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Morgen- Ausgabe

Nr. 603 A 296 49. Jahrg.

Redaktion und Berlag: Berlin   SW 68, Lindenstr. 3

Serniprecher 7 Amt Donhoff 292 bis 297 Telegrammabreffe: Sozialdemokrat Berlin  

Vorwärts

BERLINER

VOLKSBLATT

FREITAG

23. Dezember 1932

Jn Groß Berlin   10 Bf. Auswärts....... 15 Pf.

"

Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe am Schluß bes redaktionellen Teils

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands  

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Abschied und Gelöbnis

Dem Menschen und Kämpfer Eduard Bernstein  

Wir haben gestern Abschied von Eduard Bernstein   genommen. Von dem Menschen und Mitkampfer nicht von seinem Geiste. Er wird weiter wirken, Teil der großen Tradition, auf der die sozialistische Bewe­gung festgegründet steht!

Die Halle im Krematorium Wilmersdorf   ver­mochte die Zahl der Trauergäste nicht zu fassen. Die Internationale, die Partei, die Gewerkschaften, die Genossenschaften, vor allem aber auch Eduard Bernsteins   Berliner   Freunde und Mitstreiter maren so zahlreich erschienen, daß die Halle ge= schlossen werden und mancher umfehren mußte. Unter den Trauergästen sah man die Mitglieder des Parteivorstandes und führende Gewerkschafts­genossen, sowie zahlreiche Vertreter der Wissenschaft und des öffentlichen Lebens, unter ihnen auch die diplomatischen Bertreter der Republiken Spanien  und Finnland  , Araquistain und Wuolijofi.

Die Trauerfeier

Ein Kranz roter Nelten ruht auf dem schlichten Sarg im Krematorium Wilmersdorf, der die sterb­liche Hülle unseres von uns gegangenen Kämpfers, Lehrers und Genossen Eduard Bernstein   birgt. Unendlich groß ist die Zahl der Kränze, die ihm gewidmet wurden.

Die Partei dankt dem ,, Lehrer und Vorfämpfer", der ,, Borwärts" dankt ,, dem treuesten Mitarbeiter", das Reichsbanner dankt unserem Kameraden, dem Streiter für Volksrecht und Freiheit". Als der Sarg in die Halle getragen wurde, stehen draußen die Bannerträger der Partei und die Kameraden des Reichsbanners als Ehrenwache. Am Sarge   haben sich Reichsbannerkameraden und Mädchen und Jungen von der Sozialistischen Ar­beiterjugend aufgestellt. Die Jugend, die ihn ver­ehrte, und die er, der Alte, so liebte und förderte, erweist ihm den letzten Ehrendienst. Die Halle ist ausgeschmückt mit den roten Fahnen, die das Zeichen der Freiheit, unsere drei Pfeile, tragen. Das Banner des Bezirksverbandes Berlin   steht zu Häupten des Sarges. Rund um die Halle aber sind die Banner der Kreise und Abteilungen der Sozialdemokratie aufgebaut. Die Träger der roten Fahnen ehren den Toten, der für ihre roten Fahnen gelebt und gekämpft hat!

Beethovens Trauermarsch aus der Eroika er­tönt weihevoll von der Orgel, an der Johannes Kurth sitzt. Es folgt Air" von Mattheson  . Ein Neffe des Toten, Silberstein, spielt das Cello. Das Ebert- Manz- Quartett singt ergreifend ,, Pilger auf Erden" von Cornelius.

Für den Vorstand der Sozialdemokratischen Partei, den Bezirksverband von Berlin   und den Bundesvorstand des ADGB.   spricht

Friedrich Stampfer  :

Minuten nur sind uns gegeben für das zu danken, was dieser Mann in Jahrzehnten uns

Schmerz des Alleinseins zu tragen hätte, als wenn dieses traurige Los der geliebten Frau zu gefallen wäre.

Er hat viel von der Not gesprochen, aber immer nur von der Not der andern, nicht von der eigenen. Mit welcher sokratischer Heiterkeit hat er doch seine Jugend geschildert und wie oft mag diesem Sohn des Boltes, des Volkes von Berlin  , die Not durch die Scheiben geblickt haben!

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Das Berlin   von 1850-1870 mar vom Geiste der modernen Arbeiterbewegung nur wenig berührt.

Diese große Bewegung ist feineswegs über Nacht geworden. Erst nach jahrzehntelanger geistiger. Vorbereitung ist ihr der Durchbruch in die Massen gelungen. Daran zu erinnern ist nicht unnüz in einer Zeit, in der sich jeder kleinbürger­tumult für eine geschichtliche Bewegung ausgibt. Es ist leicht, zwischen einer platten Demagogie und versinkenden Mittelschichten eine partei­politische Verbindung auf Zeit herzustellen. Aber es war eine ungeheure Aufgabe, von den höchsten geistigen Höhen zu den tiefsten sozialen Tiefen die verbindende Brücke zu schlagen und damit die Fundamente zu legen für den Bau einer neuen Welt.

In dem Hause des Baters, des Lokomotivführers Bernstein, waren weder das Kommunistische Manifest, noch die Schriften Ferdinand Lassalles

zu finden, und es war mehr ein Zufall, daß eines Tages in einem unpolitischen Verein, dem der junge Tages in einem unpolitischen Verein, dem der junge Bankangestellte angehörte, der Sozialdemokrat Fritsche über die Ziele seiner Partei sprach. Es war kein Zufall, daß der Funke in Eduards empfänglicher Seele zündete. Was ihn damals in die Reihen der Sozialdemokratischen Partei Eise­nacher Richtung führte, war nicht Klassenbewußt­sein, sondern rein menschliche Solidarität mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten. Es war der Sinn für Gerechtigkeit, Freiheit, Menschlichkeit, der den tiefsten Grundzug seines Wesens bildete bis zu seinem letzten Atemzug.

Dem Bruderkrieg zwischen Eisenachern und Lassalleanern folgt in Gotha   1875 die erste Einigung. Drei Jahre später führte ihn das Sozialistengesetz zu den Verbannten in der Schweiz  . Hier erlebt er, als Redakteur des Sozialdemokrat" in vorderster Reihe fämpfend, das Heldenzeitalter der Partei. Hier aber auch gründet er seinen geistigen Lebensbund mit Karl Kautsky  , und hier erst

wird aus dem Eisenacher der Marrist. Man tut der Größe von Marg und Engels feinen Abbruch, wenn man feststellt, daß der Margismus ein Geistesschatz für wenige geblieben wäre, ohne die Arbeit von K. Kautsky   und Ed. Bernstein. Ihnen erst ist es gelungen, mit den geistigen Energien, die in dem Wert von Marg

und Engels aufgespeichert waren, eine politische Massenbewegung zu speisen. Das ging nicht ohne Umschaltungen und Reibungen. Doch sollten die großen Konflikte erst später kommen. Marg und Engels erlebten sie nicht mehr.

Zwei Jahrzehnte hat Eduard Bernstein   im Eril verbracht; das erste in der Schweiz  , das zweite in England. Dieses zweite Jahrzehnt brachte

den Streif um den Revisionismus. Der mutige Vorstoß, den Bernstein unternahm, war weder in seiner Absicht ein Angriff auf den Marxismus, noch war er es in seiner Wirkung Die fünftigen Geschichtsschreiber werden feststellen können, daß in diesem Streit der Margismus von seiner Kraft nichts einbüßte, viel­mehr an Kraft noch gewann. Sollte die große Lehre nicht zum Dogma entarten, so bedurfte sie der Bewegung, und wie der Erdboden, um Frucht zu tragen, von Jahr zu Jahr gepflügt werden muß, so bedürfen auch die großen Wahrheiten der Menschheit von Zeit zu Zeit der pflügenden Kraft des Zweifels, um fruchtbar zu bleiben.

Und noch ein anderes fann an dieser Stätte, wo jeder Streit ruht, ausgesprochen werden:

In jenem Kampf für und gegen den Re vifionismus gewann die Partei ihre gegenwärtige Gestalt. Sie blieb die Partei der marristischen Methode und der Demokratie im Gegen­satz zu einer Partei des marristischen Dogmas

Arbeitsbeschaffung gefährdet!

Unerfüllbare Bedingungen für die Gemeinden Die Bürokratie sabotiert

Gestern hat Herr Gerefe, Reichskommissar für die Arbeitsbeschaffung, sein Programm be­tanntgegeben. Der Hausbesit erhält zu all den bereits eingesteckten Liebesgaben ein neues Ge­schent von 50 Mill. Mart. Außerdem werden 500 Mill. M. Reichskredite für die öffentliche Ar­beitsbeschaffung zur Verfügung gestellt, für die als Kreditnehmer in erster Linie die Gemeinden in Frage kommen. Wieweit dabei die nicht in An­spruch genommenen Steuergutscheine verwandt werden, konnte Gereke noch nicht sagen. Darum und über die Bedingungen der Kreditaufnahme der Gemeinden fämpft er noch mit dem Finanz­und dem Wirtschaftsministerium und der Reichs­bank.

Allem Anschein nach wird aber erwogen, den Gemeinden überhaupt teine Steuer= gutscheine zu geben, so daß die Gemeinden den ganzen für die Arbeitsbeschaffung aufge= wandten Betrag zurückzuzahlen hätten und in dieser Richtung scheint die Bürokratie der ge=

geworden iſt, Kunde zu geben von Kampf und 150 Stimmen Mehrheit

Berfolgung, Verbannung und

Don

Treue, Opfermut, Bekennermut, die dieses Kämpferdafein erfüllten.

Ja, wäre er nicht einer der Großen im Geiste gewesen, seine reine Menschlichkeit allein hätte alle diese Kränze verdient, die seinen Sarg schmücken.

Und wie könnten wir von Eduard Bernstein  sprechen, ohne Reginens zu gedenken, und der wunderbaren Lebensgemeinschaft dieser beiden Menschen, die vor wenigen Jahren der Tod zerriß! Da war es, daß sich der Zurückgebliebene aus feiner tiefen Trauer erhob mit dem Trost des Philosophen, es sei doch besser, daß er den

Paul Boncours Erfolg in der Kammer Eigener Bericht des Vorwärts" Paris  , 22. Dezember. Die französische   Kammer hat der Regie­rung Paul Boncour   mit 365 Stim­men gegen 215 Stimmen bei einigen Enthaltungen das Vertrauen aus­gesprochen. Die Mehrheit beträgt somit

150 Stimmen.

( Siehe auch zweite Seite.)

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nannten Stellen von der Privatwirtschaft scharf gemacht zu werden. Dadurch wird auch das Arbeitsbeschaffungsprogramm des Schleicher­Kabinetts charakterisiert als ein Kampfprogramm der kapitalistischen   Wirtschaft gegen die Gemeinden.

Anderthalb Milliarden wurden der Privat­wirtschaft als Steuergeschenke gegeben, und 700 Millionen wurden als Einstellungsprämie bereit gehalten, aber die Unternehmer machten keine ,, private" Arbeitsbeschaffung. Jetzt sollen die Gemeinden mit Krediten die Wirtschaft an­furbeln durch Bergebung hoher Aufträge; sie aber müssen die Lasten tragen und die Steuergutscheine bleiben weiterhin der Privat­wirtschaft reserviert, die sowieso die Gewinne aus den Gemeindeaufträgen einstedt.

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Geradezu skandalös ist die Subventionspolitik gegenüber dem Hausbesig, der in we­niger als einem Jahre 105 Millionen in bar und 235 Millionen an Steuergutscheinen erhielt, aber nur die Barsubventionen wurden zu Reparatur­arbeiten verwandt, die den Substanzwert und die Renten des Hausbesizes erhöhen müssen.

Will man ernsthaft glauben machen, daß die Gemeinden, die heute ihre fälligen Kredite nicht zurückzahlen, die fälligen Tilgungs- und Zinsen beträge für ihre laufenden Schulden nicht auf­bringen können, daß sie eine neue Schulden­last von einer halben Milliarde über­nehmen können? Ist nicht in fast allen preußischen Städten die Neuaufnahme von Schulden, ja selbst die Bezahlung von Rechnungen für ausgeführte Arbeiten von den staatlichen Aufsichtsbehörden ver­boten worden? Die Umschuldung der kurzfristigen Gemeindekredite ist vor mehr als einem Jahre von

der Reichsregierung versprochen worden, ohne daß bisher etwas in dieser Richtung geschehen ist. Und dann sollen die Gemeinden neue Schulden über­nehmen!

Diefer finanzpolitische Unfug wird geradezu zu einem unerhörten Schlag gegen den kom­munalkredit, gegen die Kommunalwirtschaft überhaupt, wenn zur Tatsache werden sollte, was uns von wohlinformierter Seite mitgeteilt wird: daß nämlich diesen neuen Arbeits­beschaffungskrediten der Borrang vor allen an­deren Schulden eingeräumt werden soll.

Das wäre nicht nur ein Verbrechen an der Ge­meindewirtschaft, nicht nur ein unerhörter Ver­stoß gegen Treu und Glauben, der alle Gläubiger von Kommunalkrediten aufs höchste erregen würde, das wäre eine glatte Sabotage der Arbeits­beschaffung überhaupt. Denn unter diesen Be­dingungen wäre es von jeder Gemeinde finanz­wirtschaftlich unverantwortlich, diese Kredite in Anspruch zu nehmen.

Aus alledem geht klar hervor: das Schleicher­Kabinett( oder wenigstens die verantwortlichen Leute im Finanz- und Wirtschaftsministerium) find so privatwirtschaftlich eingestellt, so feindselig gegenüber den Ge­meinden, daß sie in ihrer Verblendung selbst das öffentliche Arbeitsbeschaffungsprogramm ge­fährden. Aber Arbeitsbeschaffung ist das Gebot des Tages: darum muß sofort die Ausgabe der Steuergutscheine als Beschäftigungsprämien ein­gestellt werden. Der entsprechende Betrag ist den Gemeinden zur Verfügung zu stellen, ohne Zinsen und möglichst auch ohne Rückzahlungsverpflich tung! Sonst tommt es überhaupt nicht zur Ar­beitsbeschaffung durch die Gemeinden.