BEILAGE
Vorwärts
arbeiter gesucht.
Europäisches Kaleidoskop/ Von Herbert Reinhold
I.
Die Postverwaltung zu Neskowitz in Böh men suchte einen Bostaushelfer: Alter 25 Jahre, höchstens 32. Unbescholten. Möglichst unverheiratet. Absolvent einer achtklassigen Mittelschule. Deutsche und tschechische Sprachkenntnisse Bedingung. 200 Kronen Wochenentschädigung. 50 Dienſtſtunden wöchentlich. Keine Beförderungsaussichten. Schriftliche Bewerbungen sind nicht einzureichen. Reflektanten wollen sich Samstagvormittag mit ausreichenden Papieren beim Postverwalter vorstellen.
Soweit ein Aushang im Schalterraum des Nestowizer Poſtamtes.
Die Beamten liebäugelten mit dem freien Posten. Söhne mußten untergebracht werden. Die Telegraphistin dachte an ihren Bruder, der zwei Jahre ohne Arbeit herumlief. Rentner lasen den Aushang und kramten nach ihren Papieren. Leichtinvaliden dachten, das ist etwas für uns. Arbeit und Rente, dann läßt der Hunger nach. Der Laufjunge einer Knopffabrik redete sich ein, nur er käme als Postaushelfer in Frage. Arbeitslose, die von dem Aushang erfuhren, winkten wissend ab; jede Bewerbung sei aussichtslos. Ihre Papiere suchten sie doch zusammen, eine Hoffnung quoll in ihnen auf. Der Postverwalter empfing Zuschriften und Besuche.
Samstag. Hundert und mehr Bewerber waren erschienen. Alte und junge, verheiratete und unverheiratete. Alle waren voller Hoffnung, und ein jeder war dem anderen feind. Schweigend standen sie auf dem Platz vor dem Postgebäude. Einer nach dem anderen verschwand hinter der Tür zum Büro des Postverwalters. Und einer nach dem anderen erschien wieder. Alle kamen daran. Alle. Aber keiner erhielt den Posten, und keiner sagte das dem anderen. Jeder ging meg, um eine Hoffnung ärmer, den nächsten beneidend.
Niemand aber wußte, daß der Aushang mur eine gefeßmäßige Formangelegenheit war. Die Stelle war schon besetzt, ehe sie ausgeschrieben wurde. Ein Legionär wurde Postaushelfer...
II.
Marseille am Morgen. Die Stadt schläft noch. Im Hafenviertel aber lebt es. Sirenen gellen, Krane freischen, Lokomotiven pfeifen, Züge poltern, Schiffe manöverieren vor den Anlege= stellen. Fischer fommen vom Fang. Das Meer stinkt nach Tang und toten Fischen.
Am Kai 5 legt ein Levantedampfer an. Er hat Geflügel, Holz, Früchte und Schafbälge geladen. In 24 Stunden muß er gelöscht sein.
Der Hafenmeister spricht mit dem Kapitän. Dann schwingt er sich auf die Reeling und brüllt seinen ständigen Schauerleuten etwas zu. Arbeiter braucht er. 20 Mann, kräftige Leute. 60 Franken für die Löschung. Arbeitsbeginn in einer Stunde.
Die Schauerleute laufen fort. Nach dem Deuvre Hospitaliere, dem Asyl der Trappisten. Hunderte wohnen da, die auf Arbeit lauern. Weiße, schwarze und gelbe Arbeiter. Vor fünf Uhr öffnen sich die Tore des Asyls, und bis sieben Uhr hocken die Arbeiter ohne Arbeit auf den Steinfliesen des Gehsteiges. Sie warten auf Schauerleute, auf Schiffer, auf Fischer und Handelsleute, auf sonstwelche Arbeitgeber. Wer bis sieben Uhr keine Aussicht auf Taglohn hat, geht fort in die Raschemmen des alten Hafenviertels, an das Meer, Austern zu suchen oder in die Parkanlagen im Osten der Stadt.
Die Schauerleute rufen ihr Arbeitsangebot aus: 20 Mann für Löscharbeiten. Nur träftige Kerls. Wird bis 10 Uhr abends dauern. Lohn 50 Fran ten. Das ist üblich so. 10 Franken vom Verdienst der Gelegenheitsarbeiter verdienen die Schauerleute. Die Arbeitslosen wissen das, aber sie halten es für ein gutes Recht der Schauerleute.
50 Franken sind nicht viel für zwölfftündige, schwere Löscharbeit. Aber 50 Franken Verdienst darf man nicht entgehen lassen. Darum melden sich im Nu viel mehr Leute, als benötigt werden. Eine knappe Stunde später schleppen 20 Arbeiter aus der großen europäischen Völkerfamilie, Deutsche, Franzosen Tschechen, Südslawen , Ungarn , Italiener und Dänen, Geflügel, Holz, Früchte und Schafbälge aus dem Schiffbauch nach Lastwagen und in Speicher.
III.
Vor dem Schalter des Arbeitsvermittlers im Arbeitsamt zu Sonneberg in Thüringen drängelten sich die Arbeitssuchenden. Zweimal in der Woche kommen sie aus ihren Dörfern oben in Thüringer Wald . Sie kommen, ihrer Meldepflicht zu genügen, wenige Mark Unterstützung zu erheben und, hauptsächlich, um nach Arbeit zu fragen. Viele scheuen den weiten Weg mehrere= mals wöchentlich nicht, manche sind täglich im Arbeitsant. Stunden stehen sie vor dem Schalter. Sie hoffen, daß der Arbeitsvermittler eines Tages doch Arbeit zu vergeben hat. Jetzt ist Saison in Der Spielwarenindustrie!
Wird einer vom Arbeitsvermittler aufgerufen, dann drehen sie sich neidvoll um, Arbeit wird der
Aufgerufene haben. Verdienst für Tage, vielleicht auch für Wochen und Monate. Welch ein Glück in dieser Zeit! Der wird Essen kaufen und dann und wann auch Fleisch. Und Kleidung und andere notwendige Dinge. Alle ihre Wünsche lassen sie den einen erfüllen, und deutlicher noch stehen ihnen hernach ihre Sorgen und Nöte vor den Augen.
Da... jenen Tages im September. Ein Spielwarenfabrikant hatte 25 Heimarbeiter für Grosarbeiten verlangt. Der Arbeitsvermittler
rief das Arbeitsangebot aus, und mehr als 40 arbeitsuchende Familienväter schickt er nach dem Fabrikbüro, aber nur 16 wurden genommen.
an
Aufatmend, frohen Herzens schritten die Sechzehn nach ihren Wohnungen. Endlich einmal war ihnen Verdienst sicher, endlich. Die Frauen werden sich freuen. Jedoch mit jedem Schritt nach den heimatlichen Hütten sahen sie die kommende Zeit greifbarer vor sich: Alle, auch die kleinsten, werden mitarbeiten müssen, täglich, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, damit das verdient wird, das zum Notwendigsten gebraucht wird. Arbeiten werden sie, ja, der seelische Druck, der während der Arbeitslosigkeit auf ihnen lastete, wird weichen, aber die wirtschaftliche Not wird bleiben....
IV.
Seit Jahren stellten die Männer von Var= nim, Slowakei , am Rande der Niederen Tatra, das Gros der Holzfäller der Herrschaft Liptau.
Alice Ekert- Rothhols
Während der warmen Jahreszeit gingen sie mit Aerten, Beilen und Keilen den Waldriesen zu Leibe, dann schälten sie die Stämme und ver= brannten das Geäst.
Jedes Jahr, Anfang April, stellten sie sich im Forstrentamt ein, Arbeit für den und den Lohn erheischend, und weil man sie brauchte, bewilligte man ihre Forderungen ohne viel Aufheben. Beide Teile fuhren gut dabei. Die Männer von Varnim verkauften ihre Arbeitskraft zu möglichst guten Bedingungen, und die herrschaftliche Forstverwaltung konnte mit guten Arbeitern rechnen. Seit zwei Jahren stockt der Holzkonsum. Die Zellstoffwerke, die Pappen- und Papierfabriken, die gesamte holzverarbeitende Industrie ist auf Jahre hinaus mit Holz eingedeckt. In den Wäldern modert das geschlagene Holz. Deshalb ruhen die Aerte, deshalb freischen keine Sägen mehr.
Auch in der Niederen Tatra hat man im vergangenen Frühjahr feine Holzfäller benötigt. Im April aber kamen zur gewohnten Zeit die Männer von Barnim . 300 waren sie, und nur 40 konnte das Forstamt einstellen. 300 Männer fämpften um 40 Arbeitspläge; sie fämpften mit untauglichen Mitteln. Sie unterboten sich und stellten manche wesentliche Forderung zurüď. 40 Arbeiter wurden zu niedrigen Löhnen für untergeordnete Arbeiten angenommen. Diese 40 aber schätzten sich glücklich, für wenige Kronen alle mögliche Arbeit verrichten zu können, denn.. Denn 260 Männer von Varnim waren ge=
Menschheit in momentaufnahme!!
In diesem Moment
veranstalten Lugushotels in Berlin , Paris , New York eine Modenschau.
Die Mannequins zieren sich pro Person wie Lehmann im Sarg.
Sie zeigen die schönsten Auswüchse der Wintermode.
Die Damen der Großbourgeoisie figen im Kreise.
Sie denken: In dem rosa Modell sähe ich aus wie Botticelli persönlich... Ob Edgar(... Gaston... John) dann wieder anrufen würde...?" Sie denken: Wenn ich bloß etwas anzuziehen hätte!"
"
3m selben Moment
fizen Frau Schulz( Frau Dupré, Frau Smith) in ihrer Wohnhöhle Der arbeitslose Mann schlägt mit der Faust aufs Familienleben... Bier blasse Kinder zeigen die neuesten Lumpenmodelle! Frau Liese Schulz, Frau Louise Dupré, Frau Jane Smith laufen in verwesenden Stoffleichen hin und her, her und hin... Sie denken:„ Ob der Rock sich nochmal flicken läßt?" Sie denken:„ Wenn ich bloß etwas anzuziehen hätte...!"
In diesem Moment
findet in einer überlebenden Tiergartenvilla eine Geburt statt. Um das Bett der Mutter schweben drei Aerzte und ein Aetherrausch. Eine weißladierte Krankenschwester wischt der Erschöpften den Schweiß. Die Gebärende stöhnt ganz schwach...
Jedoch drei Aerzte und ein Aetherrausch lindern den Schmerz... Der beigeordnete Ehemann rauft sich die Haare und das Scheckbuch. Er denkt: Wenn es bloß bald zu Ende wäre!"
Im selben Moment
findet Linienstraße 3 eine Geburt statt.
Um das Bett der Arbeiterin Lenchen Knöppke schweben drei Angstträume. Ihre zittrigen Hände angeln nach einem Schweißtuch... Die Gebärende stöhnt ganz schwach.
Rein Arzt und kein Aetherrausch verzaubern den Schmerz...
Es ist nicht einmal ein Ehemann vorrätig!
Die vereinsamte Mutter denkt: Wenn es bloß bald zu Ende wäre...!"
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In diesem Moment
findet außerdem in 78 Weltstädten je eine Generalversammlung statt. Der Finanzoberst redet Lyrik... Dann kommt er zur Sache.
Die Sache heißt: Freiheit den Großunternehmern!"
Die Zuhörer figen in feierlichem Schwarz wie Leichenträger des Kapitals. Der Generaldirektor ruft:„ Lohnsenkung nach dem ersten Frühstück hilft bei allen Krankheiten, meine Herren!"
Er ruft: Wir wollen Freiheit!"
Im selben Moment
findet in einem Berliner Versammlungslokal eine Wahlrede statt. Der Redner redet sofort zur Sache...
Die Sache heißt: Die Rechte des Volkes."
Die Genossen fizen in feierlichem Schweigen statt in feierlichem Schwarz... Nur das erste Frühstück des Generaldirektors liegt ihnen im Magen... Der Redner ruft: Kampf hilft bei allen unseren Krankheiten, Genossen!" Er ruft:„ Wir wollen Freiheit!..."
In jedem einzigen Moment werden Menschen getreten und hochgehoben. Denn jeder einzige Moment zeigt uns die Welt von unten und oben...
MITTWOCH, 12. OKT. 1932
zwungen, mit Kameraden aus der ganzen Slowafei in die schwarzen Fabriken in Frankreich zu fahren, hunderte Kilometer fern der Heimat.
V.
In Split, Dalmatien , gibt es unter 35 000 Einwohnern ungefähr 1000 Erwerbslose. Abseits der Stadt sind einige Zementfabriken. Die Arbeit da ist fürchterlich, schweres Schaffen in Staub und Hize bei geringster Entlohnung. Die Arbeiterschaft wechselt daher sehr oft. Das Schild: ,, Arbeiter werden angenommen!" hängt dauernd am Tor der Fabrikeinfahrten, eine Seltenheit in Europa .
Von den 1000 Erwerbslosen in Split meldet sich keiner in die Zementfabriken. Niemand kann sagen, wovon sie leben, aber sie leben. Die Zementarbeiter sind Bauern, Bauern, denen die Sonne die Ernte verbrannte, deren Felder ver= durstet sind. Sie schaffen so lange, bis sie wieder auf ihre Aecker gehen können.
Arbeiter werden immer gesucht in den be rühmtesten Zementfabriken Europas bei Split.
Bettlerglück
Eine Budapester Ballade
Von Yorick
Es steht ein Bettler an der Straßenede in Budapest , der hat nur ein Bein.
Er streckt zwei Hände bittend aus und denkt: Es gibt nicht mal Arbeit in Ungarn für Leute. mit beiden Beinen muß ich nicht betteln?
Wie er so denkt, zerreißt ein knirschender Donner das Rauschen der Straße. Eine Trambahn entgleiste und raft auf den Bürgersteig. Man fann nicht schnell sein, wenn einem ein Bein fehlt; darum rasen zwei von den vier Eisenrädern über das andere, das einzige Bein
Und wie sie ihn entlassen aus dem Krankenhaus, nach Monaten, ist er festgeschnallt auf einem Wägelchen, ein Rumpf ohne Beine, dessen alte Bettelarme nun sorgen müssen, daß er sich fortbewege.
Aber gibt es nicht eine Gerechtigkeit in Ungarn ? Nicht das Bein kann sie wiedergeben, das kann feine Gerechtigkeit. Nicht die Gliedmaßen kann sie ersehen, aber den Schaden", wie man so sagt. Und der Bettler, der an die Gerechtigkeit glaubt, geht hin und bittet die Straßenbahngesellschaft um Unterstützungen.
Aber eine Gesellschaft, nicht wahr, das ist eben eine Gesellschaft und kein Mensch. Und so macht das Gesuch seinen Weg, den Instanzenweg. Und dieser Weg ist ein langer Weg. Was wissen die, über deren Schreibtisch das Gesuch auf seiner langen Fahrt wandert, vom Bettler? Was weiß der Bettler von ihnen? Abgelehnt" steht auf seinem Revers, als das Gesuch von der endlosen Straße zum Bettler zurückkehrt. Eine Gesellschaft ist eben eine Gesellschaft und kein Mensch. Gewiß jedoch ist, denkt der Bettler, daß ein Richter ein Mensch ist. Und er geht zum Richter. Und der Richter ist ein Mensch und setzt eine Verhandlung an. Denn eine Verhandlung muß sein: tönnte etwa die Straßenbahngesellschaft nicht behaupten, daß der Bettler die Schuld trägt an der Entgleisung der Räder?
Das aber behauptet die Gesellschaft nicht. Der Mann im Rechtsanwaltstalar, der sie vertritt, macht das feiner, grundsäglicher, soziologischer sozusagen. Er argumentiert:„ Der Mann hat gebettelt. Warum mußte er betteln? Weil er nur ein Bein hatte. War mithin nicht das Bein der Grundstock, ja, das Kapital seiner Bettelei? War es nicht das eine Bein, welches das Mitleid weckte? Oder richtiger: das Fehlen des anderen Beines? Eingesehen, verstanden, nicht wahr? Nun also: jezt fehlen ihm zwei Beine. Hat sich nicht damit sein Kapital vermehrt, verdoppelt sogar? Werden sich nicht auch die Gaben, die Mitleidigen selbst verdoppeln? Also muß er der Straßenbahngesellschaft dankbar sein, dieser glückliche Bettler!"
So argumentierte der Mann im Talar. Er sprach leise, ernsthaft und trocken, er lachte nicht: er mußte wohl, daß sein Lachen schrill und donnernd geflungen hätte vor Hohn, vor leztem, fürchterlichstem, teuflischstem Hohn...
Und auch der andre Mann im Talar lachte nicht. Sondern er schloß sich den eindeutigen Darlegungen" des Rechtsanwalts an und wies die Klage ab...
Und wenn die Straßenbahngesellschaft von Budapest klug ist: dann verklagt sie nun den Bettler, daß er ihr Prozente gebe von seinen Bettelgeldern, die sie ihm durch diese einfache, geniale Maßnahme der Entgleisung verschafft hat. Und wenn die Bettler von Budapest klug sind, dann geben sie die Parole aus: ,, Bettler, laßt euch überfahren! Ihr verdoppelt euer Rapital!!"
Wenn aber du, oh Armut der Welt, die du auf Krüden hintst, durch diese glorreiche Zeit des Fortschritts und der Gerechtigkeit, klug bist: dann bemächtigst du dich des Steuers ihres eisenrädrig hinrafenden Wagens, daß er nicht entgleise und dich überfahre..!-
Es hoďt ein Bettler an der Straßenede in Budapest . Der hat feine Beine mehr.