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Morgenausgabe

Лr. 461

A 225

49. Jahrgang

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Teils

09

Vorwärts

Berliner   Boltsblatt

Freitag

30. September 1932 Groß- Berlin 10 Pf. Auswärts 15 Pf.

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlan

Redaktion und Berlag: Berlin   SW 68, Lindenstr. 3 Fernspr.: Donhoff( A 7) 292-297. Telegramm- Adr.: Sozialdemokrat Berlin  .

Pflicht zum Widerstand!

Gegen notverordneten Lohnabbau!

Von Fritz Tarnow  .

Das Kabinett Bapen regiert ohne Parlament. Nach eigenem Gutdünken macht es Geseze von weittragender Be­deutung, fällt selbstherrlich Entscheidungen in den ver­mideltsten Fragen ökonomischer und sozialer Natur. Es ist eine ungeheuer schwere Verantwortung, die diese Regierung auf sich genommen hat, viel schwerer als sie einer parla mentarischen Regierung zufallen fann.

Empfindet das Kabinett der Barone die besondere Schmere seiner Verantwortlichkeit? Sind sich seine Minister, die die Mithaftung des Parlaments glauben entbehren zu die die Mithaftung des Parlaments glauben entbehren zu können, der hohen sittlichen Pflichten bewußt, die sich im besonderen Maße aus ihrer Art des Regierens er­geben? Prüfen sie mit gesteigerter Gewissen haftigkeit alle Konsequenzen ihrer gesetzgeberischen Aktionen, bevor sie sie ins Werf sezen?

Die Notverordnungen vom 4. und 5. September, der jogenannte, Wirtschaftsplan", mit den unerhörten Eingriffen

in die Lohn- und Tarifrechte der Arbeitnehmer hat sich sehr schnell als ein Musterbeispiel liederlicher Ge= feggebungsarbeit entpuppt. Wohl noch niemals hat ein Gesetz so schnell und in solcher Fülle Ausführungsvor­schriften erfordert, mit denen, bisher vergeblich, versucht wird, die Unklarheiten des Gesetzes auszumerzen, es für den praf­tischen Gebrauch herzurichten.

Vorwärts- Verlag G. m. b. H.

Möglich, daß die Regierung nicht alle Konsequenzen ihrer Verordnung übersehen hat. Heute aber steht schon fest, daß zum allergrößten Teil die Einstellungsprämien gewährt und die Lohnfenfungen den Beschäftigten abgeschunden werden, ohne daß der behauptete Zweck der volkswirtschaft­lichen Mehrbeschäftigung damit erreicht wird. Trotzdem tönnen die Vorschriften des Gesetzes restlos erfüllt sein.

Ein typischer Fall: Ein Unternehmer beschäftigt 100 Ar­beiter mit einem durchschnittlichen Tariflohn von 80 Pf. auf Grund der Notverordnung stellt er 25 Jugendliche mit einem durchschnittlichen Tariflohn von 20 Pf. ein. Er darf daraufhin Lohnabzüge im Gesamtbetrage von 400 m. wöchentlich vornehmen, während der gesamte Wochenlohn für die neu Eingestellten nur 200 m. beträgt. Dazu be­kommt der Unternehmer aber auch noch die Einstellungs prämien, die, auf die Woche umgerechnet, 191 M. ausmachen, enn die neu Eingestellten überhaupt nicht beschäftigt wür Wenn den und ihren Tariflohn für Nichtstun bekämen, hätte der Unternehmer einen reinen Verdienst von 391 m. in der Woche! In diesem Falle allerdings würde vielleicht der Schlichter Einspruch erheben, weil der Sinn der Verord nung" nicht erfüllt ist. Natürlich wird auch ohnedem der Unternehmer die neu Eingestellten arbeiten lassen, und wenn

Postscheckkonto: Berlin   37 536.- Bankkonto: Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten, Lindenstr. 3. Dt. B. u. Disc.- Ges., Depofitent., Jerufalemer Str. 65/66.

sie ihm nur jeder 10 M. wöchentlich Arbeitswert einbringen, steigert sich sein Verdienst ohne jede Gegenleistung auf 591 M. in der Woche.

Heißt ein Geschäft! Die Unternehmer müßten mit einem Male alle Luft an sicheren und risikofreien Gewinnen ver loren haben, wenn sie nicht in diesem Sinne die Verord­nung ausnügen würden, statt sich auf das sehr zweifelhafte Geschäft einzulassen, in einem Augenblick zur Mehrpro­duktion von Gütern überzugehen, in dem durch den ,, Wirt­schaftsplan" die Massenkaufkraft und die Absatzmöglichkeit gedrosselt werden.

Die Arbeiter in den Betrieben sehen die Ungeheuerlich­feit dieser Lohnabbauaktion deutlicher als die Regierung am grünen Tische. Die grenzenlose Empörung über die Sinnlosigkeit des ihnen zugemuteten Opfers muß sie zur äußersten Erbitterung treiben. Hier liegt ein elemen= tarer und sittlicher 3wang zum Widerstande vor, der durch keine Gewaltmaßnahmen der Regierung beseitigt werden fann.

Wenn das Kabinett Papen   nicht von allen guten Geistern verlassen wäre, müßte es selbst den Fehlschlag seiner Kon­struktion begriffen haben. Doch wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit.

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100 Tote in sechs Wochen!

Schnell fertig mit dem Gesez waren die Minister. Aber Eine amtliche Nachweisung über die Opfer der Papen- Wahl.- 155 politische

ihre Ressorts, die nun für die Durchführung sorgen sollen. verzweifeln schier an dieser Aufgabe. Zu viel Unsinnigkeiten enthält das Gesez, gegen die sich nicht nur der gesunde Menschenverstand aufbäumt, sondern die auch in der tech nischen Handhabung jeder vernünftigen Regelung wider streben.

Der Reichspräsident ersucht den Kanzler, bei der Ausarbeitung der einzelnen Bestimmungen insbesondere darauf zu achten, daß die Lebens haltung der deutschen   Arbeiterschaft gesichert und der soziale Gedanke gewahrt bleibe."

So hieß es in der Botschaft aus Neudeck am 30. August. Das Präsidial"-Kabinett begründet staats­rechtlich seine Macht aus dem Auftrage des Reichspräsi­ denten  . Die Botschaft vom 30. August enthielt eine deut liche Anweisung an das Kabinett, das im Namen Hindenburgs regiert. Es ist zweifelsfrei festzustellen, daß diese Anweisung nicht durchgeführt worden ist, ja, daß nicht einmal der gute Wille vorhanden war, ihr auch nur die geringsten Konzessionen zu machen.

War es vielleicht eine höhere Gewalt", die Rücksicht auf übergeordnete Gesamtinteressen, auf die viel berufenen Notwendigkeiten der Wirtschaft", die die Regierung zwang, das Versprechen des Reichspräsidenten zu mißachten?

Todesopfer seit 1. Januar 1932.

Der Amtliche Preußische Pressedienst veröffentlicht eine statistische Uebersicht über die Todesfälle bei politi schen Ausschreitungen im Jahre 1932 in Preußen.

Vom 1. Januar 1932 bis zum 23. September sind in Preußen insgesamt 155 Menschen im politischen Kampfe ums Leben gekommen. In nahezu sechs Monaten vom 1. Januar bis zum 20. Juni sind 47 Todesopfer gefallen, in den Wochen vom 20. Juni bis zum 31. Juli aber allein 100 Zobesopfer! Nach dem 1. Au­gust sind dann noch 8 Menschen bei politischen Zusammen stößen ums Leben gekommen.

In der Zeit vom 1. Januar bis zum 20. Juni haben drei Wahlen stattgefunden, die Preußenwahl und zwei Wahl gänge der Präsidentenwahl. Der Wahlkampf war bei diesen drei Wahlen überaus heftig und blutig, indessen ist es der preußischen Regierung gelungen, die terrorlustigen Elemente einigermaßen in ihren Grenzen zu halten.

Mit dem Beginn des vierten Wahlkampfes nach

der Auflösung des Reichstags durch das Kabinett Bapen wurde das Experiment der Aufhebung des Demonstrationsverbots und des Uniformverbots im Zusammenhang mit der Aufhebung des SA Berbotes unternommen.

Die Aufhebung dieser Verbote leitete den schrecklich­sten Wahlkampf ein, den es in Deutschland   jemals ge­geben hat. Sechs Wochen Wahlkampf haben 100 Todesopfer erfordert, mehr als doppelt soviel als die

drei vorangegangenen Wahlkämpfe.

Der notverordnete Mechanismus, der die Lebenshaltung der deutschen   Arbeiterschaft, statt sie zu sichern, ganz erheblich herunterdrückt, besteht in der Hauptsache aus den Lohn fenfungsvorschriften bei Neueinstellungen. Die deutschen   Unternehmer sind wahrhaftig nicht gerade schüchtern in ihren Wünschen nach staatlicher Hilfe bei dem traurigen Gewerbe des Lohndruds. Aber gegen das hier angewandte Verfahren sind auch aus dem Unternehmerlager vielfach Einsprüche erhoben worden. Natürlich nicht wegen sozialer Strupel, sondern aus Gründen der gesamtwirtschaft­lichen Ordnung. Die gut beschäftigten Betriebe im Gegen­satz zu den schlecht gestellten mit erheblichen Staatssubventio­nen aus allgemeinen Steuermitteln prämiieren, ihnen außer dem das Recht einräumen, niedrigere Löhne zu zahlen als die schlecht beschäftigten Betriebe, dem siegreichen Kon­furrenten zu seinem Erfolge noch staatliche Geldgeschenke in die Tasche stopfen, dem geschlagenen Konkurrenten höhere Lohnverpflichtungen auferlegen wie wäre denn auch ein Ein Rückgang des politischen Terrors zeigt sich erst nach der solcher Widersinn mit den Gesetzen der kapitalistischen   Kon- wahl vom 31. Juli und besonders nach der Not verordnung turrenzwirtschaft noch zu vereinbaren! über Sondergerichte und über die Androhung der Todes strafe. Wie weit hier die Verordnung, wie weit die Abspannung nach der Wahl und die politische Schwentung der Nationalsozialisten ge­wirft hat, entzieht sich der Nachprüfung.

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Wie sollen nun aber erst die Arbeiter begreifen, daß das ihnen auferlegte Opfer überhaupt einen Sinn hat? Wie fann man ihnen zumuten, ohne Widerstand auf und unter die Hungerlinie herabzusteigen, wenn sie das absolut sichere Bewußtsein haben müssen, daß damit außer der Profitgier ihres Unternehmers niemandem gedient ist? Woher nimmt der Staat das moralische Recht zu solchen Maßnahmen, die von jedem rechtlich Denkenden als unfittlich empfunden werden müssen, in denen die betroffe­nen Arbeiter jedenfalls nur die soziale Drang falierung als Selbstzwed begreifen können?

Es ist eine traurige Bilanz, und nichts kann von der eindeutigen Sprache der Zahlen ablenken! Eine amtliche Berlautbarung der preußischen kommissarischen Berwaltung macht einen schüchternen Berjuch, den Gewaltstreich vom 20. Juli und die Einsetzung eines Reichstommiffars in Preußen als ein geeignetes Mittel zur Be­fämpfung des politischen Terrors hinzustellen. Dieser Versuch, von der eindeutigen Sprache der statistischen Ziffern abzulenken, findet weder in den Tatsachen noch in der Statistik über die Tatsachen eine Stüße.

Die Tatsache aber steht fest: die Befürchtungen der vorhergehenden Reichsregierung wie der preußischen Regierung und der großen Länderregierungen über die Wirkung einer Aufhebung des Uniformverbots sind durch die Tatsachen bestätigt worden.

Die amtliche Statiſtif lehrt, mie außerordentlich stark die vor­| hergehende Reichsregierung gegenüber dem Robinett Papen   ge­

rechtfertigt dasteht. Das Kabinett Bapen hat das deutsche   Volk mit einem unnötigen und schredlichen Wahlkampf be laftet, der 100 Todesopfer erfordert hat, ohne daß die Verhältnisse in Deutschland   dadurch besser oder flarer geworden wären!

Folgt man der amtlichen Statistik über die Parteizugehörigkeit der Todesopfer, so ergibt sich, daß 70 Nationalsozialisten, 54 Kommunisten, 10 Angehörige der Eisernen Front und 21 Sonstige durch den politischen Terror getötet worden sind. Dabei ist zunächst festzustellen, daß die Todesopfer der Eisernen Front ausnahmslos alle nach der Auf= he bung des Uniformoverbots und dem Wiederauftreten der SA. gefallen sind.

Aber diese amtliche Statistik über die parteimäßige Verteilung der Todesopfer ist falsch.

Wir weisen auf zwei Punkte besonders hin. Die amtliche Einzel­nachweisung führt unter dem Datum des 17. Juli 16 national­sozialistische Tote in Schleswig- Holstein   auf. Am 17. Juli war der Altonaer Blutsonntag  , der 16 Menschen das Leben tostete. Unter diesen 16 war ein einziger Nationalsozialiſt.

Die übrigen Opfer waren teils Kommunisten, teils Parteiloſe, die durch Polizeischüsse gefallen sind. Dieser grobe Fehler der amtlichen Statistit verschiebt bereits entscheidend das parteimäßige Verhältnis der Todesopfer! Es sind ebensoviel Kommunisten wie Nationalsozia listen gefallen!

Das nationalsozialistische Geschrei, daß die Nazis als die Ange­griffenen besonders unter Terror litten, und deshalb auch die größte Zahl der Todesopfer zu verzeichnen hätten, wird durch die Statistik widerlegt, wenn man diesen groben Fehler der amtlichen Nach­weisung korrigiert.

Wir haben ferner vergebens über die Nachweisung der Er­mordung des Kommunisten Schauff in Königsberg   in der Terrornacht vom 31. Juli zum 1. August gesucht. Dies Opfer organisierten nationalsozialistischen Terrors ist in der amtlichen Nachweisung nicht enthalten! Derartige Fehler nehmen der Einzelnachweifung jeglichen Wert.

Als Ganzes genommen gibt der Ueberblick über die Zahl der Todesopfer ein eindeutiges Bild. Es bedarf allerdings der Er­gänzung! Der Ergänzung durch

eine Statistik über die Gerichtsverhandlungen, die den politischen Morden gefolgt sind und über die Ur­teile, die dabei ausgesprochen worden sind.

Eine solche Statistit, gegliedert nach der Parteizugehörig­feit der Angeklagten und nach der Höhe der Strafen stößt auf weit weniger technische Schwierigkeiten als die Statistik über die Todesopfer. Sie wird deshalb richtiger sein und sicherlich noch bezeichnender!

Also heraus mit der Statistik über die politischen Mordprozesse!