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Er. 403 49. Jahrgang

2. Beilage des Vorwärts

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Trautes Heim Glück allein. Die Fa- milie ist beisammen. Vater, Mutter und Tochter. Sie trinken Kaffee. Hausmischung: ein Viertel Bohnen, ein Viertel Zichorie, ein Viertel Gerste, ein Viertel Karlsbader Kaffeegewürz. Das Getränk sieht braun aus, ist heiß, schmeckt scheußlich und wird widerstandslos getrunken. Von Herrn Krön wegen der Nieren und wegen der Sparsam- keit, von Frau Krön wegen des Herzens und wegen der Sparsamkeit, von Gilgi aus Re- signation. Außerdem ist bei allen dreien der Widerstand durch Gewohnheit gebrochen. Alle drei essen Brötchen mit guter Butter. Herr Krön(Karneoalsartikel en gros) ißt als einziger ein Ei. Dieses Ei ist mehr als Nahrung. Es ist Symbol. Eine Konzession an die männliche Ueberlegenheit. Ein Mon- orchenattribut, eine Art Reichsapfel. Keiner spricht. Jeder ist stumpf beflissen mit sich selbst beschäftigt. Der vollkommene Mangel an Unterhaltung kennzeichnet das Anständige, Legitimierte der Familie. Das Ehepaar Krön hat sich ehrbar bis zur silber- nen Hochzeit durchgelangweilt. Man liebt sich und ist sich treu, eine Tatsache, die zur Alltäglichkeit geworden, nicht mehr besprochen und empfunden werden braucht. Sie ruht wohloerpackt und etwas angegilbt zusammen mit dem Hochzeitssilber irgendwo in dem Büfett aus dem neunzehnten Jahrhundert. Die Langeweile ist die Gewähr für das Sta- bile ihrer Beziehungen, und daß man sich nichts zu sagen hat, macht einander unver- dächtig. Herr Krön liest imKölner Stadt- anzeiger ". Seine rotbraune, leidlich gepflegte Rechte führt in regelmäßigen Intervallen die Kaffeetasse zum Mund" Sein rundes, frischfarbenes Gesicht hat den betroffenen und sorgenvollen Ausdruck, den der Gewohn- heitszeitungsleser anzunehmen hat. Ein an- ständiger Mensch kann unmöglich ein ver- onügtes Gesicht machen wenn er liest: Polni- fche Infanteristen auf deutschem Boden. Schweinerei sowas.Europäisches Manifest": Briand legt der Schlußsitzung des Europa - ousschusses eine Kundgebung für den euro - päischen Frieden und Wiederaufbau vor. Die nachfolgende Ausführung begreift Herr Krön nicht ganz, ein Grund, doppelt sorgenvoll zu blicken. Kann man Briand trauen. Man kann keinem trauen. Weiter: Skandal im Haushaltsausschuß. Edelstein­schmuggel nach Polen Zeugenaufmarsch im Tausend-Prozeß Raubübersall auf ein Buttergeschäft. Lauter unerquickliche Sachen. Weiß der Himmel, daß der gute Zeitungs- leser aus gesundheitlichen Rücksichten trau- rige Nachrichten mit düsterer Befriedigung aufnehmen und ver- dauungsanreaend auf sich wirken lassen muß. Weitere Kruschcnsalz- Berichte: Der Bischof von Leitmeritz gestor- den Wieder ein Waffenlager aufge- deckt und hier... Herr Krön liest laut, mit einer Stimme, die abendlichen Biergenuß verrät:Trajödic auf der Treptower Brücke, 'ne Frau is mit ihrem Kind ins Wasser je- sprunqen". Beide tot?" fragt Frau Krön beinahe hoffnungssroh. Nicht aus Rohherzigkeit. Sie spürt nur das mit- leidsvolle Gruseln, das ihr Todes- und Skan- dalbotschaften verur- sachen. Die Mutter Hann se jerettet, berichtet Herr Krön. Er spricht unverfälschten kölni- sehen Dialekt, teils aus Lokalpatriotismus, teils aus Geschäftsinteresse. Mutter gerettet. Kind tot. Frau Krons mitleidsvolles Gruseln halbiert sich und hinterläßt Unbefriedigtsein. Ausgleichsuchend oertieft sie sich in die An- noncenbeilage. Inventurausverkauf. Uedings Schuhe unsere Schaufenster sagen alles. Teppichburfch die drei letzten Tage Qualitätsware. Frau Krön liest. Sie ist breit und zerflossen. Das Fleisch ihrer Arme und Brüste ist ehrbar schlaff und mude. Sie ist grau und reizlos und hat nicht den Wunsch. anders zu sein Sie kann es sich leisten zu altern. Ihr dunkelblaues Wollkleid hat hell- rauen Kragen- und Manschettenaufputz. .den am Halsausschnitt steckt eine eisen- heinerne Brosche Rudimente der Eitelkeit.

Sie sitzt auf dem grünen Plüschsofa, liest im Annoncenteil desKölner stadtanzeigers", stippt mit dem breiten, fleischigen Daumen Brötchenkrllmel vom Tisch, die sie abwesend zum Mund führt. Ueber ihr reckt Washington seine Fahne von der normalen Größe eines Bettlakens. Mit eiligen, aber unhastigen, leichten Be- wegungen trinkt Gilgi eine Tasse Kaffee, ißt ein mager gestrichenes Brötchen man will doch nicht dick werden zündet sich eine Zigarette an, macht drei, vier, fünf Züge. drückt die Zigarette auf der Untertasse aus und erhebt sich. Tschö, Vater". Tschö, Iilgi." Herr Kran hebt den Kopf, will etwas sagen, irgend etwas Freundliches. Interessevolles, er klappt den Mund auf: es fällt ihm nichts ein. Er klappt den Mund zu und läßt den Kopf wieder sinken. Tschö, Mutter." Gilgi streicht ihr flüchtig über die speckige Schulter und geht aus dem Zimmer. Iilgi", ruft es hinter ihr her, ,. kommst? heut' nachmittag nich mit zum Kaffee zu Ieißlers?" Frau Krön ist gebürtige Ham- burgerin, ahmt aber aus ehelicher An- pasiungssucht mit gutem Willen und schlech- tem Erfolg den rheinischen Dialekt ihres Mannes nach. Keine Zeit", ruft Gilgi und klappt die Flurtür hinter sich zu. Nein, sie hat keine Zeit zu verlieren, keine Minute. Sie will weiter, sie muß arbeiten. Ihr Tag ist vollgepfropft mit Arbeiten aller Arten. Eine drängt hart an die andere. Kaum, daß hier und da eine winzige Lücke zum Atemholen bleibt. Arbeit. Ein hartes Wort. Gilgi liebt es um seiner Härte willen. Und wenn sie einmal nicht arbeitet, wenn sie sich einmal Zeit zum Jungsein, zum Hübschsein, zur Freude schenkt dann eben um der Freude, um des Vergnügens willen. Arbeit hat Sinn, und Vergnügen hat Sinn. Mit der Mutter zum Kaffeeklatsch gehen, wäre weder Vergnügen noch Arbeit, sondern sinnlos verschwendete Zeit. Es gibt nichts. was Gilgi mehr gegen Natur und Gewissen geht. Gilgi sitzt in der Straßenbahn. Eigentlich wollte sie zu Fuß gehen, hat aber keine Zeit mehr dazu. Neben ihr, vor ihr die Reihe der Angestellten. Müde Gesichter, verdrossene Gesichter. Alle sehen einander ähnlich. Gleich- heil des Tageslaufs und der Empfindungen hat ihnen den Serienstempel aufgedrückt. Je- wand zugestiegen sonst noch jemand ohne Fahrschein? Keiner tut gern, was er tut.

Ihr Jungen, ihr unter dreißig, habt auch ihr nur dieses hoffnungsarme Frühmorgen- gesicht. Morgen ist Sonntag. Werden da nicht am Nachmittag kleine Wunschbilder in euren Augen brennen? Nicht wahr, junger Mann, man kauft sich nicht so eine schöne, strahlend gelbe Krawatte, wenn man nicht heimlich glaubt, eines Tages Chef mit Prioatauto und ausländischem Bankguthaben zu sein? Braves Fräulein aus guter Fa- milie. nicht wahr, Sie würden die bunte Halskette nicht umbinden, wenn Sie nicht wünschten, daß einer kommt, der findet, daß sie Ihnen hübsch steht? Kleiner Rotkopf, hättest du die zwanzig Mark für die Dauer-

'ttmrten Sie".|'a«(;Äerr'.Reuirr. wellen ausgegeben, wenn du nicht von Schön- heitskonkurrenz und Filmengagement träum­test? Auch Greta Garbo ist einmal Verkäufe- rin gewesen. Fahrt ins Geschäft. Tag für Tag. Wird etwas kommen, was das Gleich- maß der Tage unterbricht? Was? Der Douglas Fairbanks , der Lotteriegewinn, das Filmengagement, die märchenhafte Beförde- rung, der Sterntalerregen vom Himmel? Wird das kommen? Nein. Keine Aussicht auf Wechsel und Unterbrechung? Doch. Welche? Krankheit, Abbau, Erwerbslosig- keit. Aber man fährt ja noch. Wie gut. Gilgi sieht aus dem Fenster. Die Trost- losen da im Wagen nein, sie hat nichts mit ihnen gemein, sie gehört nicht zu ihnen, ich will nicht zu ihnen gehören. Sie sind grau und müde und stumpf. Und wenn sie nicht stumpf sind, warten sie auf ein Wunder. Gilgi ist nicht stumpf und glaubt an kein Wunder. Sie glaubt nur das, was sie schafft

Sonnabende 27. August 1932

und erwirbt. Sie ist picht zufrieden, aber sie ist froh. Sie verdient Geld. Ihr da im Wagen, freut ihr euch denn nicht? Wir sind so müde. Aber ihr oerdient doch Geld? Es ist so wenig. Ihr könnt aus dem Wenigen mehr schaffen. Das ist so schwer. Darum ist es schön. Es ist nicht schön. Die Zeiten sind schlecht. Keiner ist gern, was er ist. Keiner tut gern, was er tut. Ist denn keiner von euch so jung wie ich, freut sich keiner wie ich? Doch. Ein zwei drei Gesichter. Junge, straffe Züge, harte, kleine Stirnfalten, un- ternehmungsbereites Kinn, wache Augen. Gilgi umschließt mit der Hand die äußere Kante ihres Koffers. Hart und fest. Die knappe, kleine Bewe- gung ist ein Hände- druck. Also doch! Nicht ich sondern wir. Wir! Sie hebt den Kopf und hat frohe Augen. Du du du und ich: wir werden es schaffen. Tick-tick-tick- rrrrrr bezugnehmend aus Ihr Schreiben vom 18. ds____ tick-tick-tick rrrrrrr... einliegend überreichen wir Ihnen ... tick-tick-tick... im Anschluß an unser gestriges Telephongespräch teilen wir Ihnen mit... Die Stenotypistin Gilgi schreibt den neunten Brief für die Firma Reuter und Weber, Strumpfwaren und Trikotagen en gros. Sie schreibt schnell, sauber und fehler- frei. Ihre braunen, kleinen Hände mit den braven, kurznäglig getippten Zeigefingern gehören zu der Maschine, und die Maschine gehört zu ihnen. Tick-tick-tick rrrrr... die Stenotypistin Gilgi geht zum Chef und legt ihm die Briefe zur Unterschrift vor. Warten Sie", sagt Herr Reuter, liest jeden Brief, um dann mit etwas verlogener Energie seinen Namen unter das getippte Hochachtungsvoll zu hauen. Gilgi wartet. Die bleiche Wintersonne malt Kringel auf den gelben Rollschrank, den rauhhaarigen Kork - leppich und auf Herrn Reuters eiförmigen Plüschkopf.(Fortsetzung folgt.)

Mw. ona Herr! Wiener Fremdenverkehrsszene/ von Ludwig Hirscnieid

Tick lieh lieh rrrrr bezugnehmend auf'Jhr... Keiner ist gern, was er ist. Kleine Blasse mit den hübschen Beinen, lägst du jetzt nicht lieber im Bett und schliefst dich aus? Braunes Mädchen mit den Wandervogelschuhen, scheint ein schöner Tag heute zu werden würdest du nicht lieber im Stadtwald spa- zieren laufen und die zahmen Rehe mit den Kastanien füttern, die du im Herbst gesam- melt hast? Sonst noch jemand ohne Fahrschein sonst noch jemand ohne Fahrschein? Sie fahren ins Geschäft. Tag für Tag ins Ge- schüft. Ein Tag gleicht dem andern. Klinge- iingling man steigt aus, man steigt ein. Man fahrt. Fährt und fährt. Achtstunden- tag, Schreibmaschine, Stenogrammblock, Ge- Haltskürzung. Ultimo immer dasselbe. Gestern, heute, morgen und in zehn Iahren.

Der Fremde aus Norddeutschlond kommt mit seiner Tochter des Weges, verfolgt van einem Chauffeur, der zwei Geldstücke auf der gering- schätzig vorgestreckten flachen stand trägt. Chauffeur(drohend-gemütlichi: Aber, gnn sterr, dös soll a Trinkgeld sein? Fremder: Ich kann Ihnen keine Lebensrente auswerfen. Chauffeur: Für zwanzg Groschen kann i mir ja net omal a Viertel Wein kaufen. Fremder: Um so besser. Ein Chausseur soll nüchtern sein Chauffeur splötzlich unwirsch): A so a Schmutzerei war no net da! Fremder: Was erlauben Sie sich?... Gott sei Dank, ein Schutzmann. Sagen Sie, sterr Schutzmann, 2t> Groschen Trinkgeld, das ist wohl reichlich? Schutzmann: Für einen Einheimischen, aber in der Fremdensoison...(Er winkt dem Chauffeur, der, van Groll und Menschenver- achkung erfüllt, abgeht.) Fremder: Unglaublich, was einem hier zu- gemutet wird. Tochter: Und man versteht die Leute nicht. Kein Mensch spricht hier Deutsch . Fremder: Da fragt mich der Träger bei der Ankunft, ob ich den großen Buchstaben I besitze das ist wohl so etwas, wie das Zitat ausGötz"? Schutzmann: Aber nein. Der Träger hat sie gefragt:stabns a großes a?" Er hat das große Gepäck gemeint. Fremder: Für die hiesige Bevölkerung ist offenbar eine Gebrauchsanweisung nötig. Zum Beispiel beim Telephon. Ich werde angerufen, frage:Wer spricht?" Antwort: Momenterl." Ich frage nochmals:Wer spricht?" Wieder:Momenterl." Dabei kenne ich in ganz Wien keine Person oder Firma dieses Namens. Schutzmann: Das Fräulein hat gemeint: einen Augenblick. Fremder: Ach so darum hat sie mich also zehn Minuten am Apparat warten lassen---- Schutzmann: Wenn der sterr noch Beschwer- den hat, bitte nur eine jchrislliche Eingabe

zu machen. Mit einem Schilling Stempel. lEntsernt sich.) Fremder: Danke. Für den Schilling ärger« ich mich lieber mündlich... Sieh dir ein- mal diese schwankende Gestalt an. Ein Mann(defekt gekleidet, unrasiert, blaue Schürz«, umgehängtes Blechgesäß): Küß d' stand, gnä sterr! Fremder: Schade um Ihr« Bemühung. Bei mir Wassermangel. Pumpversuche zwecklos. Mann: A Kleinigkeit, gnä sterr. I Hab heut no net amal g'fruostuckt. Tochter: Gib dem armen Mann doch etwas für eine Taste Kaffee. Fremder(reicht ihm Geld): In Gattes Namen. Mann: Zwanzg Groschen? Aber, gnä sterr, dafür krieg i ja net amal a Viertel Wein. Fremder: Die ganze Bevölkerung rechnet in Viertel Wein. Das scheint die österreichische Währung zu sein.... Sie werden dach nicht schon am Vormittag Alkohol zu sich nehmen? Mann: I fruastuck immer nur an Wein oder a Bier. Tochter: Und in diesem Gefäß holen Sie sich wohl Ihr Esten? Mann: Aber na, dös Reindl ghört fllrn stansel. Fremder: stansel? Ach so, Tierfreund. Sie haben wohl einen Kanarienvogel? Mann(grob): I Hab kan, aber habn an Vogel, weils so bled fragen. Fremder: Nu Hab ich aber genug. Schutz- mann! Schutzmann: Was ist denn schon wieder? Rufe(der Passanten, die sich teilnahmsvoll an- gesammelt haben): Was ist denn geschehen? ... I glaub, a Kanari is auskommen... Na, a Taschel hat er zogn... Gstochen habns ein... Schutzmann(faßt den Mann beim Arm): Gebettelt? Kommens mit aufs Kommissariat! Mann: Auslassen! I bin o Wähler... Schutzmann: Die sterrschasten mästen mit- kommen als Zeugen. Fremder: Der Mann ist wohl ein gewerbs- mäßiger Fechtbruder?.