Nr. 15 19. vezember 192$ �lick in öle Hücherwelt Seilage öes vorwärts Zack London. Als der amerikanische Dichter Jack London ISIS, gerade erst rierzigjährig, starb, war er �war in seiner Heimat überaus populär und ganz besonders auch geliebt von Arbeitern und Sozialisten, in Deutschland aber war er einfach unbekannt. Nach dem Krieg« erst setzten sich einzelne für ihn ein, vor allem auch der Dichter Franz Jung , der dann etwas später m einem Aufsatz über Leben und Schaffen Londons, gestützt aus damals noch unübersetztes autobio- graphisches Material, auf die graste Bedeutung dieses(Bestolters ?iouen proletarischen Welt- und Klassengefllhls hinwies. Anna Eiemfen widmete ihm eine Skizze in ihren„Literarischen Streif- Zügen". Cinzelübersetzungen Londonscher Tiergeschichten erschienen, so(iiy Verlag Fechsenfeld, Freiburg )„Wolfsblut" und(im Verlag Sponholtz. Hannover )„Wenn die Natur ruft". Jetzt ist das Gesamtwerk des Dichters in etwa 30 Bänden in der guten Uebersetzung von Erwin Magnus im ehemaligen Gyldendalschcn Verlag, der jetzigen„Universitas Deutsch« Verlags A.-G., Berlin " im Erscheinen begriffen,' liegt zum großen Teil schon vor: und eine vorzüglich ausgestattete, billige Volksausgabe(pro Band 3 M.) kommt soeben mit ihren ersten sechs Bänden im Verlag der Bücher- gilde Gutenberg in der Uebcrsetzung der Univerfitasausgabe heraus. In kaum 2 Jahren ist damit Jack London auch in Deutschland einer der bekanntesten und begehrtesten Schriftsteller geworden und, wie in Amerika , zeigt sich Interesse für ihn bei Lesern aller Be- völkerungsschichten, in linkspolitisch und rcchtspolitisch gerichteten Kreisen, bei Arbeitern und Intellektuellen, bei Jugend und Alter. Durch Einfachheit und Eindringlichkeit der Darstellung, durch Wunderbare innere künstlerische Spannung, durch sprudelnde Wirk- lichteit und Erfindung lebendig mischende Phantasie, durch Ge- staltungsrecht im Zusammenhang mit der Erlebnissülle ameri- konischer Möglichkeiten, durch den verbundenen Realismus einer lebensprühenden, den Kampf um des Kampfeswillen suchenden starken Persönlichkest, nimmt Jack London alle gefangen. Damit soll freilich— und gerade einer kritiklosen Begeisterung gegenüber im Verein mit kapitalistischer Reklametüchtigkeit um des Prosits willen— nicht gesagt sein, daß alles, was er schrieb, wertvoll und gleichermaßen bedeutend ist. London , der Mann der„täglichen 100 Zeilen", überfallen und ausgeprobt von amerikanischer Ge- schäftigkeit, schreibt manches Gleichgültige, wiederholt sich öster und entgeht nicht immer der Konzesston an amerikamschen Kitsch. Aber der Kern bleibt bedeutend aus jeden Fall, und für die Arbeiter- klasie ist er ein prächtiges Monument auf ihrem Wege in die Zukunft einer in Stoff und Form von ihnen geschwellten Kunst. Wir müssen im Rahmen dieser kurzen Besprechung verzichten auf eine noch so kurze Darstellung des erstaunlichen Lebensweges dieses Dichters, der vom Austernräuber, Matrofen und Tramp zum Sozialisten und zum gefeierten millionenreichen Schriftsteller führt, der auf eigener Jacht die Welt urnsegeit. Wir können das auch um so eher, als dieses Schicksal jetzt für jedermann in den Büchern selbst zugänglich ist. Wir beschränken uns deshalb darauf, auf einen Punkt aufmerksam zu machen, der, wie es scheint, bisher nur von einer Seite kurz und noch nicht vollständig bemerkt wird(vgl.„Die Bücherwarte", Oktober), aber gerade für den Sozialisten außerordentlich wichtig erscheint. Aus ihm erklärt sich auch, wenigstens m einem entschiedenen Teil, die zunächst ausfallende Tatsache, daß Jack London bei Sozialssten und Bürgerlichen ehrlichen, wenn auch verschieden gegründeten Beifall findet. Jack London ist Amerikaner. Er repräsentiert den amerikanischen Sozialismus der Vorkriegszeit. .Einen Sozialismus also, von d«n man sagen kenn, daß er zugleich mit seiner besonderen geographischen«nd geopolitischen Färbung, also seinen amerikanischen Besonberheiten, noch auf einer Stufe der Entwicklung steht, die man heute bisweilen als seine „Herrenzeit" bezeichnet: als eine Zeit, in der kraftvolles indioidua- listisches Führertum erst das Klassenbewußtsein der großen Massen ausläsen muß. Natürlich gilt das mit jenem„Körnchen Salz", das die Verschiedenheit der Zeit- und Ortsumständ« mit sich bringt. Jack Londons Sozialismus hat also entschieden„individualistisches Gepräge".(Jr ist geboren gleicherweise aus sittlicher Entrüstung und rein vitaler Kampfkraft, primitiver Naturwüchsigkeit. Daher die besondere Vorliebe Jacks für Kraftnawren und die Selbst- Herrlichkeit des Abenteurers, die eigentümliche Vermischung von gesellschaftlichem und naturhaftem„Kampf ums Dasein". Nicht zu- fällig ist gerade jener Roman Londons im ganzen der künstlerisch schwächste, in dem er nicht Erlebnis, sondern marxistische Theorie gibt:„Die eiserne Ferse ". Nicht zufällig ist in ihm die einzig grandiose Schilderung die des„Lumpenproletariats". Greifen wir aus seinen Werken einiges Wichtige heraus, das jeder Arbeiter lesen kann, so sind es in erster Linie, zuqleich mit der genannten „Eisernen Ferse" die vier großen in ihrem Kern selbsterlebten Romane:„Martin Eden",„M o n d t a l".„Der S e e w o l s" und der wunderbar«„flockruf des Goldes", der Londons Goldgräberperiode behandelt und auch, wie alle nun folgenden, für die reifere Jugend in Frage kommt. Weniger wichtig ist zunächst .König Alkohol ", der trotz soziologsscher Klarheit und Selbst- erkenntnis eher«in Hymnus auf den Alkohol sst als eine anti- alkoholische Kampfschrift. An Wiederholungen leiden die„A b e n- teuer des Schien st ränge s". doch sind einzelne Stücke prachtvoll. Prächtig auch die Goldgräberskizzen„In den Wäldern des Nordens" und vor allem„S ü d s e e g e s ch i ch t e n" und „Der Sohn der Sonne", Abenteurerfahrten in der Südsee. Dahingestellt bleibe, ob Jack London nicht doch auf eine besondere Art die Eingeborenen idealisiert. Jedenfalls aber hat niemand bisher den Kapitalismus als„Kulturträger" in dieser erschütternden Sachlichkeit entlarvt. Wundervoll sind dann die beiden Tier- beschichten„W o l f s b l u t" und„Wenn die Natur ruft": .nehr eigenartig der Versuch, in„Bor-Adam" Leben und Fühlen des Urmenschen darzustellen. Karl Schröder . Romane und Erzählungen. Max Barkhel: Das Spiel mit der Pupp«. Roman, ver- lag Büchergikde Gutenberg.— Deutschland. Lichtbilder und Schattenrisse einer Reise. Verlag Büchergilde Gutenberg.— Botschaft und Befehl.(Gedichtsammlung.) Buchmeister-Verlag, Berlin. — Die Mühle zum Toten Mann. Arbeiterjugend- Verlag, Berlin . Preis kart. 1,4» M., geb. 2 M. Max Barchel sst vor einigen Iahren mit Recht der Stimme seines Dämons gefolgt und hat sich zunächst aus allzu engen poli- tischen Fesseln gelöst, die wie eisörne Reifen die quellende Sinnlich- lest seiner Natur zu umspannen begonnen hatten. Ein großer Lyriker, dem die Natur ein schöpferisches Sprachgefühl geschenkt hat, wie es wenige nur besitzen. Seit er Raumweite gewonnen hat, steht er am Anfang eines Weges, auf dem er sein starkes individuelles Naturgefühl und allgemeines proletarisches Klassen- und Wcltgefühl auf seine Art zu gestalten angefangen hat. In Vers, Erzählung und Reisebeschreibung liegen Zeugnisse aus einem Zeitraum von ein- einhalk. Jahren vor. „In«MühlezumTotenMann" gibt in schlichter Sprache als Selbsterlebnis Episoden aus dem Schützengrabenkrieg an der Wefssront. Ergreifend drinat in ihnen die Klage vergewaltigter Menschlichkeit durch, aber auch die trotzig« Drohung, daß die Gewehre zu denken beginnen können.„Das Spiel mit der Puppe," Max Barthels lyrssch-romantssches Bekennwis seiner Entwicklungs- und Wanderjahre, vor allem auch des vom honetten Bürgertum verachteten aber gleichzeitig verschuldeten Landstreichertums, führt hinein in das sozial« Problem unserer Gesellschaft und ist im ganzen durchaus getragen von neuem, lebenskräftigem Klassengefühl. „Deutschland ist Reisedeschreibung.„Reportage ": aber freilich Reportage eines Dichters. Resse und Wanderung durch deutsche Städte und vor ollem durch die großen Industriegebiete, auch durch den Hamburger Hafen , in die bayerischen Alpen und schließlich nach Wien . Ein Bekenntnis zur Heimat und ein Bekenntnis gegen das kapitalistische Raubtier. Beschreibung, Statsstik, historische Ruckblicke, Eigenerlebnis und mehr, zusammengehalten in künstlersscher Dar- stellung. Dies letzterschienene Buch Max Barthels zeigt ihn deutlich auf dem Weg« und mit dem Willen, neu lernend und selbsidenkend in da» Wesen feiner Gesellschaft einzudringen. Das schönst« Zeugnis seines Können« und Kunde vom Raum, in der er gegenwärtig vor- wärtsschreitet, ist die Gedichssammlung„Botschaft und Be- fehl". Es ist, als hätte für Max Barchel eine zweite Jugend be- gönnen. Nicht alles ist gleichwertig, für manchen vielleicht ein bißchen viel der„Liebe", aber es sind wundervolle Stücke darunter. Verse, die nach erstem Lesen unvergeßlich bleiben. Max Barchel steht trotz seiner 33 Jahre noch am Anfang. I« tiefer er sich durch Erkenntnis und Leben— was wir hoffen wollen— in den großen gesellschaft- lichen Kampf unserer aussteigenden Klasse hineinzustellen wissen wird, ohne dabei sein Gefühl irgendwie zu vergewaltigen, desto mehr wird er uns noch zu sagen haben. Karl Schröder . V. Traven: Das Totenschiff. Die Geschichte ein« ameri- kansschen Seemannes. Büchergilde Gutenberg, Berlin. — Der W o b b l y. Buchmeisterverlag, Berlin . Der in Mexiko lebende Dichter Traven hat sich mit diesen beiden, letztjährig in Deutschland erschienenen Büchern(von denen die Er- Zählungen des zweiten:„Die Boumwollpflücker und„D« r W o b b l y" im„Vorwärts" abgedruckt waren), in die erste Reihe der proletarischen Dichter der Gegenwart gestellt. Man kann ruhig sagen, ebenbürtig neben Jack London : wenn noch nicht in der ganzen menschlichen und sachlichen Fülle Londons , so doch in der Kraft und Eindringlichkeit der Darstellung. Wie bei Jack London scheint alles Wesentliche auf direktem Erlebnis zu beruhen. Es reißt hin mit seinem Ernst und seiner Lust, seiner Ironie, Tragik und Lebensglut. Durch Überlegene Verspottung aller verlogenen Romantik, durch rücksichtslose Bloßlegung eines vergifteten und vergiftenden Systems, durch prachwolle künstlerische Realsstik und nicht zum wenigsten durch zukunftsträchtige Lebenskraft werden diese Bücher zu Meilensteinen aus dem Wege der antibürgerlichen Kunst der aufsteigenden Klasse. Im„Toten schiff" handelt es sich um das Schicksal eines durch Verlust seiner Ausweispapiere„staatenlos" gewordenen See- manne», der von der Polizei von Land zu Land abgeschoben wird und schließlich von Spanien aus aus sogenannten„Totenschiffen" zu heuern gezwungen ist, d. h. auf Schiffen, die man um der Ver- sicherungsprämie willen bei günstiger Gelegenheit absacken läßt, und deren Besatzung sich aus irgendwie„Ausgestoßenen" rekrutiert. Im „W o b b l y"(Der„Wobbly" ist wörtlich: Der ewig Ilnruhigc und Unruh stiftende, übertragen: der Angehörige der IWW.— Lndustrisl Workers of the World—, der amerikanischen Syndikalisten) und in den ,,B a u m w o l l p f l ü ck e r n" bleibt Trauen hauptsächlich auf mexikansschem Boden. Im Auf und Ab eines für europässche Begriffe höchst abenteuerlichen Berufs- und Arbeitswechfels enthüllt Traven das Antlitz von Landschaft und Gesellschaft aus dem Geiste eines antikapitalistischen Kämpfers. Wie Jack Londons Angriffe gegen die bestehende Gesellschaft hat auch Travens Angriff u. a. insofern be- sonderen amerikanischen Charakter, als er den eigentlich sozio- l i st i s ch e n Gedanken noch wesentlich als den Kamps des mutigen, aufgeklärten, lebenssprühenden Einzelindividuums gegen eine ver- heuchelte bürgerliche Klasse darstellt. Das entspricht eben noch der Raumweite der amerikanischen kapitalistischen Gesellschaft. Im übrigen aber wird jeder diese Bücher, die noch dazu zu billigem Preis in vorzüglicher Ausstattung geboten werden, niit wachsender Freud« lesen. Karl Wolf. Kurl Eisner: Wachsen und Werden. Roter Türmer Verlag, Leipzig . Preis 1 Mk. In einem Heft von 8» Seiten hat man da Aphorismen, Gedichte, Briefe und dramatische Stücke aus Kurt Eisners Schaffen von seiner Äugend bis fast zu seinem Tode durch gräfliche Mörder- hand-zusammengestellt. Warum nichts aus seinem großen Geschichts- werk„Das Ende des Reichs" in die Auswahl ausgenommen ist, verstehe ich um so weniger, als der Abdruck seiner Münchener Versammlungsrede nach der Berner Sozialistenkonferenz beweist, daß man Politisches nicht ausschließen wollte. So erscheint Eisner in diesem Büchlein vor allem als der stark sozial beeinflußte Dichter und als der pessimistische Kritiker, der etwa sagt: „Es gibt Menschen, die stolz auf ihr« Tatkraft sind, wenn sie«ine Stunde in sechzig Minuten gehen." Eisner war schlechthin ein Meister unserer Sprache, und er hat dies« hohe Kunst immer nur für das leidende Volk gebraucht. Wie hat er sein« Zukunft vorhergesehen, als er in jungen Jahren schrieb: „Auf metn«r Stirn« steht geschrieben: Denk«! In meinem Herzen brennt das Blutwort: Kämpfe! In meines Auge weint's «nssagend: Leide!" Drei Bilder dieses Märtyrers und ein Briefblatt von seiner Hand lassen chn dem Leser auch leiblich auferstehen. Noch lang« darf er nicht vergessen werden von denen, für die er kämpfend gelitten, für die schassend er gefallen ist. Richard Bernstein. Sigrid Undsel: Kristin Lavranstochter, 3. Band. Rüt- ten u. Loening Verlag, Frankfurt a. M. 622 Seiten. Geh. 7,50 Mk., geb. 10 Mk. „Alle Feuer brennen noch und nach aus." Das letzte Kapitel vom Leben Kristin Lavranstochters beginnt mit diesem resignierenden Satz, erst das letzte Kapitel. Von zweitausend Sellen stehen zwei- hundert nur unter diesem Motto der Entsagung. Der Kamps um die Liebe, den Kristins heißes Herz und ihr heißes Blut unablässig führten, ist beendet. Der Mann, dem er galt, sst tot. Ihre Kinder, die sie mit tierhastem Muttergefühl großzog, können die Lücke nicht ausfüllen. Mit logischer Selbstverständlichkeit geht ihr wurzellos gewordenes Leben seinem Ende zu, das Leben, das so ereignisreich war und so lang schien und doch erst vierzig Jahr« währt«. Aber die vierzigjährig« Kristin sst eine alle Frau, die dem Tag« ohne Forderungen gegenübersteht. Bor einem Jahre noch, in Erwartung des letzten Kindes, das ihr noch einmal das Glück der Mutterschaft bringen und ihr vor allem ihren Mann wieder zuführen sollt«, war sie so jung, so trotzig und hoffnungsvoll. Wie Sigrid Undset dies« Wandlung zu schildern versteht, zeigt, daß sie eine Menschen- gestalterin von unerhörter Kraft ist. Trotz des jähen Sprunges in ihrem Leben bleibt Kristin Lavranstochter für den Leser auch jetzt derselbe Mensch von Flessch und Blut, der sie vorher war. Und man folgt ihrem Leben bis ans Ende mit der gleichen Spannung, mit der man das Kind Kristin ins Leben begleitete. Auch in diesem dritten Bande bleibt der Leser immer von einer Handlung gefessett, die sich aus eigener Kraft, gleichsam mit Naturnotwendigkeit, zu entrollen scheint. Man spürt kein« Ermüdung an dem Stoff, weil, so umfangreich er auch dargeboten wird, jede überflüssige Breit« fehlt. Nie schildert die Undset, immer läßt sie uns erleben: st« beschreibt keine Gefühle und Stimmungen, sondern st« erweckt sie. Sie steM den Leser in ihre mittelallerliche Welt mit den ganz anderen Anschauungen über Religion, Moral und Sitte, und er vergißt darüber, daß es nicht die seine ist, und sieht nur das ewig Gleiche: das menschliche Herz. Trude E. Schulz. Jakob Paludan : Vögel ums Feuer.(Roman.) Verlag S. Fischer, Berlin . 354 Seiten. Im Grunde sind es überflüssige Menschen, die in der kleinen, norddänsschen Fischerstaty lehen. Di« Welt kennt sie nicht, nie werden sie«nsscheidend die Ereignisse beeinflussen. Eingezwängt in klein- liche Anschauungen, sehen sie aus den ersten Blick so gleich aus, ober allmählich enthüllen sie das wahre Gesicht, sangen an in vielen Lichtern zu spielen und endlich bildet jeder ein« kleine Welt für sich, zu der der andere keinen Schlüssel desitzt. Mit leiser, unbetonter Ironie entschleiert Paludan das Wesen dieser Kleinstädter, ohne Erregung oder Anteilnahme schildert er ihr Vergehen und Wachsen. Plötzlich erscheinen sie durchsichtig, jede Faser ihres Gehirnes liegt bloß, man sieht, wie ihre Wünsche wachsen, wie Hemmungen fallen, als der Staat die kleine Stadt zu einem bedeutenden Hafen machen will. Jeder hofft, sein Grundstück werde zu höchsten Preisen ent- eignet. Man beginnt zu spekulieren und träumt von phantastischen Zahlen. Nur der alt« Hunby, der eingesessene Besitzer, will nichts von Enteignung wissen. Er erschießt den Gendarm, der seinen Hof vermessen muß und geht dafür auf Jahr« ins Zuchthaus. Und dann bricht das ganz« Projekt zusammen. Ein Orkan zerreißt den Hafen- dämm, der energiegestrasste Ingenieur hat sich verrechnet. Die Luft- schlösser sind oerflogen, Rechtsanwalt Nagel, der kluge, ermüdete Lebensgenießer, muß sich das Leben nehmen, als er sich plötzlich vor d:m Nichts sieht. 2llles bleibt beim allen, aber� die Vögel haben sich am Feuer verbrannt, und allein der Sohn des menschenscheuen Leuchtturminspektors Brandt erobert das Leben, weil er Tatsachen- mensch ist, der unbeirrbar seinen Weg geht. Ganz groß ist dieser Roman entworfen und ausgeführt. Hier ist kein« Spur von Pathos oder Sentimentalität, keine Spur von überflüssigen Göfühlsergüssen. Kalt und klar sind Menschen und Dinge gesehen mit eindringlicher Schärf«, nur hin und wieder lächelt der Verfasser über feine Ge- schöpfe. In dem Merke lebt Hanssmsscher Geist. Fe'ix Scherret, Bahcl Kanzaco Das verlorene Kind. Roman. Verlag Ullstein, Berlin . 442 Seiten. Ein Erstlingswerk— und zugleich ein Meisterwerk einer bisher noch unbekonnten Dichterin, wirklich einer Dichterin, so sporsam man auch mit diesem Worte umgehe» soll. Die Geschichte eines unseligen Knaben, der als Sohn der von einem Tagelöhner vergewaltigten Magd geboren wurde.?ll? un- heiloolles Erbe des Vaters schlummern in dem ruhigen, stillen Kinde die brutalen Instinkte seines Erzeugers: und aus ihnen wächst über die helle, freundlich? Umwglt unheilschweres Verderben Fritz ermordet die vierjährige Tochter der Gutsherrschaft in jähem Auf- flammen seiner, nur Tötung und Blut fordernden Geschlechtlichkeit — und lebt weiter im gleichen Kreise, ein ruhiger, freundlicher und unverdächtiger Hausgenosse. Er selbst begreift seine Tat nicht und schiebt jedes Gedenken an das Geschehene fort. Wie er das Grab seines Opfers sauber einebnet,„damit Ordnung sei", so legt er über alles Grübeln und über die ihm selbst unbegreiflichen Abgründe seines Wesens wieder die Decke seiner ruhigen Pflichterfüllung, seiner stillen, freundlichen Dienllwilligkeit.— Langsam zerfällt um ihn die Familie, zerstört durch das unbegreiflich in ihrer Mitte nistende Unglück. Als noch Jahresfrist die Leiche des Kindes ge- funden wird, er selbst als Täter sestgestcllt wird, kann durch die Gerechtigkeit der Menschen weder Genugtuung noch Sühne werden. Erst im Kesänguis begreift er die unheilvolle Verbundenheit feines Blutes und vollzieht an sich felbstoernichtend die Straf«*- die einzige, die ihm Befreiung und Sühn« zugleich erscheint. Mit somnambulem Einfühlungsvcnuögen führt Rahel Sanzara die Menschen dieses Buches über. die schlimmsten, gratfcharien Stellen: lebendig und glaubwürdig wird bei ihr sogar der Vater, der den Mörder seines geliebten Kindes wieder in fein Haus, das das Unglück verödet«, nimmt. Und über allem Geschehenen liegt, wie letzt« Sonne über herbstlichem Feld, der Zauber einer gleich- sam glasklaren Sprache.„ Ein seltsames und seltenes Buch, dieses Erstlingswerk, das nicht als Gesellenstück, sondern als Meisterwerk in. die Welt tritt. Paul Zlg: Der rebellische Kopf. Skizzen und Satiren. 201 Seiten. Verlag Huber u. Co., Frauenfeld und Leipzig . Preis 4,8» Mk. Ein buntes Kaleidoskop unseres Lebens, nicht des äußeren, sondern unseres innersten Seins, dreht sich in dem kleinen Buch. Ein Kaleidoskop in Wahrheit, denn auch die dunkleren Steinchen bitterböser Welt- und Selbsterkenntnis ordnen sich gefällig der seinen, streichelnden Ironie zum schöngeftigten Sternbild unter. Jn jedes Haus einen Scliirvn f
Ausgabe
43 (19.12.1926) 15
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten