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Morgen- Ausgabe

Nr. 473 A 231 49. Jahrg.

Redaktion und Verlag: Berlin SW 68, Lindenstr. 3 Fernsprecher: A7 Amt Dönhoff 292 bis 297 Telegrammabresse: Sozialdemokrat Berlin

Vorwärts

BERLINER

VOLKSBLATT

FREITAG

7. Oktober 1932

Jn Groß Berlin 10 Pf. Auswärts....... 15 Pf. Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe am Schluß des redaktionellen Teils

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Harzburger Keile in der ,, Neuen Welt"

Deutschbewußte Politik in der Hasenheide Eine Riesensaalschlacht

Der Krieg zwischen den verfeindeten Harzburger Brüdern hat gestern abend in der Neuen Welt in Neukölln zu einer wüsten Saalschlacht von größtem Ausmaß geführt. National­fozialisten sprengten eine deutschnationale Wahl­versammlung, fie schlugen mit Stühlen auf die Bersammlungsteilnehmer und auf die Polizei ein. Die Schlägerei setzte sich bis auf die Straße fort. Es wurden fünf Mann vom Stahlhelm- Saal­schutz schwer verlegt. Die Nationalsozialisten führ­ten ihre Berletzten fort. Sieben Nationalsozialisten wurden verhaftet.

*

Unser Berichterstatter, der die Saalschlacht be­obachtete, gibt darüber den folgenden Bericht: Draußen, an den Eingängen zur ,, Neuen Welt" in der Hasenheide find große Plakate angebracht. Sie tragen das schöne Wort Einigkeit". Aber diese Inschrift will nicht auf die Harz, burger Front hinweisen, sondern es han­delt sich um das Motto für ein Artisten= fest, das morgen oder übermorgen in der ,, Neuen Welt" stattfindet...

Für gestern abend hatten die Deutschnationalen des Geheimrats Hugenberg zur ersten großen Berliner Wahlversammlung in die ,, Neue Welt" gerufen. Der große Saal der Neuen Welt" war, das muß man anerkennen, bei Beginn der Ber­fammlung gut besetzt. Er war nicht überfüllt, aber es ging. Doch stand die Versammlung schon vor ihrem Beginn unter elektrischer Spannung. Noch während die Musik tapfere Lieder, mie " Fridericus" und ,, Daß du mich liebst, das weiß ich" spielt, ertönten von gewissen Bänken her seltsame, nicht vorgesehene Ge= räusche. Wohl hat man eine stattliche Mann­schaft mit dem Saalschutz betraut, doch ist die Kritik erlaubt, daß eine pflichtbewußte Versamm­lungsleitung so jugendliche Menschen von zu großem Teil schmächtigem, schülerhaften Aus­sehen nicht mit dem Versammlungsschutz betraut, vor allem in einer Zeit, in der man mit seinen Harzburger Bundesgenossen von einst im Kriege lebt.

Die Versammlung wird eröffnet. Aber schon die ersten Säße des Vorsitzenden Steinhoff werden dauernd von Lachen und Skandal unterbrochen. Die nationalsozialistischen Sprengkolonnen haben im ganzen Saale bis in die vierte und fünfte Sigreihe hinein Pläge inne. Mit Mühe und Not fann Steinhoff seine Ansprache zu Ende führen. Als er erzählt, daß der Führer Hugenberg davon gehört habe, daß die nationale Jugend sich in Zukunft mit dem Gruße Heil Hugenberg" be= denken wolle, und daß der Führer Hugenberg sich darüber freue und deshalb die Jugend grüße, ertönt durch den halben Saal ein Hohngelächter und Rufe: ,, Heil Hu! Hu! Hu!" Zuerst mahnt der Borsitzende mit dem Ernst eines väterlichen Lehrers, dann droht er Strenge an; aber es nützt nichts.

Ich erteile jezt dem Bizepräsidenten des Reichstags, unserm verehrten Freund, Herrn Dr. Graef, das Wort!" Graef geht, salopp und überheblich, wie er nun einmal ist, zum Redner­pult. Plötzlich ist die Katastrophe da.

Als Graef in näselndem Tone mit den Händen in der Hosentasche spricht, schallt es plöhlich schneidend scharf durch den Saal: Hände aus den Hosentaschen!" und ein Höllengelächter hinterher. Der Vorsitzende fährt auf und deutet mit dem Finger auf den Zwischenrufer: Raus mit ihm!" In diesem Augenblick fliegen plötzlich 40 oder 50 Stühle durch die Luff!

Eine Masse stürmt vor, Frauen freischen, Männer ducken sich. Es drängt nach den Aus­gängen. Splitter krachen, und dazwischen tönt und dröhnt es immer wieder Nieder mit Hugen­berg!" Das geht so eine, zwei, drei Minuten lang. Wahllos schleudern die aufbau­willigen Kräfte die Stühle, wahllos schlagen fie ein.

Plöglich stürmt dann, vom Saaleingang und von oben her, von der Bühne Schupo mit geschwungenem Summitnüppel in den Saal. Dort hinten ist ein Handgemenge. Hier liegt einer, auf dem Menschenfüße herum. trampeln. Dort wieder saust ein Gummifnüppel.

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Stahlhelmer und Schußpolizisten drängen ge­meinsam, aber die Schläge hageln wahllos. Die nationalsozialistischen Sprengkolonnen leisten den Schutzpolizisten gewaltsamen Widerstand und schlagen wild auf die Be­amten ein.

Oben steht, vollkommen verstört, die Versamm­lungsleitung, und dazwischen gellt immer wieder das Schreien der Frauen. Es ist ein Chaos, ein Chaos der Harzburger Front! Minutenlang hat der erbitterte Saalkampf zwischen Schupo, Stahlhelm und Nationalsozia­listen gedauert. Endlich wird Luft. Man geht nach hinten in den Saal und sieht einen Trüm= merhaufen. Zerschmetterte Stühle, umge­worfene und zerbrochene Tische, zertrampelte Tischtücher, zersplitterte Biergläser und felt­sames Stilleben, in diesem Durcheinander der Zerstörung, ein zertretener Damenhut, der in einer Bierlache ruht.

Draußen, auf dem Hermannplatz, und in der Hasenheide geht das Getümmel weiter. Immer wieder muß die Polizei mit dem Gummi­fnüppel eingreifen, denn immer wieder jammeln fich nationalsozialistische Gruppen und brüllen Heil Hitler! Hugenberg ver­rede!"

Nur ganz langsam werden Straße und Plaz ge= räumt; aber menn man dann in den Versamm­lungsfaal zurüdkehren will, dann sieht man die Ergebnisse: Der Sanitätswagen ist ge=

Ein feiger Ueberfall

Gegen einen Sozialdemokraten

Eigener Bericht des Vorwärts" Hamburg , 6. Oktober. Am Mittwochabend kam es in dem Hamburger Stadtteil Hammerbrook zu einem ruchlosen Ueberfall auf einen sozialdemo­fratischen Distriktführer. Die Nazis hatten den ganzen Abend schon in Hammerbrook Terror ausgeübt. Als der Diftriftführer Böge mit zwei Parteifreunden an der Ede Spaldingstraße und Heidenkampsweg stand, wurden sie plötzlich von 14 Nazis angegriffen und mit Gummifnüppeln, Schlagringen, Koppelschlössern und anderen festen Gegenständen in brutalsfer Weise niedergeschlagen. Böge wurde von seinen Freunden getrennt und sollte von der Mordbande über das Brüdengeländer in den Kanal geworfen werden, obwohl er bereits halb bewußtlos am Boden lag. Erst dem Eingreifen von Passanten

tommen. Einer, ohnmächtig, mit vollkommen verbundenem Kopf, wird auf einer Bahre her­ausgetragen, ein anderer läßt sich einen Notver­band um die blutende Stirn legen, bemußtlosen Frauen wird Wasser eingeträufelt. Erbitterte Stahlhelmer unterhalten sich, und sie haben die Fäuste geballt. Denken sie an Harzburg zurück?

Drinnen haben inzwischen, nachdem die Polizei eine dürftige Ordnung hergestellt hat, die deutsch­nationalen Redner wieder zu sprechen begonnen. Es ist keine Versammlung mehr. Kaum ein Drittel des Saales ist noch besezt. Nur einige Säße der Redner seien festgehalten: So fagte Herr Graef : ,, Hitler hat die Millionen seiner Anhänger nicht durch Programme gewonnen, sondern dadurch, daß er immer wieder sagte: Wir wollen nichts für uns, sondern alles für Deutsch­ land . Heute scheint es umgekehrt zu sein. Sie wollen alles für sich." Der deutschnatio­nale Ortsvereinsführer erklärte:

,, Von unseren kameraden sind eben zwei Schwerverlette ins Krankenhaus abtrans­portiert worden. Das ist der Marsch der SA. !" Der Landtagsabgeordnete Steuer aber sagte: ,, Wer heute diese Szenen miterlebt hat, der muß erkennen, in welcher ungeheuren Gefahr sich das deutsche Vaterland, das deutsche Volk, die deutsche Kultur befinden."

Die Erkenntnis kommt spät. Sie kommt zu spät, denn jeder denkende Deutsche weiß es, daß die Deutschnationalen und Hugenberg diese ,, braune Gefahr", wie man sie jetzt nennt, be= günstigt, verhätschelt und großgezogen haben!

war es zu verdanken, daß die ungeheuerliche Tat nicht vollbracht wurde. Mit furchtbaren Ber­letzungen im Gesicht, an Kopf, Arm und Rücken wurde Böge zur Polizeiwache getragen. Die Ber­folgung der Täter durch eine Polizeisfreife verlief leider ergebnislos.

Konferenzplan aufgegeben

,, Bis auf weiteres vertagt"

Paris , 6. Oktober. Wie von zuständiger Stelle mitgeteilt wird, hat der englische Botschafter Lord Tyrell am Donners­tag nachmittag am Quai d'Orsan vorgesprochen, wo er im Auftrage seiner Regierung mitteilte, daß der ursprünglich in Aussicht genommene Zeit­punkt für den Zusammentritt der geplanten Lon­doner Konferenz bis auf weiteres vertagt worden sei. Die Besprechungen zwischen London und Paris würden im freundschaftlichen Geiste fortgesetzt.

O Harzburg!

( Alte Volksweise)

O Harzburg, o Harzburg, du wunderschöne Stadt, Da liegt die Front begraben, die deinen Namen hat. Jetzt schlägt sich der Stahlhelm und der SA. - Soldat, Seit Hugenberg den Hitler treulos verlassen hat. Verlassen, verlassen, es kann nicht anders sein, Erst hat der Hitler ,, Ja" gesagt, und jetzt, jetzt sagt er ,, Nein". Die SA. , die SS. zieht ins Versammlungshaus:

,, Ihr dicken Stahlhelmschweine, euch hauen wir hinaus."

Es wirbeln die Stühle, es fliegt der Bierpokal,

Und schließlich räumt die Schupo den kampfdurchtosten Saal. Der Hugenberg , der Hitler , die weinen gar so sehr.

,, Ade du schönes Harzburg, die Zeit kommt nimmermehr!"

Jonathan.

Freispruch!

Lehrreicher Sondergerichtsprozeß

Die erste Kammer des Sondergerichts prach gestern nach mehrstündiger Beratung die neun kommunisten auf Kosten der Staatskasse frei. Sie hatten wegen der Schießerei in Char­ lottenburg am 29. August, bei der ein National­fozialist getötet und zwei verletzt worden waren, unter Anklage des Totschlags gestanden.

Das Sondergericht hat unter Vorsiz des Landgerichtsdirektors Tolk die neun Kommu­nisten aus dem Röntgenstraßenprozeß, von denen vieren die Todesstrafe drohte, freige­sprochen. Der Vorsitzende hat in seiner Urteilsbegründung es für seine Pflicht ge= halten, Polizei und Staatsanwaltschaft gegen den Vorwurf der Leichtfertigkeit in Schuß zu nehmen. So sehr man seine Verhandlungs­leitung in diesem Prozeß und das unter seinem Vorsitz gefällte Urteil gutheißen wird, so wenig wird man seinen Rehabilitierungs­versuch, der der Polizei und dem Staats­anwalt galt, zustimmen fönnen. Die Er= mittlungen der Polizei waren, milde ausgedrückt, völlig unzu reichend; die Anklage gegen die neun Kommunisten, die zur Todesstrafe hätte führen können, mehr als unzuläng= lich fundiert. Das Ergebnis der zweiwöchi= gen Gerichtsverhandlung zwingt aber, mit noch größerer Schärfe als früher, die Forde­rung zu erheben: Fort mit dem Sondergericht!

Daß die Sondergerichte verschwinden müssen, je schneller, desto besser, bedarf keiner neuen Beweise. Sie sind überflüssig, da die Aufgabe der Abschreckung auch im ordent­lichen Verfahren bei entsprechender Anwen­dung des Strafgesetzbuches erreicht werden fann. Sie bedeuten eine Gefahr für die ge­samte Rechtspflege, weil sie den Angeklagten alle Rechtsmittel nehmen, dem Gericht ein willkürliches Abschneiden der Beweiserhebung gestatten und durch Wegfall der Vorunter­suchung keine Gewähr bieten für ein sorg­fältiges Ermittlungsverfahren. Gerade in dieser Beziehung hat der Prozeß gegen die Kommunisten in erschreckender Weise die un­erhörten Gefahren der Sondergerichtsbarkeit noch einmal zum Ueberfluß offenbart.

Das Sondergericht unter Vorsiz des Landgerichtsdirektors Tolf war gezwungen, die Aufgaben von Polizei und Staatsanwalt­schaft zu übernehmen, sich als Vorunter­suchungsinstanz zu etablieren. Hätte das Sondergericht in diesem Falle von seinem Recht, die Beweiserhebung abzuschneiden, Gebrauch gemacht, hätte es nicht in aner­kennender Weise jedem, aber auch jedem Be­weisantrag der Verteidigung stattgegeben, hätte die Verteidigung nicht von sich aus die dringlichsten Ermittlungen durchgeführt, ein Fehlurteil wäre nicht ausgeschlossen gewesen. Man stelle sich nur vor, die Verhandlung hätte unter den gleichen Umständen vor irgendeinem Sondergericht weit von Berlin stattgefunden, das die Rechte der Angeklagten nicht in einer Weise wahrgenommen hätte, wie dieses Sondergericht hier, den Ange­flagten hätte feine Verteidigung wie diese hier zur Seite gestanden statt eines Frei­spruchs wären vier Todesurteile so gut wie gewiß gewesen.

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Die Sonderstellung der Sondergerichte hat aber bereits ihre unheilvollen Schatten auch auf die Ermittlungstätigkeit der Polizei geworfen, sie scheint auch schon auf die Staatsanwaltschaft abgefärbt zu haben. Die Verhandlung gegen die Kom­munisten hat auch in dieser Hinsicht geradezu Ungeheuerliches enthüllt. In der Röntgen­straße sind drei Nationalsozialisten bei einem Zusammenstoß zwischen Kommunisten und