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Morgen- Ausgabe

Nr.537 A263 49. Jahrg.

Redaktion und Verlag: Berlin SW 68, Lindenstr. 3 Fernfprecher: 7 Amt Dönhoff 292 bis 297 Telegrammabresse: Sozialdemokrat Berlin

Vorwärts

BERLINER

VOLKSBLATT

SONNTAG

13. November 1932

In Groß Berlin 15 Pf. Auswärts....... 20 Pf.

Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe am Schluß des redaktionellen Teils

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Gefährliche ,, Kombinationen"

Achtung! Starkstrom! Eine Warnung an alle, die es angeht

Man spricht von Staatsstreich; Auf­lösung des Reichstags noch vor seiner Kon= stituierung, Verschiebung der Neuwahlen bis in das Frühjahr, Oktronierung einer Re­form der Verfassung, besonders des Wahl­rechts! Die Regierung läßt erklären, das seien ,, Kombinationen". Rombinatio­nen", nicht Phantasien, nicht Unterstellungen, die sie unter Hinweis auf ihren Eid ent­rüstet zurückweist. Die ,, Deutsche Allgemeine Zeitung" spricht von Mutmaßungen, die auch in sehr ernsthaften Kreisen erörtert" werden. Ernsthafte Kreise"- man weiß, was damit gemeint ist, nämlich Kreise, in denen nach der Manier eines Spielklubs Politik getrieben wird, die aber heute mehr Einfluß auf das Schicksal des deutschen Volkes haben als 500 nach allgemeinem gleichen Wahlrecht gewählte Volksvertreter.

,, Ernsthafte Kreise" solcher Art finden natürlich auch einen jogenannten Staats­rechtslehrer, der alles, was fie tun, in Ord­nung findet. Aber das sind selbstverständlich nur Kinkerlitzchen. Es kann nicht der ge­ringste Zweifel daran bestehen, daß Leute, die die bewußten Kombinationen" oder ,, Mutmaßungen" in die Tat umzusetzen ver­suchten, sich damit strafbar machen mürden. Das heute festzustellen, ist wichtig. Es mag sein, daß es zunächst gelingen könnte, den Klägern den Mund zu stopfen, um dann nach dem Grundsatz zu verfahren: Wo fein Kläger ist, da ist auch kein Richter." Aber jedes Blatt der Weltgeschichte lehrt, daß politische Machtverhält nisse wechseln und daß aus Macht­habern auch Angeklagte werden können.

Noch handelt es sich, wie gesagt, nicht um vollendete Tatsachen, sondern nur um Kom­binationen und Mutmaßungen. In dem Augenblick, in dem die vollendeten Tatsachen da wären, tönnte vielleicht manches, was jezt noch ausgesprochen werden kann, nicht mehr mit derselben Deutlichkeit gesagt wer den. Ein Recht, den nach der Auflösung neu­gewählten Reichstag aus dem gleichen Grund wie seine Vorgänger wieder aufzu­lösen, gibt es nicht; das Vorschieben eines neuen Grundes- noch vor der Konstituie rung!- wäre weiter nichts als ein rabu­listischer Dreh. Ebensowenig gibt es ein Recht, unter Berufung auf Artikel 48 die Wenn es wirk­Verfassung zu ändern. lich Leute geben sollte, die dem greisen Reichspräsidenten einzureden versuchen, er fönne ihre Mutmaßungen" verwirklichen, ohne den Rahmen der Verfassung zu über­schreiten, so müßten sie von Rechts wegen sofort verhaftet werden.

Bei dieser Gelegenheit kann die Frage aus dem nicht unterlassen werden, was Staatssekretär beim Reichspräsidenten , Herrn Dr. Otto Meißner, geworden ist. Er hat die Funktion eines ständigen Rechtsberaters des Reichspräsidenten , er hat die Pflicht, dem Reichspräsidenten die Verfassung ichützen zu helfen, er hat die Pflicht, den Einfluß von Leuten zu bekämpfen, die den Reichspräsidenten falsch beraten. Kann er sich gegen fie nicht durchießen, so muß er zurücktreten.' Herr Dr. Otto Meißner wurde in sein Amt durch das Vertrauen Fried rich Eberts berufen, das Herr v. Hinden burg dann auf ihn übertrug. In einer Zeit,

Gerüchte über Reichstagsauflösung und Staatsstreich

in der wir ,, verantwortliche Regierungen" im Sinne der Reichsverfassung kaum noch besigen, ist Dr. Otto Meißner ein Haupt­träger der faktischen Verant wortung geworden. Herr Dr. Otto Meißner trägt in hervorragendem Maße Mitschuld an der furchtbaren Vertrau enstrise, die im Laufe dieses Jahres entstanden ist und an den zerrüttenden poli­tischen Folgen, die sie ausgelöst hat.

Uebrigens fönnte man sich mit andern Herren in hohen Aemtern in ähnlicher Weise beschäftigen, Herren, denen in gleichem oder in noch höherem Maße die Pflicht zum Schutze der Verfassung obliegt. Allen diesen Herren muß dringend empfohlen werden, Erwägungen anzustellen nicht nur darüber, wie weit im Augenblick ihre Macht reicht, sondern auch darüber, was ihnen wenn sich die passieren könnte, Machtverhältnisse eines Tages ändern sollten.

Frankreich hat in dem Jahr 1877 eine ganz ähnliche Krise durchgemacht wie Deutschland jetzt. Es tam über sie hinweg, weil aus den Kombinationen, die um den Marschallpräsidenten Mac Mahon herum ge= sponnen worden waren, schließlich doch keine

vollendete Tatsachen wurden. Man höre vor

den Entscheidungswahlen des 5. Oktober 1877 den großen Patrioten Gambetta donnern:

Frankreich wird allen gegen die Freiheit seiner Abstimmung gerichteten Manövern zum Trotz den administrativen Druck von sich stoßen, die offi­ziellen Kandidaten und ihre Agenten brandmarken und die Royalisten, die Klerikalen, die Schleicher wie die Gewalttäter weit von sich zurückweisen. Es wird die Po= litik der Diktatur zurüdweifen. ' Siehe Schultheß Geschichtskalender 18. Jahrgang Seite 297.)

Schließlich hörte auch der Marschallpräsi­dent die Stimme des Volkes und fand den Weg zur Verfassung zurück. So hieß es in seiner Botschaft am 14. Dezember:

Die Wahlen vom 14. Oktober haben noch ein­mal das Vertrauen des Landes zu den republi­fanischen Einrichtungen bestätigt. Um den parla­mentarischen Regeln zu gehorchen, habe ich ein Kabinett gebildet, welches aus Männern zusam­mengesetzt ist, die entschlossen sind, diese Einrich­tungen durch eine aufrichtige Ausübung der kon­ftitutionellen Gesetze zu verteidigen und aufrecht­zuerhalten. Das Wohl des Landes erheischt, daß die Krise, die mir durchmachen, beseitigt werde, es erheischt mit nicht geringerem Nachdruck, daß sich dieselbe nicht wiederhole. Die Ausübung des Auflösungsrechts ist in der Tat nur ein Weg,

um von einem Richter ohne Berufung die letzte Entscheidung zu erwirken, und würde nicht zum Regierungssystem erhoben werden können. Ich habe mich dieses Rechts bedienen zu sollen ge­glaubt und ich füge mich dem Urteil des Landes.

Mac Mahon hat durch diesen Entschluß seinem Lande Furchtbares erspart. Es war der einzige Entschluß, der es vor einer Kata­strophe retten konnte, jeder andere hätte es in ein Blutvergießen ohne Ende geführt. Nun ist es ganz gewiß falsch, Lehren der Geschichte ohne Rücksicht auf inzwischen ein­getretene Aenderungen auf die Gegenwart anzuwenden daraus folgt aber in diesem Falle nur, daß das, was damals für Frank­ reich richtig war, für Deutschland hundert­mal richtiger ist. Deutschland ist nicht wie Frankreich nach dem Aderlaß der Kom­mune eine sanfte Kleinbürgerrepublik, son­dern ein Land der Arbeiter mit den stärksten sozialen Span nungen.

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Darum sei für alle ernsthaften Kreise", die staatsstreichlüstern mutmaßen und kom­binieren, die Warnungstafel deutlich auf­gerichtet:

,, Achtung! Startstrom!"

Ruhige Trauerfeiern in Genf

Eigener Bericht des ,, Vorwärts"

Tag maßloser Provokationen des Militärs

Genf , 12. November.

Die Trauerfeierlichkeiten der Genfer Arbeiterschaft für die Opfer der hiesigen Straßen­unruhen verliefen ruhig. Vor den Trauer­häusern wurde den Leichen nach Genfer Sitte durch stummen Vorbeimarsch von Tausenden die letzte Ehre erwiesen.

In der Nähe des Gefängnisses von St. Antoine, wo der Sozialistenführer Nicole ge= fangen gehalten wird und das von Walliser Truppen mit Maschinengewehren besetzt ist, er­eignete sich während der Trauerfeierlichkeiten ein Zwischenfall. Auf dem alten Play Bourg- de­Four hatte sich eine große Menge eingefunden, die einem an den Unruhen nicht beteiligten, aber ebenfalls erschossenen Bäckermeister das letzte Ge­leit geben wollte. Plötzlich fuhr über den Play und mitten durch die Menge ein Last auto mit Soldaten in Stahlhelmen und mit schuß­bereiten Gewehren nach dem Gefängnis. In stummer Bestürzung über so viel Unerfahrenheit der militärischen Führung nahm die versammelte Menge die Provokation hin. Als dann einige Zeit später eine unübersehbare Menge auf dem Quay an der Arve an dem Sarge des Kommu nisten Fürst vorüberzog, erschien wieder ein Trupp Soldaten, der trotz aller Borstellungen nicht da­von abließ, sich

mit Kolbenstößen einen Weg durch die Trauergemeinde

zu bahnen, um in sein benachbartes Quartier zu gelangen. In großer Erregung zog die provo­zierte Menge schließlich vor die große Aus= stellungshalle, vor der das mörderische Blutbad am Mittwoch angerichtet worden war. Die Halle war restlos mit mobilisierten Truppen belegt. Als die Beerdigungsteilnehmer die auf­reizenden Vorfälle erzählten, kam es zu Demon­strationen gegen die Truppen und die Regierung. Die Streifenden begannen wiederholt die Internationale zu singen. Die Sol­

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daten in der Halle sangen schließlich mit. Der Generalstreifparole find nur die Bau­arbeiter und die Belegschaften der industriellen Betriebe restlos gefolgt. Die Straßenbahnen fuhren. Am Nachmittag versuchten Streikende, einzelne Straßenbahnwagen am Weiterfahren zu hindern.

Die Regierung entsandte sofort zur ,, Herstellung der Ordnung" Soldaten, die sich je­doch mit den Streifenden verbrüderten und die Internationale sangen. Auf Befehl des Militär­tommandeurs wurden die Truppen dann bald in ihre Quartiere zurückgezogen. Die Regierung selbst ordnete die sofortige Einfahrt aller Straßenbahn­wagen in die Bahnhöfe an.

Die Schweiz ist eine alte Demokratie, aber ihr Bürgertum steht an reaktionärer Gesinnung kaum zurück hinter dem irgendeines anderen Landes. Nur so ist es zu erklären, daß aus einem nichtigen Anlaß ein fürchterliches Blutbad angerichtet Es wurden unerfahrene Militärrekruten mit Maschinengewehren dort eingesetzt, wo in London , in Berlin oder in Paris schlimmstenfalls die polizeilichen Gummifnüppel in Aktion getreten wären.

wurde.

Nachträglich hat man Schauermärchen in die Welt gesetzt; danach hätten die Demonstranten den Soldaten Pfeffer in die Augen gestreut und der= gleichen mehr. Typische Kriegsgreuellügen von Zivil- und Militärbehörden, die ihr schlechtes Ge­wissen durch derartige píumpe Erzählungen sal­vieren wollen. Allein die Tatsache, daß die meisten Opfer unbeteiligte 3uschauer waren, stellt eine vernichtende Anklage gegen die verantwortlichen Behörden dar. Demgegenüber spielt die Frage eine untergeordnete Rolle, ob die Genfer sozialistische Partei richtig geführt wird. Dies ist ein Thema, das in Schweizer Parteifreisen schon seit Jahren erörtert wird. Nur eins ließe sich heute dazu sagen: wenn die Genfer Sozia­listen in ihrer Zonart und in ihrem Auftreten viel­fach taum von den Kommunisten zu unterscheiden find, so ist das nicht zuletzt die Schuld jenes eng­

stirnigen, satten, aufgeblasenen talvi­nistischen Patriziertums, über das bei den zahlreichen Ausländern, die beruflich in Genf leben müssen, nur ein Urteil der Geringschäzung herrscht. Dieses Genfer Bürgertum findet seinen Rückhalt in den Bundesbehörden in Bern , die taum weniger sozialreaktionär, militärfromm und fuíturrückschrittlich sind. Deren erster Gedanke nach dem Genfer Blutbad war: um feinen Preis einen Fehler der schießwütigen Offiziere zugeben, denn die Ehre" der Armee stehe auf dem Spiele, und im übrigen: noch mehr Militäraufgebot, noch mehr Drohungen gegen die Arbeiterschaft! Daß die von unserem Korrespondenten geschil­derten unerhörten Provokationen der einberufenen Milizsoldaten während der Trauerfeiern zu feinem neuen Blutbad geführt haben, ist geradezu ein Wunder und jedenfalls nicht das Verdienst der Berner und Genfer Militär- und Zivilbehörden. Auch sonst sind die traurigen Genfer Vorfälle noch in einem Punkt lehrreich: Die Verteidiger des Milizgedankens nicht zuletzt Jean Jaurès in seiner ,, Neuen Armee" sind stets von der Ueberzeugung ausgegangen, daß ein solches Volksheer sich viel schwerer außenpolitisch für Angriffstriege und inner politisch gegen das Proletariat mißbrauchen läßt. So richtig dieser Grundgedante scheinen mag, die Erfahrung lehrt leider das Gegenteil. Bei Kriegsausbruch wird allen Völkern eingeredet, daß gerade ihr Land unschuldig angegriffen worden sei, und dem­entsprechend machen auch Volksheere begeistert mit. Und im Klassenkampf werden eben, wie in Genf , Bauernsöhne gegen städtische Arbeiter vorgeschickt und schießen genau so rücksichtslos auf ihre Mit­menschen wie Berufssoldaten, vielleicht nur noch etmas topfloser.

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Man mag zur Frage Miliz oder Berufsheer stehen wie man will, und zweifellos wäre nach - die von der alten sozialdemokratischen Tradition Bebel und Jaurès datiert der Milizgedanke vorzuziehen. Aber man darf sich keinen Illusionen darüber hingeben, daß auch Milizsoldaten eine gefährliche Waffe des Befißbürgertums gegen das