denn Allah   will, daß die Toten tot feien und daß die Lebendigen leben. II. Ich war nun schon lange wieder unterwegs. Ich hatte guten Berdienft gefunden und schlechten, ich hackte Koffer ge-
tragen in den Städten und Mais geerntet in den Dörfern. Weit hinter mir lagen die Berge und die Hirten, die Schafe und der Wolf. Mit einemmal trugen die Feigenbäume schon ihre zweite Frucht: Herbstfrucht, und mit einemmal legte sich nächstens die feuchte Hand des Winters auf meine heiße Stirn. Die Balkannächte waren immer kalt gewesen: jetzt wurden auch die Tage kälter und kälter. Der Winter spielte mit mir wie die Katze mit der Maus: schlug manchmal spiele- risch nach mir mit Graupeln und Hagel, wie mit taufend kleinen, scharfen, schmerzhaften Krallen, nahm mich manchmal stundenlang in sein großes Nebelmaul, brachte nachtüber mir Wunden bei mit seinen Frostzähnen. Ach, man muß wohl froh sein, ein Dach über dem Koos zu haben in solcher Zeit; und wer ein gut Dach über sich yat, der soll nicht dem Wirt unter den Hut sehen... So sitze ich denn seit Stunden dem Ingenieur des großen Sägewerks gegenüber und höre mir seine Reden an, die mir widerwärtig sind. Niemand wird so schnell ungeistig wie ein ursprünglich geistiger Mensch, den das Schicksal unter lauter Ungeistige wirft. Auf der Universität war er vielleicht ein ganz netter, gutmütiger Kerl(gutmütig ist er übrigens ge- blieben, er hat mir zwar keine Arbeit im Werk geben können, aber er will mir Gastfreundschaft gewähren für alle noch kommenden Winterwochen, wie herrlich!) er hat das Trinken und die Frauen so mitgenommen wie die meisten seiner Kommilitonen; nun aber sitzt er seit Jahren in diesem einsamen Werk, als einziger geschäftlicher und technischer Leiter, jährlich einmal zwei Wochen Ferien, die er in der Stadt verbringt und die ihm nur zeigen, daß er die Stadt und ihn die Stadt nichts mehr angeht: da wird der Genuß zum Inhalt, da rückt das in den Mittelpunkt, das Trinken und die Frauen. Davon erzählt er nun, besonders vom zweiten; fein Ge- ficht ist rot vom Wein, seine dick gewordenen Lippen triefen etwas, sein Nacken wirft Wellen.  Im Anfang war das trost- los hier mit den Weibern  ", berichtet er.Keine zu kriegen! Noch die alte Hirten- und Bavernmoral, verstehen Sie? Aber dann kamen die Mädchen an die Maschinen, da trugen sie zunächst mal andere Kleider, leichtere... da wurden nach den zehn Stunden an der Maschine die lauen Abende wichtiger, die Liebe vor allem wurde wichtiger, die Mädels vernünf- tiger. Wozu auch alles so schwer nehmen, das Leben ist
schwer genug, verdiene ich Lohn, verdiene ich auch Liebe haben ja recht, die Käfer!" Er trinkt, er schwatzt.Sehen Sie, da haben wir zum Beispiel jetzt eine Arbeiterin, erst vor ein paar Monaten hier hängen geblieben, als ihre Familie mit ihrer Schafherde durchzog wissen ja, im Winter begeben sich alle diese Nomadenfamilien an ihren Stammsitz irgendwo im südlichen Balkan  . Na, sie hatte ein uneheliches Kind, da haben sie die Alten wohl getriezt, wissen ja, wie diese alten Leute so sind... da ist ihr's wohl zuviel geworden, und sie hat um Arbeit angefragt, habe sie natürlich sofort eingestellt." Ich werde traurig: denke an meine Hirtenzeit, an Hassan Chardans Tod und an Anjas Heldentum, könnte auch Anjas Schicksal sein, so was, wenn ihr Vater nicht so gutartig wäre... mein Gott, diese Tage damals voll Sonne. Schaf- dunst und Bergwind und Geradheit und Selbstverständlich- keit, und so ein Naturkind soll dann hinunter ins stickige Tal, in die staubgrauen Maschinenräume... Tadelloser Kerl, die Frau. Arbeitet gewissenhaft, pflegt ihr Kind, daß es eine Art hat, und weiß doch zu lieben! Kommt übrigens heute abend zu mir, Sie werden sie ja sehen... hübscher Kerl, werden Sie auch sagen... na, ich bin ja auch nett zu ihr, schenke ihr reichlich, sasa...!" Er summt vor sich hin. Mich packt die Scham. Darum widerspreche ich ihm nicht, aber ich darf ja nicht, draußen wartet der Winter, vor dem nur er mich schützt, ich bin ja abhängig von ihm. Das ist das Furchtbarste am Vagabundentum, dies Mit-den-Wölfen- heulen-müssen, dies Abhangigsein vom Gastgeber, wer dieser Gastgeber auch sein mag, das ist das Sklaventum, mit dem die Freiheit erkauft wird, und das verdirbt auf die Dauer den Charakter. Ich weiß es wohl, und ich kann es nicht ändern, ich bin auch schon ein gewissenloser Lump. Es klopft stark an die Tür. Eine Frau tritt ein, derb, hoch, in städtischem Mantel, unter dem ein grellroter Jumper leuchtet. Der Ingenieur springt auf, gibt ihr einen schallenden Kuß, ich wende mich ab. Die Frau sieht mich, macht sich los, schreckt zurück, ich werde aufmerksam, sehe ihr ins Gesicht erschrecke auch wie konnte ich das nur nicht gleich sehen, der Mantel, der Jumper waren wohl schuld daran, aber jetzt weiß ich: Anja...!(Fortsetzung folat)