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Morgen- Ausgabe

Nr. 599 A 294 49. Jahrg.

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BERLINER

VOLKSBLATT

MITTWOCH

21. Dezember 1932

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Jn Groß Berlin 10 Pf. Auswärts....... 15 Pf. Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe am Schluß bes rebattionellen Teils

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Die Amnestie beschlossen!

Ein Erfolg der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion

Der Reichsrat hat in seiner am Dienstagabend abgehaltenen Vollsizung mit 44 gegen 19 Stimmen der Länder Bayern , Württemberg und Ba­den sowie der preußischen Provinz Brandenburg bei Enthaltung der Länder Braunschweig und Med. lenburg- Strelik sowie der preußi­schen Provinz Hannover beschlossen, Einspruch gegen das vom Reichstag be­schlossene Amnestiegesek nicht einzulegen.

Unter ungewöhnlich starker Beteiligung der Deffentlichkeit trat der Reichsrat unter Borsiz des Reichsjustizministers Dr. Gürtner am Dienstag­abend zu einer Bollsizung zusammen. Auf Vorschlag des Ministers Dr. Gürtner wurde die Beratung des vom Reichstag mit ver= faffungsändernder Mehrheit be= schlossenen Amnestiegesezes gleich vorweg ge=

nommen.

Als Berichterstatter teilte der preußische Mi­nisterialrat Rietsch mit, die Ausschüsse feien ein­hellig der Auffassung gewesen, daß das Gesetz verfassungsmäßigen Charakter hat und und daß deshalb für einen Einspruch des Reichsrats die Bestimmungen der Verfassung über Verfassungsänderungen gelten. Das Ergebnis der Ausschußberatungen sei gewesen, daß mit Mehrheit empfohlen werde, von der Einlegung des Einspruchs abzusehen. Im Namen der

bayerischen Regierung beantragte Ministerialdirektor Sperr, Einspruch einzulegen. Zur Begründung führte er aus, der Straferlaß und die Niederschlagung von Straf­verfahren ständen nach der Reichsverfassung den Ländern zu. Eine Reichsamnestie, die sich auf Landesstraffachen erstrecke, müsse, auch wenn sie in der Form eines verfassungsändernden Gefezes auftrete, grundsäglich ausge= schlossen sein. Der vom Reichstag angenom­mene Initiativgesetzentwurf gehe aber, abgesehen von diesen verfassungspolitischen Bedenken, inhalt­lich über das erträgliche Maß hinaus. Er umfasse auch schwere Einbrüche in die Rechtsordnung und Straftaten, die von dauernden ernsten Folgen begleitet seien, ohne zu entscheiden, ob der Täter etwa nicht wegen der Roheit, Gemeinheit oder Gefährlichkeit der Handlung oder der Niedrigkeit seiner Gesinnung eines Straferlasses unwürdig sei. Lege der Reichsrat gegen diesen Gesetzent­wurf Einspruch ein, so werde die bayerische Re­gierung neben der schon eingeleiteten Aktion von einzelnen Begnadigungen dem baŋ­rischen Landtag einen Gesezentwurf auf eine Landesamnestie vorlegen, der sich etwa auf der Grundlage des im Reichsjustizministerium als technischer Behelf für den Reichstag ausge­arbeiteten Entwurfs eines Gesetzes über Straf­freiheit und der Aenderungsanträge des Reichs­tages dazu bewegen würde. Im Namen der

Württembergischen Regierung schloß sich Gesandter Dr. Bosler dem von Bayern erhobenen Einspruch an. Zur Begründung erklärte er, das vom Reichstag beschlossene Gesetz bedeute einmal einen starken Eingriff in ein den Ländern zustehendes Hoheitsrecht, es überschreite aber auch abgesehen hiervon weit die Grenzen des fachlichen Bedürfnisses. In der beschlossenen Fassung bedeutet das Gesetz nicht nur eine Gefähr= dung des öffentlichen Rechtsempfindens, des An­fehens der Rechtspflege und der Arbeitsfreudigkeit aller an ihr beteiligten Organe, sondern auch eine des Abschwächung Abschreckungserfolges der Strafen und damit eine Gefährdung der öffent­lichen Ordnung.

Der Vertreter Badens schloß sich ebenfalls dem Einspruch an, zur Begründung bezog er sich auf die Ausführungen des Gesandten Dr. Bosler. Im Namen der Thüringischen Regierung erklärte Minister Dr. Münzel, er begrüße das Gesez und stimme ihm zu.

Für Preußen erklärte Dr. Brecht, auch die preußische Staatsregierung habe die grundfäß­lichen Bedenken gegen eine Amnestie und ihren

Umfang eingehend erwogen, sie halte aber die Gründe, die gegen einen Einspruch sprechen, für überwiegend. Der Berliner Vertreter

Oberbürgermeister Sahm

bittet für den Fall, daß der Reichsrat dem Aus­schußbeschluß folgend keinen Einspruch gegen die Amnestie erhebe, folgende Entschlie= Bung mit anzunehmen:

,, Gegen den Erlaß einer neuen Reichsamnestie und namentlich gegen den Umfang des vom Reichstag beschlossenen Gesezes trägt der Reichsrat ernste Bedenken. Rechtssicher­heit und Rechtsbewußtsein, die Grundlagen jeder staatlichen Ordnung, erleiden Schaden, wenn Ge­segesverletzungen so schwerer Art in so großer Zahl straffrei bleiben. Der Reichsrat hat es dem­gemäß stets als seine Aufgabe betrachtet, bei der Ausübung seines Einspruchsrechts Amnestie- Gesetz­entwürfen gegenüber einen strengen Maßstab an­zulegen, um die Rechtsordnung vor Erschütterun­gen zu bewahren. Bei der Beratung des jetzt be­schlossenen Gesetzes hat er daher auch den schwer­wiegenden Gründen, die für die Einlegung des Einspruchs sprechen, ernste Beachtung geschenkt. Dazu kommen die grundsäglichen Bedenken, die nach der Auffassung des Reichsrats je der Erstredung einer Reichsamnestie auf Landesstraffachen entgegenstehen. Wenn er gleichwohl in seiner Mehrheit zu dem Ergebnis gelangt ist, von einem Einspruch abzusehen, so geschah dies aus folgenden Erwägungen: Auch durch einen Einspruch würde das Zustandekommen des Gesetzes nicht verhindert, sondern nur hinaus­geschoben werden. Eine solche Hinausfchiebung aber würde die der politischen Entspannung und der Beruhigung dienende Wirkung der Amnestic vereiteln, die allein den schweren Nachteilen als ein Ausgleich gegenübersteht. Die mit der Hinaus­fchiebung zwangsläufig verbundene Ungewißheit und Beunruhigung würde ferner für die Straf­rechtspflege und den Strafvollzug weitere schwere Nachteile mit sich bringen.

Aus diesen Erwägungen hat der Reichsrat ge­glaubt, unter den gegebenen Verhältnissen von der Erhebung des Einspruchs ab= sehen zu sollen."

Damit schließt die Aussprache. Bei der folgenden

Abstimmung

beschließt der Reichsrat mit 44 gegen 19 Stim­men bei drei Stimmenthaltungen, Einspruch

gegen die vom Reichstag beschlossene Amnestie nicht zu erheben. Der Vorsitzende, Reichsjustiz minister Gürtner teilt mit, daß damit die nach der Verfassung vorgeschriebene 3 meidrittel­Mehrheit für das Amnestie Gesetz gegeben sei. Die vom Oberbürgermeister Sahm vorgelegte Entschließung wird mit Mehrheit an­genommen.

Im einzelnen haben die Länder bzw. Provinzen wie folgt über die Frage: Soll der Reichsrat Ein­spruch erheben? abgestimmt: mit Ne in: Preußen, Ostpreußen , Stadt Berlin , Pommern , Grenzmark Bosen- Westpreußen , Niederschlesien , Oberschlesien , Schleswig- Holstein , Westfalen , Hessen- Nassau , Rheinprovinz , Provinz Sachsen , Land Sachsen , Thüringen , Hessen , Hamburg , Mecklenburg - Schwe rin, Oldenburg , Anhalt, Bremen , Lippe , Lübeck und Schaumburg- Lippe .

Für den Einspruch stimmte von den Pro vinzen nur Brandenburg ; von den Län­dern stimmten für den Einspruch Bayern , Württemberg und Baden. Die drei Ent­haltungsstimmen wurden abgegeben von der Provinz Hannover sowie von den Län­dern Braunschweig und Mecklenburg - Streliz.

Die Auswirkung

Die neue Amnestie ist die größte feit November 1918. Eine genaue Angabe über die Zahl der Amnestierten fann noch nicht gegeben werden. In Preußen allein gibt es 15 000 Berurteilte aus politischen Gründen Bon ihnen verbüßen gegen­wärtig etwa 6000 ihre Strafe. Auf das Reich ausgedehnt erhöht sich diese Zahl auf rund 9000. Mit wenigen Ausnahmen werden sie jetzt das Ge­fängnis oder Zuchthaus verlassen.

Gleichzeitig kommt die Amneffie in Preußen 4000 bis 6000 personen zugute, die wegen Ber­gehen aus wirtschaftlicher Not Strafen verbüßen. Im gesamten Reichsgebiet ist mit einer Amnestie­rung von 20 000 Perfonen zu rechnen. Bon ihnen befinden sich etwa 10 000 in Haft. Sie werden

zum großen Teil noch vor Weihnachten die Frei­

heit wiedererlangen.

Winterhilfe auf Stottern

Statt Fleischlieferung nur ,, Verbilligung"

In der Dienstagfihung des Aeltestenrates des Reichstages gab der Reichsarbeitsminister Syrup nähere Auskunft über den Umfang der Winterhilfe, wie sie von der Regie­rung geplant ist und in der Kabinettssihung vom Mittwoch beschlossen werden soll.

Danach beschränkt sie sich nur auf Verbilli­gung von Lebensmitteln und Brenn­stoffen. während eine unentgeltliche Lieferung nicht gewährt werden soll. Bom An­fang Januar bis Ende März sollen alle Haupt­unterffügungsempfänger- also auch die Alleinstehenden ohne eigenen Haushalt- 4 Pfund Frischfleisch monatlich um je 30 Pfennig verbilligt erhalten. Doch soll es den Berechtigten anheimgestellt werden, an Stelle von Rind- und Schweinefleisch auch Rohfett, Schweine­schmalz, frische Wurst, Seefische, Milch oder Brot auf die verbilligten Karten zu beziehen. An Brennstoffen sollen diese drei Monate hindurch je 2 Zentner Kohle um 30 Pfennig verbilligt werden, wobei an Stelle von Kohle auch Torf oder Holz treten kann.

Ferner will die Regierung 3 uschüsse zu den öffentlichen Speisungen gewähren,

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Nazis fallen um!

die von freien Gesellschaften, von Berbänden oder von öffentlichen Stellen, besonders für Jugend­Alleinstehende veranstaltet

liche und werden.

Es handelt sich also im wesentlichen um die minimale Berbilligung von 1,80 m. pro Monat, von der 6,9 millionen Bedürftige erfaßt werden, was einer Gesamtausgabe von etwa 37 bis 38 Millionen Mark gleichkommt.

Die fozialdemokratische Fraffion be­antragte angesichts der Winzigkeit dieser soge­nannten Winterhilfe die Einberufung des Reichstages für Donnerstag, den 22. De­zember, damit er in die Cage fommt, die weiter­gehenden Beschlüsse des Haushaltsausschusses der Regierung vorzulegen.

Dieser Antrag wurde gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und kommunisten von allen übrigen Parteien einschließlich der Nationalsozialisten abgelehnt. Es dürfte daher vorläufig bei den vom Reichs­arbeitsminister mitgeteilten geringen Hilfsmaß­nahmen bleiben.

Der Erfolg

Ein Stück Anschauungsunterricht

Der 20. Dezember 1932 wird ein denk­würdiges Datum der deutschen Innenpolitik bleiben. Er bedeutete das Ende des Ver­fuchs, das deutsche Volk nach den Prinzipien eines seelenlosen Paragraphengeistes mit wirklichkeitsfremder Härte und bürokratischer regieren. Die Empfindungslosigkeit zu Amnestie ist Gesetz geworden, die Opfer der Terrornotverordnungen und der Sonder­gerichte werden aus den Kerfern entlassen. Gleichzeitig mit ihrer Befreiung fällt bis auf geringe Reste die ,, Rechts" sagung, deren Opfer sie wurden. Das notverordnete System übersteigerter Strafen und summarisch ur­teilender Sondergerichte hört auf.

Mit diesem 20. Dezember ist ein wichtiger Teil des Papen - Kurses in Deutschland liqui­diert, und wir möchten hinzufügen: er sollte für alle Zeit liquidiert sein. Herr von Schleicher, der gleichzeitig mit der Aufhebung der Terrornotverordnungen die Drohung ihrer Wiedereinführung in Reserve behalten hat, sollte ernsthaft überlegen, ob sich mit der Wiederholung des Bapen- Kurses etwas anderes erreichen läßt als die Wieder­holung seines 3usammenbruchs. Was ist das erstemal erreicht worden? Die sum­marische Härte der notverordneten Strafvor­schriften hat eine summarische Milde gegen die Verurteilten zur Notwendigkeit gemacht. Die Folgen wiegen ungefähr einander auf, aber übrig bleibt eine zweimalige Er­schütterung des gesamten Rechtsapparates, einmal nach der Seite der Strenge, einmal nach der Seite der Milde hin. Ob dies Schwanken von einem Extrem zum anderen der Rechtspflege und ihrem Ansehen dienlich ist, darüber möge sich Herr von Schleicher einmal aus dem Munde berufener Träger der Rechtspflege berichten lassen.

Diesen Schaden für die Rechtspflege aber haben allein die Väter der Terrornot­verordnung zu verantworten, nicht die Urheber der Amnestie, die diesen gesetzgebe­rischen Wahnsinn ausgleichen mußte. Und da sind wir bei einem wesentlichen Punkt. Gründlichst haben die Ereignisse der letzten Zeit einen Glauben widerlegt, den die Büro­fratie jahrelang genährt und gehegt hat, daß fie nämlich viel besser als das Parlament regieren fönne. Immer wieder hat man aus den Kreisen der Ministerialvertreter die Ansicht hören können, daß alle Weisheit und Sachkenntnis doch in den Ministerien fon­zentriert sei. Das Parlament hemme und verwirre nur die fachkundige Arbeit der Ministerien. Von den parlamentarischen Fesseln befreit, würde die Bürokratie eine mustergültige Gesetzgebung schaffen.

Was haben wir erlebt? Die Regierung Bapen, das war die entfesselte altpreußische Bürokratie. Noch nie ist in Deutsch = land so schlecht regiert worden wie in den sechs Monaten ihrer Machtvoll­tommenheit. Kein Erzeugnis dieser Regie­rung, das nicht absolute Unkenntnis der Volksseele, der tatsächlichen Verhältnisse ver­rät. Ein paar der schlimmsten Mißgeburten dieser größenwahnsinnig gewordenen alt­preußischen Bürokratie haben am 20. De­zember ihr Leben ausgehaucht. Ein Trüm­merhausen das ist das Resultat einer sechs Monate lang sich selbst überlassenen Ministerialbürokratie. Es ist wahrlich nicht zuviel gesagt: Das schlechteste Par­lament hätte es noch immer besser gemacht als diese eiskalte, para­graphenflirrende Ueberheblichkeit.

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Jahrelang find unsere Gegner mit der verlogenen Behauptung haufieren gegangen, daß die Demokratie die Wurzel allen llebels sei. Auch dieser Unsinn hat willige Ohren