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Morgen- Ausgabe

Nr. 601 A 295 49. Jahrg.

Redaktion und Berlag: Berlin SW 68, Lindenstr. 3 Ferniprecher A7 Amt Donhoff 292 bis 297 Telegrammadresse: Sozialdemokrat Berlin

Vorwärts

BERLINER

VOLKSBLATT

DONNERSTAG

22. Dezember 1932

Jn Groß- Berlin 10 Pf. Auswärts....... 15 Pf. Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe am Schluß des rebattionellen Teils

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Kümmerliche Winterhilfe

Vom Reichskabinett beschlossen

Das Reichskabinett befaßte sich am Mittwoch­nachmittag zunächst mit der Winterhilfe und führte die Beratungen hierüber zu Ende. Es wurde beschlossen, ein Winterhilfspro­gramm in Höhe von 35 millionen Mark nach den in der Oeffentlichkeit bereits bekanntgewordenen Grundsätzen durchzuführen. Dieses neue Hilfsprogramm bedeutet, daß auch die Hilfsbedürftigen ohne eigenen Hausstand nunmehr mit einbezogen sind, eine Verdoppelung der bisherigen hierfür vorgesehenen Ausgaben.

An zuständiger Stelle verweist man darauf, daß als weitere Hilfe noch das auf 9 bis 10 Mil­lionen Mark zu veranschlagende Notwerk der deutschen Jugend hinzugerechnet hinzugerechnet werden müsse. Weiterhin tommt die private Hilfstätigkeit hinzu, die allerdings in Deutschland naturgemäß nicht so durchgreifend sein tann wie etwa in den Ländern Amerika , England und Frankreich , die ihrerseits ftaatliche Hilfsmaßnahmen überhaupt nicht vorsehen und alles der privaten Hilfstätigkeit überlassen.

Die Winterhilfsmaßnahmen der Reichsregierung werden in Form eines gemeinsamen umfang reichen Erlasses des Reichsarbeitsministeriums, des des Reichsernährungsministeriums und Reichsinnenministeriums an die Länder ins Werk gesetzt. Der Erlaß. den Reichsarbeitsminister Dr. Syrup dem Reichskabinett in der am Mitt­wochnachmittag um 17 Uhr begonnenen Sigung vorlegte, sieht in großen Zügen folgendes vor: Mit Wirkung vom 2. Januar 1933 werden sogenannte Berbilligungsscheine gegeben, die zum Bezug von folgenden Bedarfs­artifeln berechtigen:

aus=

1. Biermal im Monat je 1 Pfund Frischfleisch verbilligt je Pfund um 0,30 M.; an Stelle von Frischfleisch kann frische, nichtgeräucherte Wurst treten.

Der ,, soziale General" und die Erwerbslosen

2. Zweimal im Monat je 1 Zentner Haus­brandkohle verbilligt um 0,30 m. je Zentner. 3. Einmal im Monat fann an Stelle von 1 Pfund Frischfleisch oder Wurst treten: 1 Pfund Schmalz, ein Brot oder 2 Pfund Seefische.

Bezugsberechtigt sind die Hauptunterstützungs empfänger in der Arbeitslosenunterstützung und Krisenfürsorge, ferner alle diejenigen, die aus der öffentlichen Fürsorge unterstützt werden. Die in Heimen untergebrachten Personen fommen nicht in Frage. Weiter sind bezugsberechtigt die Emp fänger von Zufagrenten in der Kriegsbeschädigten­fürsorge.

und

Ausgabestellen für die Berbilligungs­scheine sind wie bisher für die Hauptunterstützungs­empfänger der Arbeitslosenversicherung Krisenfürsorge die Arbeitsämter, für alle übrigen die Dienststellen der öffent übrigen die Dienststellen der öffent lichen Fürsorge. Bezugsstellen für die ver­billigten Waren sind alle Verkaufsstellen, die die betreffenden Waren führen und sich bereit er­flären, den Berbilligungsschein in Zahlung zu nehmen und den sonst gegebenen Vorschriften zu entsprechen.

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Diese Winterhilfe, deren Umfang wir im wefent­lichsten bereits gestern mitteilten, ist einfach fümmerlich. Kümmerlich ist auch die offiziöse Mitteilung darüber mit ihrem verlegenen Hin­weis auf die private Hilfstätigkeit! Ganze 35 Millionen Mark das ist alles! Nicht einmal zu einigen warmen Worten des Mitgefühls mit den unter der Winternot leidenden Erwerbslosen hat es gelangt. Diese trodene, nüchterne mit­teilung das ist das Weihnachtsgeschenk der Re­gierung des fozialen Generals" für die Erwerbs­lofen! Hier hat sich gegenüber dem Papen- Kurs nichts geändert! Die Liebesgaben für die Unter­nehmer bleiben aber für die Erwerbslosen ist

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Bapens großagrarischer Kurs bleibt!

kein Geld da! Der Finanzminister fließt vor Optimismus über die Lage der Reichsfinanzen über- aber nur, wenn nicht gerade die Winter­hilfeforderungen auf der Tagesordnung stehen!

Die Reichsregierung hat den Willen des Haus­haltsausschusses mißachtet, der eine umfangreiche wirkliche Winterhilfe forderte. Sie hat den fozialen Forderungen eine autoritäre Kümmerlich­teit entgegengestellt.

Ein Sofortprogramm für Arbeits­beschaffung

Das Reichskabinett befaßte sich nach der Ber­abschiedung des Winterhilfeprogramms in seiner mit Fragen Mittwochsitzung weiterhin Fragen der Arbeitsbeschaffung und mit allgemeinen handelspolitischen und wirtschaft. handelspolitischen und wirtschaft­lichen Fragen.

Ueber ein Sofortprogramm für die Arbeitsbeschaffung ist in vorausgegange­nen Besprechungen zwischen dem Finanzminister dem Krosigt, Wirtschaftsminister

von

Warmbold, dem Arbeitsbeschaffungskom­

missar Gerete und dem Reichsbankpräsidenten Luther eine völlige Einigung erzielt worden, und zwar dergestalt, daß für dieses Sofort­

programm 500 Millionen Mark bereit­gestellt werden sollen. Diese Einigung wurde vom Reichskabinett bestätigt.

Ueber die Einzelheiten des Programms und feine Finanzierung wird sich der Reichskommissar für die Arbeitsbeschaffung am Donnerstag aus­führlicher vor der Deffentlichkeit äußern und am Freitagabend im Rundfunk teden. Nach diesem Programm werden, wie verlautet, die öffent­lichen Körperschaften günstiger gestellt sein als das in den früheren Arbeitsbeschaffungs­maßnahmen der Fall war.

jede Verteuerung der Margarine ausgeschaltet werden kann.

Da diese Maßnahmen als erster Teil des neuen

Autonome Lebensmittelzölle und Kontingente- Verteueruug der Margarine Wirtschaftsprogramms auf die unter Mitwirkung

Ueber die dem Reichskabinett zur Beratung vor­gelegenen und zum Teil noch vorliegenden grund­fäglichen Fragen der Wirtschafts- und Han delspolitik erfährt die Telegraphen- Union von gutunterrichteter Seite noch folgende Einzelheiten:

Es handelt sich um die ersten Maßnahmen auf Grund der Einigung zwischen den Ministern Warmbold und Braun gelegentlich der Kabinettsbildung. Reichskanzler von Schleicher hatte in seiner Rundfunkrede die grundsägliche Klä­rung der Agrarfrage noch vor Weihnachten in Aussicht gestellt.

Handelspolitisch dürften die Verhandlun­gen mit Frankreich und die Entscheidungen nach Ablauf der Verträge mit Holland , Schweden und Südslawien im Vorder­grund stehen Während Holland gegenüber mit dem 1 Januar die Tarifabreden fortfallen und nur noch die reine gegenseitige Meistbegünstigung be­stehen bleibt, sollen bei den anderen Verträgen die wesentlichen landwirtschaftlichen Bin= dungen im Interesse der Veredlungswirtschaft, des Gartenbaus und der Forstwirtschaft besei­tigt bzw nicht wieder erneuert werden.

Für diese Erzeugnisse soll eine autonome Neuregelung der 3ölle bei gleichzeitiger Festsetzung von Zwischenkontingenten zur Berhinderung von Voreinfuhren erfolgen. Im Zusammenhang damit kommt die Aenderung an­derer autonomer Zölle in Betracht, um zu ver­hindern, daß statt der kontingentierten Erzeugnisse eine Erfazeinfuhr angeregt wird.

Da mit den genannten Handelsverträgen noch nicht alle in Betracht kommenden Bindungen er­faßt sind, ist auch die Klärung des Vorgehens in diesen Fällen erforderlich. Auch hier kommen vorläufige Kontingentierungen in Betracht, soweit nicht mit einem schnellen befrie­digenden Abschluß von Verhandlungen gerechnet werden kann.

Nebenher gehen innere Maßnahmen, so außer der Klärung der Frage des Voll­ffredungsschuhes vor allem die Neuregelung der Fettwirtschaft, die mit dem Fortfall der schwedischen Zollbindung für Speck und Schmalz am 15. Februar möglich wird. Der Zweck ist die größere Heranziehung der einheimischen Fettherstellung für die Bedarfsdeckung, etwa nach dem Muster Amerikas und Hollands . Im Mittelpunkt steht der 3 wang zur Bei mischung einheimischer Fette, vor allem Butter, zur Margarineerzeugung, wahrscheinlich bei gleichzeitiger Kontingentierung der Margarinefabrikation. Man ist der Ansicht, daß die Margarinefabriken wegen der Bei­mischung der hochwertigen deutschen Fette auf die billigsten ausländischen Rohstoffe zurück­greifen und auf die bisher eingeführten höher= wertigen ausländischen Rohstoffe verzich= ten können, so daß eine wesentliche Verteuerung der Margarine nicht befürchtet zu brauche.

werden

Außerdem soll Vorsorge getroffen werden, daß für die minderbemittelten Schichten überhaupt

des Reichskanzlers erreichte Einigung zwischen Warmbold und Braun zurückzuführen sind, kommt im Kabinett im wesentlichen nur noch die Klä­rung der technischen Einzelheiten in Frage. Angesichts der umfassenden Bedeutung aller dieser handelspolitisch und binnenwirtschaft­lich gleich schwierigen Fragen ist nicht damit zu rechnen, daß die Ergebnisse der Beratung alsbald in allen Einzelheiten bekanntgegeben werden.

Das Gesicht des Kabinetts Schleicher enthüllt sich rasch! Schleicher hat nicht nur die Personen des kabinetts Papen übernommen, sondern auch den großagrarischen Kurs! Die Politik der autonomen Lebensmittelzölle und der Kon­tingente wird fortgesetzt. Der wirtschafts- und handelspolitische Wahnsinn ist durch Papens Sturz nicht beseitigt.

Dazu wird der notleidenden Bevölkerung noch eine Berteuerung von Margarine und Schmalz beschert! Auf die Spekulationen, daß bei dem neuen Beimischungszwang eine Ver­feuerung nach Möglichkeit vermieden werden soll, geben wir gar nichts die Erfahrungen sprechen dafür, daß eine Verteuerung der Margarine, aljo eine Beschlechterung der Fettversorgung der not­leidenden Massen im Notwinter eintreten wird! Das ist die Kehrseite zu der fümmerlichen Winterhilfe der Regierung Papen ! Das Groß­agrariertum diffiert und das notleidende Bolk zahlt die Zeche!

Der foziale General" ist ein agrarischer Reichs­fanzler wie faum einer zuvor!

Abschied

Karl Kautsky über Eduard Bernstein

Wir hatten den Genossen Karl Kautsky gebeten, das Andenken Eduard Bernsteins am heutigen Tage durch einen Aufsatz im ,, Vorwärts" zu würdigen. Genosse Kautsky. der durch eine Indisposition verhindert war, unseren Wunsch zu erfüllen, verwies uns auf einen Brief, den er an Genossen Professor Dr. Chajes als dem Vertreter der Anverwandten geschrieben hat und dessen Veröffentlichung uns der Empfänger dankenswerterweise gestattet. Redaktion des ,, Vorwärts".

Lieber Freund Chajes! Obwohl augenblicklich selbst etwas leidend, muß ich Ihnen doch wenigstens einige Zeilen schreiben, um Ihnen zu danken für Ihren vorbereitenden Brief und das so schmerzliche Telegramm. Aber vor allem muß ich Ihnen und durch Sie dem ganzen Kreis derer, die unserem Ede nahestanden, ausdrücken, wie sehr ich an Ihrer Trauer teilnehme, wie schwer ich den Verlust empfinde, der uns alle getroffen.

Er war mein bester, mein ältester Freund in der Partei, durch mehr als ein halbes Jahrhundert. Wir waren in engster, herz­lichster Freundschaft verbunden, ehe ich noch so glücklich war, Bebels und Engels' Freund­schaft zu gewinnen. Gerade als wir uns in Zürich zu vereinter Arbeit trafen, waren wir beide auf dem Wege, uns zum konsequenten Margismus durchzuringen. Gemeinsam voll­zogen wir das, aber er dabei immer als der Führende voran, als der Aeltere, der Er­fahrenere, derjenige, der die Schule der großen deutschen Sozialdemokratie durch­laufen hatte, der gegenüber damals die der österreichischen Sozialdemokratie als bloße Dorfschule dastand.

Und für das, was wir gemeinsam ge­wannen, kämpften wir dann gemeinsam, und diese Kampfgemeinschaft schloß uns aufs innigste zusammen sowie auch mit Engels und Bebel, die wir alle gleichen Sinnes

waren.

Dann kam nach Engels' Tod die Periode des Revisionismus, der Meinungsverschieden­heiten zwischen uns beiden, die wir bis dahin ein Herz und eine Seele in allen Partei­fragen gebildet hatten.

Um so mehr wurde jetzt die Meinungsver­schiedenheit zu schroffstem Gegensatz. Je mehr der eine von uns auf den anderen ge­baut, desto mehr fühlte er sich jetzt durch den anderen verletzt und im Stich gelassen. Es war eine entsetzlich schmerzliche Zeit. Aber zum Glück, trotzdem sie nicht wenige Jahre dauerte, doch nur eine Episode.

In der Zeit des Sozialistengesetzes hatten wir uns gefunden, in einer anderen schweren Krise fanden wir uns wieder: in der Zeit des Weltkriegs. Er spaltete die Partei, aber er vereinte Ede und mich in neuer herzlicher Gemeinschaft. Wieder wurde er derjenige meiner Genossen, der mir am nächsten stand. In allen Peripetien des Weltkriegs, der Re­volution, der weiteren Entwicklung Deutsch­ lands und der Welt kam keine Frage mehr auf, die uns trennte, haben wir stets den gleichen Standpunkt eingenommen.

Da kam auch die persönliche Freundschaft wieder zu voller Geltung, die bei mir ent­sprang aus dem Gefühl wärmster Sympathie für den Mann, der größte Liebenswürdigkeit, Selbstlosigkeit, Geist und Humor zu vereini gen wußte mit der Kühnheit und Kraft eines Kämpfers, der alles einsetzt für seine Ueber­zeugung und den mit dem Scharfsinn und der Unermüdlichkeit des Denkers und For­schers ein unstillbarer Durst nach Wahrheit beseelt.

Wenn ich vor meinem geistigen Auge das Leben meines teuren unvergeßlichen Ede wieder Revue passieren lasse, wird das zu