Morgen- Ausgabe
Nr. 29 A 15 50. Jahrg.
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BERLINER
VOLKSBLATT
MITTWOCH
18. Januar 1933
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Sozialversicherung in Nöten
Wissells deckt die Schwierigkeiten auf
3m Haushaltsausschuß des Reichsfags wurde gestern die allgemeine Aussprache so weit geführt, daß heute Mittwochvormittag der Reichswirtschaftsminister Warmbold, wie er ankündigte, auf die an ihn gestellten Fragen antworten fann.
Die Nationalsozialisten waren an der geftrigen Debatte überhaupt nicht beteiligt, fie schwiegen zu allen Wirtschaftsfragen. Man hatte den Eindruck, daß sie mit anderen Problemen beschäftigt waren; sie waren meist im Haushaltsausschuß überhaupt nicht anwesend, doch gegen Schluß der Beratungen fanden sie sich wieder ein.
Nach einer Art Nachlese, also einer Debatfe zn Einzelfragen, die für das Zentrum durch den Abg, Schlad erledigt wurde, der ebenfalls den Regierungsoptimismus kritisch beleuchtete, tam es zu einer grundsätzlichen Stellungnahme der Sozialdemokraten, zu den vom Arbeitsminister Syrup angeschnittenen sozialpolitischen Fragen. Abg. Wissell( Soz.)
besprach zuerst die Verschlechterung der Leistungen in der Krankenversiche. rung, die mehr als 42 Proz. beträgt. Das müsse sich auf die Volksgesundheit bedenklich auswirken. Auch in der Unfallversicherung seien die Leistungen zweimal abgebaut worden. Jetzt bestünden sogar Bestrebungen, die Unfallverhütung abzubauen. Weiter fragte Wissell, wie es mit der Lage der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaf ten stehe, die mit ihren Beiträgen erheblich im Rückstande seien. Dann wies er darauf hin, daß man in der Invalidenversicherung sehr stark von den Vermögensreserven zehre. Man müsse befürchten, daß die Invalidenversicherung auf diesen Beg immer weiter gedrängt werde.
Zur Arbeitslosenversicherung müsse deutlich festgestellt werden, daß das ganze Versicherungssystem zerschlagen morden sei, von einer Versicherung fönne man überhaupt nicht mehr sprechen. Der Minister habe angegeben, daß bei der Arbeitslosenversicherung für 1932 rund 1020 Millionen Mark Beitragseinnahmen sich ergeben hätten und 721 Millionen Versicherungsausgaben. Diese Ziffern feien irrig. Bei den Versicherungsausgaben jeien 55 Millionen für die Aussteuerung der Krisenfürsorge und
25 Millionen für den freiwilligen Arbeitsdienst eingerechnet, beide Ausgaben feien an sich feine Ungelegenheit der Arbeitslosenversicherung.
Abg Wissell wies weiter darauf hin, daß die Sozialdemokratie schon lange die Zusammen fassung der Krisenfürsorge und der kommunalen Wohlfahrtspflege für Arbeitslose zu einer einheitlichen Arbeitslosenfürsorge verlangt habe. Wie stehe es damit? Dabei wäre auch das Problem einer Krankenversicherung und einer Sicherung der in den anderen Zweigen der Sozialversicherung erworbenen Anwartschaft für diejenigen zu lösen, die heute als Wohlfahrtserwerbslose der Gefahr des Erlöschens der Anmartschaft ausgesezt sind.
Weiter erörterte Wisselt das Arbeits. beschaffungsprogramm der Regierung. wobei er es auf seine wirkliche Größe zurückführte. Arbeitsbeschaffung fei gut, aber besser sei es, zu versuchen, die vorhandenen Ar= beitsmöglichkeiten zu erhalten. Dazu sei die 40- Stunden- Woche durchaus brauchbar. Wie stehe es mit der Gefahr, daß
Einstellungsprämien von einzelnen Konzernleitungen auf die Art einkassiert werden, daß sie in anderen Betrieben ihres Machtbereiches eine entsprechende Anzahl Arbeiter enflaffen? Solche Fälle find bereits bekanntgeworden.
Die wirklichen Reichtumsquellen Deutschlands lägen nicht in Kohlengruben oder im Körnerbau, sondern in der unübertroffenen arbeitstech. nischen Schulung des deutschen Volkes. Diese müsse erhalten werden, statt daß man schwerindustrielle oder großagrarische Interessen
ſtüge.
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Regierung muß bestätigen
Verlegene Antworten
Auf die Fragen Wissells wurde von den zuständigen Abteilungsleitern des Reichsarbeitsministeriums sofort geantwortet. Man mußte zugeben, daß die Unfallversiche rung in den Jahren 1933 und 1934 noch schwere Sorgen machen werde, denn die Ausgaben finken langsamer als die Einnahmen, da diejenigen Unternehmen, die noch beschäftigt sind, auch diejenigen Lasten mitzutragen hätten, die aus seither stillgelegten Betrieben erwachsen jeien. Bei den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften würden die Schwierigkeiten noch größer sein, selbstverständlich müßten die aufge=
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laufenen Postvorschüsse abgebaut werden, aber das werde nicht einfach sein.
Die Invalidenversicherung sei in der schwersten Lage. Es sei richtig, daß sie bereits ein Viertel ihres Vermögens habe zusetzen müssen, um ihre Ausgaben tragen zu können. Auch 1933 werde die Invalidenversicherung monatlich mindestens 10 Millionen Mart aus ihrem Vermögen verbrauchen. Das werde 1934 wahrscheinlich sogar auf 15 Millionen Mart monatlich steigen. Die Sanierung der Invalidenversicherung sei ein Problem, das bald gelöst werden müsse. Die Invalidenversicherung sei auf die Dauer im Umlageverfahren nicht zu halten.
Aus Charbin wird gemeldet: 30 000 Mann chinesische Truppen rüden auf Tungliao ( nordwestlich von Mufden) vor. Sie beabsichtigen. Mukden anzugreifen. Man sieht in der Mandschurei der Entwicklung der Lage mif großer Besorgnis entgegen.
In der Neunzehnerfommission der Völkerbundsvollversammlung soll offenbar mit China ein falsches Spiel getrieben werden. Am Dienstag ist die Antwort Japans aut die abgeänderte Entschließung des Komitees aus Tokio eingetroffen. Wie zu erwarten war, nimmt die japanische Regierung die neue Entschließung an, wünscht aber, daß in das vorgesehene fleine Berständigungskomitee für die Verhandlungen mit den Parteien nur Mitglieder des Bölferbundes einbezogen werden sollen. Der Entwurf sah vor, daß die Vollversammlung Mitglieder und Nichtmitglieder einbeziehen kann. Japan will aber vor allem nicht, daß Amerika in dem Komitee vertreten ist und somit die letzte und kleinste Möglichfeit irgendeines Druces auf die Entscheidungen ausschalten Es besteht nun die Absicht, wenn eine Einigung über die Resolution einmal mit Japan erfolgt ist, den Chinesen unter Drud diese Einigung aufzuzwingen, obwohl die chinesische De legation vor der Sigung des Neunzehnerkomitees teinerlei Kenntnisse von den ungeheuer wichtigen Abschwächungen des ursprünglichen Resolutionsentwurfs gehabt hat.
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Für das illoyale Verhalten des Bölkerbundes China gegenüber trägt vor allem der demnächst scheidende Generalsekretär Sir Eric Drum mond die volle Verantwortung. Er ist es gewesen, der hinter dem Rücken des Vertreters Chinas und wohl übrigens der meisten Kom miffionsmitglieder, seine Zustimmung zu den von Japan verlangten Verschlechterungen des Resolutionsentwurfs gegeben hat. Daß der belgische Kommissionsvorsitzende y mans dieses Borgehen zumindest nachträglich gedeckt hat, ist für ihn keine Entschuldigung. Diese diplomatische Kulissenschiebung, die übrigens einen Affront sowohl für Amerika wie für Rußland bedeutet, ist durch einen scharfen Artikel des, Manchester Guardian" enthüllt worden. Durch seine Beigerung, die abgeänderte Entschließung anzunehmen, hat der chinesische Vertreter Dr. Jen das Spiel durchkreuzt und die Mächte gezwungen, endlich Farbe zu bekennen.
In dieser Situation tommt China einmal die träftige militärische Gegen offensive feiner Truppen in den Nordprovinzen. ferner aber auch der endlich gefaßte Entschluß
Amerikas zugute, aftio gegen den japanischen Annegionismus Stellung zu nehmen. Hätte sich Hoover zu seiner jezigen Haltung, die übrigens gestern von Roosevelt ausdrücklich gebilligt
worden ist, ein Jahr früher entschlossen, dann wäre vielleicht manches anders gekommen.
Indem Sir Eric Drummond zugunsten Japans eingriff, handelte er offensichtlich im Einvernehmen mit den englischen Konservativen, die nach wie vor aus handelspolitischen, vielleicht auch aus antibolschemistischen Gründen jede Stellungnahme gegen die japanischen Militaristen ängstlich vermeiden und, wie die gestrige Lon doner Tory- Presse beweist, auch jetzt noch bemüht sind, die Japaner in Schuß zu nehmen.
Die aus Washington und Paris hierher übermittelte Nachricht, Amerika habe den euro päischen Regierungen mitgeteilt, daß es die Weiterführung der Genser Verhandlungen auf Grund
des Lytton- Berichts wünsche und den mit Waffengewalt von Japan geschaffenen Zustand nicht anerkennen werde, hat hier start verstimmt. Jm japanischen Außenministerium wird erklärt: Amerika trage die Verantwortung(!) dafür, daß sich die japanisch- amerikanischen Beziehungen in dem Augenblic 3uspihen, in dem über den Genfer Kooperatioplan fortschreitend verhandelt werde.(?) Japan müsse ein derartiges Borgehen Amerikas als beabsichtigt unfreundlich und als eine„ gewollte Trübung des fich klarenden Waffers" ansehen.
Tokio - Instruktionen nach Genf
Das Kabinett hat die der japanischen Delegation in Genf telegraphisch zu übermittelnden Instruktionen gebilligt, in denen, wie verlautet, gegen die Einladung der Nichtmitglieder des Bölkerbundes zur Teilnahme an den Arbeiten des Neunzehnerausschusses Widerspruch erhoben wird. Auch soll Japan verlangen, daß der Neunzehnerausschuß sich jedes Eingreifens in die direkten Verhandlungen zwischen China und Japan
enthalte.
Hoovers Philippinen- Veto überstimmt
Der Senat nahm am Dienstag mit 3 weidrittel- Mehrheit die Philippinen - Borlage an, wodurch das von Hoover bereits im Abgeordnetenhaus ohne Erfolg eingelegte Beto endgültig über stimmt worden ist.( Hoover hatte gegen das Gesez, durch das den Philippinen die Un= abhängigkeit ab 1943 gewährt wird mit der Begründung Einspruch erhoben, daß sie zur leich ten Beute Japans werden mürben. Red.)
Und wieder Wahlen!
Aber was dann weiter?
Und wer das Lied nicht weiter kann, der fängt es wieder vorne an.
Seit die Feinde der Demokratie in Deutsch land obenan sind, leiden wir an einem Uebermaß von ,, Demokratie"! Würde das Wesen einer demokratischen Staatsordnung darin bestehen, daß das Volk alle Nasen lang um seine Meinung gefragt wird, so wäre Deutschland jetzt das demokratischste Land der Welt. Die Landtagswahl in einem Zwergstaat, der weniger Einwohner hat als ein mittelgroßer Bezirk in Berlin , wird mit einer Spannung erwartet, als entscheide sich bei ihr das Schicksal der Welt- und tatsächlich wird der Wahlausfall für eine Partei, die programmatisch das allge= meine Wahlrecht verachtet, zum entscheidenden Faktor ihrer Politik. Nachdem die Nationalsozialisten in Lippe einen Teil ihrer Novemberverluste wieder wettmachen konnten, haben sie sich, wie es scheint, entschlossen, eine neue Reichstagsauflösung zu riskieren und sich in einen neuen Wahlkampf zu stürzen.
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Auch dieser neue Wahlkampf fann aber die Entscheidung nicht bringen, um die sich die regierungsunfähige., nationale Rechte" schon seit Jahr und Tag herumquält. Die ebensowenig die Mehrheit erobern, wie ihnen Nationalsozialisten werden im Februar 1933 das im Juli und November 1932 gelungen ist. Sie werden nach der dritten Reichstags= wahl, die in Deutschland innerhalb von zwölf Monaten ausgefochten werden soll, ebenso unschlüssig und ratlos dastehen wie nach der ersten und nach der zweiten.
Die Nationalsozialisten spielen mit ihren Anhängern und mit dem ganzen deutschen Bolt Schindluder. Eine Partei, die eine folche Stärke erreicht hat, wie die ihre, müßte wenigstens einen Versuch machen, ideell die Führung zu übernehmen; sie müßte mit bestimmten sachlichen Forderungen hervortreten, von deren Erfüllung sie ihre Beteiligung an einer Regierung abhängig macht. Anstatt dessen hat sich ihr Führer auf die Prestigeforderung versteift, daß er Reichskanzler werden müsse, wofür er sich bereit zeigt, sich mit einem beliebig großen Kreis feiner Leute" zu umgeben: mit Schleicher als Wehrminister, Neurath als Außenminister und Papen als Inhaber irgendeines anderen Portefeuilles. Diese Versteifung auf die Personenfrage weckt den Verdacht, daß es den Nationalsozialisten gar nicht auf sachliche Erfolge, sondern nur auf die Vorbereitung eines Versuchs der illegalen Machtergreifung antommt. soll der deutsche Hitler soll Putschkanzler werden, der sich eines Tages über den Reichspräsidenten , die Ministerkollegen und das sowieso!- über den Reichstag hinmegießt, so daß er eines Tages als Selbstherrscher aller Deutschen dasteht.
Die erste Voraussetzung für das Gelingen dieses Plans ist die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Zu ihr scheint Herr von Hindenburg in feiner Weise geneigt, und es ist nicht einzusehen, wieso eine Neuwahl ihn dazu geneigter machen sollte. Man wird also nach der Wahl nicht weiter sein, als man vor ihr gewesen ist. Die Wirren werden fortdauern, und die Wirtschaft darf an ihnen weiter zugrunde gehen!
Die Kopflosigkeit auf seiten der Regierung ist nicht geringer als die auf seiten der rechtsradikalen Opposition. Die kommende Reichstagsauflösung wird die vierte seit September 1930 sein, die ohne Sinn und Einer ohne Ziel unternommen wird. Sinn hat eine Parlamentsauflösung nur dann, wenn die Regierung bei den Wahlen