Gonnabeud 12. November 1927 Unterhaltung unö �Vilsen Beilage des Vorwärts Kaffeeklatsch. Don Lotte Arnheim . Frau SchnLrpel:»Llch ne«. wat Se nich sog«n! M«n«n St wirklich?' Frau Änietschke:„Na ob ick me«n«! Det heißt, ick will damit nischt jesagt ham! Man ders sowat mcht behaupten---- Aba det Kind is dem wie aus'rn Jesicht jeschnittenl" Frau Schnürpel: �>et schamlose Weib!" Frau Knietsch?«:„Nich doch... ick will nischt Sewifle5 jesagt ham... aba et jibt Aehntichkeiten, die nich innner angenehm sind....* Frau Schnürpel:„Na, und merkt der Mann denn nischt?" Frau Knietschte:.Lottedoch, merken wird der schon wat, aber sie hat's Feld.. i und der soll man stiele sein, da is man ooch nich allet so...." FrauSchmürpel(interessiert):„Nee. wat S« nich sagen...* F r a u K n i e'ij ch ke:„Wissen S«, bei dem is det keen Wunda. Det is Daerbung.' Bei dem seinen Iroßoater soll' s genau so jewesen sein." Frau Schnürppl:.Mat Se nich sagen..." Frau Knietscht«:„Man ders'» natierlich nich behaupten. aba et soll alle jewundat- habS», wie schnell dem sein« Frau um de Ecke gegangen is." - Frau Schnürpel?„Gräßlich!" Frau Knietschk«:.Dck will mir damit nich etwa fest- nageln. Man soll sich nich'n Mund vabrennen---- Aba komisch soll's jewesen sin. Is ivma jesund jewesen, die Frau... aba na- tierlich, eijnes Damögen und der anjetraut« Mann als Arzt, det bringt nie wat Iutes...." Frau Schnürpel:„Ob's sowat wirklich jibt?" Frau Knietschk«:„Et jibt nischt, wat et nich jibt. meine Liebe. Et is nich allet Jold. wenn's ooch noch soville hermacht. Ick Hab'neu Iroßnesfen, der. schwimmt in Jeld,'ne Mlla hatta und'u Auto.. aba ick seh' tief»..." Frau Schnürpel?„Wat E« nich sagen...." Frau Knietschk«?„3d Hab da nämlich so meine«isnen Gedanken, wissen Se. Wenn det man nich zum Klappen kommt. Drüben beim Jrudecke war(s jrade so. Dem seine Frau hat mit'« Ield jradezu jeaast. Jeden Tach hatse sich den Bubikopp brennen lassen... aba jetzt.... ham Se's gesehen... hatse ihn ganz bescheiden nach hinten jestrichen...." Frau Schnürpel:„3» det die, die mal in die Iägastraße jewohnt hat?" Frau Knietscht«:..Det is schon meeglich. Ick weeß nur soviel, det ihre Mutta netto dreimal oahe tratet jewesen is." Frau Schnürpel:„Warum i» die denn ibahaupt au» die Iägastraße hierher jezogen? Det fällt ma direkt uff. Man zieht doch nich uff«emnal in'ne janz andre Iegend, wenn man nich sonstwat ausjefressen hat." ""F rillt K niets ch k e i.»Da ham Se recht. Komisch i» et ja. lind nen Hund halten Se sich! Kinda. det nich, aba'neu Hund! Mir seht'» ja nischt an, aba wenn da man allet in Ordnung is! Mir soll's nich wundan, wenn so'n Pack noch jarnich mal vaheiratet is! Det heißt, ick will damit nich etwa wat jesagt ham. man kann nich norsichtig jenuch sein! Aba anstänje Leute ham doch Kinda!" Frau Schnürpel:„J)et könn' Se ooch nich imma sagen. Wat meine dritte Schwesta is, die hat ooch teene Kinda." Frau Knietschk«(trocken):„Wird ooch'nen Haken ham. Is woll in ihre Jugend mächtig lossejangen, Ihre dritte Schwesta?" Frau Schnürpel(entrüstet):„Wie könn' Se sowat sagen? Meine Schwesta lossejangen. Unsre Familie is imma anständich jewesen, meine Liebe, det merken Se stch mal!" Frau Knietschk«:.�)nnnmmm. Hmmmmm. Na sa... uff Jerücht« kann mau schließlich ooch nich imma wat jeden...." Frau Schnürpel:„Wat woll'n S« damit sagen? Wat for'ne Jerüchte?" Frau Knietschk«:„Ick meene man bloß. Wenn ooch Ihr Bruda wat von'ne Aholungsreise jefaselt hat, weeß man doch, det er drei Wochen lang jut und billich aufjehoben war. Uff Staats- kosten vapflegt, von wegen feine hohen Dadienste---- Und wie sich det bei Ihre Mutta vohielt. wissen Se ja selba. Sonst Hütt' die sich woll jehütet, so eenen zu nehmen, wie Ihr Data eena war. � Also seien Sie man janz stiele von wegen Ihre Familie! Ick werd woll noch sagen könn', det es tomisch is, det Ihre dritte Schwesta kcene Kinda hat! Und det is et, det wiedahole ick. Komisch is et." Frau Schnürpel(schluchzend):„Det muß ick mir nu von so een« jefallen lassen!" Frau Knietschte(tröstend):„Na. nu weinen Se man nich jleich... det wollt ick ja nich... wejen sowat brauchen Se doch nich jleich weinen.... Wenn Se erst wüßten, wat man von Ihnen- allet behauptet----" �_ Maßstab der Rerühmiheii. Don Edgar Hahnewald . Als Wilhelm II. seine hohenzollernschen Vorfahren in der Siegesallee ausreihte, lachte die Welt. Da standen nun oergangene und vergessene Fürsten in Marmor, in einem Material, das dauernder ist, als fürstlicher Ruhm. Die Welt lachte über die weiße � Ahnengalerie, mit der ER nur sich selber huldigte, ER, der Herr- lichste Sproß dieser Borläufer. Und die Welt lachte noch mehr, als byzantinische Gelehrte allen Ernstes de» Vorschlag machten, die Kossiopeia, das W-förmige Sternbild des nördlichen Himmels, zu Ehren Wilhelms II. umzutaufen. Nun wird Wilhelm, der bis zur Stunde noch von sich reden zv machen weiß und auch in Doorn da» Schweigen nicht gelernt hat, doch eines Tages verstummen, ohne daß ihm die Nachwelt Denk- mäler setzen wird. Sogar Monarchisten und Nationalisten werden kein Geld ausgeben wollen, um diesen schlechten Schauspieler in Bronze oder Marmor zu oerewigen. Es bleibt bei den Gipsbüsten, soweit st« noch vorhanden sind. Wilhelm II. wird der erste Hohen- zoller ohne Denkmal sein. � � � � � Ist er darum weniger„berühmt als die andern? Die Er- innerung an den Wellkrieg wird nicht so bald aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwinden— sie ist sein Denkmol, ragend auf den Grabern von 1808S4S deutschen Toten. Sonst aber stehen sie überall herum, die erlauchten 5>erren in Erz und Stein, die Potentaten aus allen Generationen zweiund- zwanzig deutscher einstmals regierender Fürstenhäuser, die Auguste. Friedriche, Heinriche. Johänner. Und ihnen gesellen sich die Heer- fuhrer Staatsmänner. Bürgermeister und sonstigen„verdienten" Männer: wer hat nicht schon in einer fremden Stadt vor dem Denk- Wal uqendemgr L-tolgröß« gestanden, der« Namen kein Lexikon kündet? Dazu kommen auf und ob im Lande die unzählbaren Denkmäler der Erfinder, Entdecker, Dichter, Künstler, Komponisten. Ma» mußte lchon Heinrich Heine heißen, um kein? zu bekommen. Aber sonst sind sie zahlleich gediehen in Deutschland , die Denkmäler. Der Ruhm wurde beinahe industriemäßig oerarbeitet. Denkmäler als Massenartikel. Man denke sich einmal sämtliche Denkmäler Deutschland einschließlich der Siegessäulen, Kriegerdenkmäler und Dismarcktürmc auf einen großen Platz zusammengetragen und in Reih und Glied aufgestellt— es wäre schrecklich! Aber nicht nur schrecklich wäre es, sondern auch belehrend. Dieser Generalappell der Berühmten würde ein einziger großer Friedhos der Berühmtheit sein. Wir würden mit Befriedigung feststellen, daß unser Gedächtnis mit keinem Wissen um die Taten oll der unifor- mierten Herren zu Fuß und zu Pferde belastet ist. Und meistens würden wir nur im Sinne jener Scherzfrage antworten können: Weißt du, was der da vorstellt?— Nein.— Das rechte Bein. Und da sind die Erfinder, Entdecker. Dichter. Künstler. Komponisten— übrigens: wem ist schon aufgefallen, daß die Maler die wenigsten Denkmäler haben? Und die Bildhauer, die sie machen? An wieviel Denkmälern gehen wir vorüber, ohne uns der Ber- dienste derer zu erinnern» deren Ruhm sie„oerewigen". Wir ent- sinnen uns ja meistens ihrer nur, wenn dre Zeitunaen den 50. oder 100. Gedenktag ihrer Geburt oder ihres Todes verkünden. „Es ist nichts mit der„Verewigung" des Ruhmes. Erz und Stein dauern länger als er. Berühmtheit währet nur. solange sie im Bewußtsein der Menschen lebt. Erlischt sie dort, sinkt auch Erz und Stein ins tot« Material zurück, es fei denn, daß ein Denkmal als Kunstwerk fortbesteht. Aber von wie vielen, richtiger: von wie wenigen läßt sich das sagen? Der Maßstab der Berühmtheit ist«in ganz anderer. Plötzlich bleibst du vor einem Buttergeichäst stehen. Warum? Da steht im Schaufenster die Statue eines Mannes. Aus Buller modelliert. Du kennst ihn, kennst dieses Hütchen, dieses Bärtchen, dieses gebogen« Dambusstöckchen, dies« auseinanderstrebenden Latschen— Chaplin. Aus Buller. Um einen Butterhändler in der Dorstadt zum Plastiker werden zu lassen, muß man allen Menschen, auch einem Dutterhändler und seiner Kundschaft etwas bedeuten— man muß Chaplin sein. Denn siehst du: diese Butterstatue könntest du in«in Schaufenster in Chikago, Kalkutta , Moskau . Madrid , Kapstadt , Peking stellen— überall würden die Leute stehen bleiben und den Mann aus Butter anschauen und lächeln: ihn kennen sie olle. Er ist berühmt. Man kann ihn in Butter oder Seife modellieren, und sein Abbild braucht ihm gar nicht einmal sehr ähnlich zu sein— ihn kennen all« in allen fünf Erdteilen. Berfuch' das mal mit dem Großen Kurfürsten! Da Haft du den Maßstab der Berühmtheit. „Mir wolle nex wisse von de Sozze." Do« Wilhelm Keil . Pfingsten 1891. Der Reichstag war aufgelöst. Abstrich« an einer Militärvorlag« hatten den Anlaß gegeben. Mllitärsragen standen also im Mittelpunkt des Wahlkampfcs. Ich lebte damals in Mannheim und beteiligte mich an der Agitation im 11. badischen Wahlkreis, zu dem das große Zigarrenmacherdorf Höckelheim gehörte. Selbst zu Wahlzeiten bekamen wir in diesem Dorf kein Der- sammlungslokal. Der Mannheimer Parteiveteran unternahm deshalb mit mehreren hundert Teilnehmern einen Pfingstausflug noch diesem Dorf, um den Saalinhabern zu imponieren. Als harmlöse Aus- slügler besetzten wir zuerst den größten Saal. Bor der Bestellung von Speis' und Trank richteten wir die Fräge an' den Wirt, ob sein Saal für eine bald abzuhaltende sozialdemokratische Wahl- Versammlung zur Verfügung stehe? Antwort:„Nein." mit allerlei Entichuldigunaen Wir oerlassen den Saal und beziehen den nächst- größten im Dorf. Das Spiel wiederholt sich. Einen dritten ge- eigneten Saal gab's nicht. Wir beschlossen deshalb, uns auf die übrigen Dorfwirtschoften zü verteilen und mit Unterhaltungen und Ansprachen für unseren Kandidaten Dreesbach zu werben. Die Gruppe, der ich angehörte, besetzte eine stattliche Wirtsstube, in der an mehreren' Tischen Karten gespiell wurde. Nachdem wir durch Gespräche glaubten Anschluß gefunden zu haben, begann ich eine kleine Rede �u halten. Die Arbeiter sollten bei der Wahl überlegen, wem sie ihre Stimme geben wollten. Sie seien doch alle arme Teufel und hätten unter den schweren Lasten der Verbrauchssteuern zu keuchen.' Die Nationalliberalen(unsere geföhrlichsteu Gegner im Wohlkreis) würden auch die Kosten der geplanten Militärvcrmehrung wieder auf d'e kleinen Leute abwälzen. Weiter kam ich nicht. Die antisemitisch verhetzten Arbeiter hatten vom ersten Wort an mißtrauisch zugehört. Nach dem dritten, vierten Satz erhob sich lauter Widerspruch:„Mir wolle nex wisse von de Sozze." Meine Bitte, mich ruhig anzuhören, ich wolle niemand meine Meinung aufdrängen, war kaum noch vernehmbar.' Denn schon hatten sich die Zigarrenmacher, denen der Hunger aus den Augen sprach, erhoben und mit Fäusten und Biergläsern eine drohende Haltung gegen mich eingenommen. Natürlich schwieg ich, um so mehr, als die zü meiner Deckung dienenden Genossen sehr in der Minderheit waren. Di« Gereiztheit der armen Aigarremnacher war so groß, daß wir es nicht wagen durften, das Lokal zu verlassen, sondern Widerspruchs- los eine Fülle von Beschimpfungen über uns ergehen lassen mußten. Erst nachdem eine Gruppe kräftiger Mannheimer Sackträgergestalten aus anderen Lokalen zu unserem Schutz herbeigeeilt waren, konnten wir ungefährdet durch eine Hintertür entschlüpfen. Unsere Stimmen- zahl in Hockenheim blieb auch diesmal noch klein. Inzwischen ist Hockenheim eine sozialdelnokratische Hochburg geworden. Durch Nordfrankreich. Von Dr.<5.£ion(£oon). Daß man darunter nichts Falsches verstehe: Roch niemand rst es jemals eingefallen, von„nordfrnnzöstfchen Belangen" zu reden oder auf die„berechtigte vordfranzösische Eigenart" zu pochen! Nord- frankreich, das ist lediglich das nördliche Frankreich , ein geographi- scher Begriff, nichts weiter. Die Aisnelinie hat nicht die Bedeutung der Mainlinie, und wäre in Nordsrankreich nicht der Weltkrieg aus- getragen worden, so ließen sich noch heute zwischen Lille und Lyon die weitestgehenden Parallelen ziehen. Bier Jahre Krieg haben indessen Land und Leute zutiefst unter- wühlt und verändert An Stelle ihrer Wohnungen fanden die Heim- kehrenden zumeist Trümmerhausen vor, an Stelle ihrer Aecker Massengräber, Schützengräben und Granattrichter, an Stelle� der Kohlengruben unterirdische Gewässer. Um nicht der Verzweiflung anheimzufallen, in die die Erkenntnis der Sinnlosigkeit des Krieges in diesem Augenblick treiben mußte, verfiel der größte Teil der Be- völkerung in einen fanatischen Nationalismus, mit dem ein blind- wütiger Deutschenhaß Hand in Hand ging. In dem Ergebnis der ersten Nachkriegswahlen und in zahlreichen Bersolgungen Daheim- gebliebener, die im Kriegsgegner vor allem den Menschen gesehen hatten, kamen diese Selbstbetäubungsversuche klar zum Ausdruck. Seitdem sind nun nahezu neun Jahre ins Land geflossen: den fünfzig Monaten unsinniger kriegerischer Verwüstung sind hundert Monate planmäßiger Aufbauarbeit gefolgt. Bon dem, was durch sie bewirkt wurde, von dem Bild, was Nordfrankreich heute dem Beschauer gewährt, soll hier die Rede sein. Zunächst einige mir von der Präfektur des Aisnedepartements zur Verfügung gestellte Zahlen, die den Umfang der Zerstörungen und den Grad der geleisteten Auf- baurnbeit kennzeichnen: In dem kaum fünfhunderttousend Einwohner zählenden De- partement hat die französische Regierung für Kriegsschäden in Höhe von 14 024 308 LOS Fr. ihre Wiedergutmachungsverpflichtung aner- tannt, deren bnreaumäßige Regelung noch heute über 600 Beamte beansprucht. 133 189, weit über die Halste aller Anwesen des De- partements, waren Ende 1918 zerstört und hatten stark gelitten. Ende 1923 waren 46 588 wieder vollkommen hergestellt und 65 075 im Wiederaufbau. Die übrigen ehemals verwüsteten Departements sind in ihrer Rekonstruktion noch weiter vorangeschritten, so daß sich für Nordsranlreich im ganzen also feststellen läßt, daß es innerhalb neun Jahren gelungen ist, fünf Sechstel der Zerstörungen zu be- heben, die in nicht einmal der Halste dieser Zeit zustande kamen. Durchwandert man die im Krieg zerstörten Gebiete, so sieht man auch, wie ausgebaut wurde: In Stadt und Land vollkommen ver- schieden! In den Städten war es zumeist ein Neuausbau, in den Dörfern grundsätzlich eine Wiederherstellung im eigentlichen Sinne des W.irtes. Während sich heute in Arras , vt. Ouentin, Reims und vielen anderen Städten an Stelle überladener Geschäftspaläste im Kaiser-Wilhelm-Stil, der auch in Frankreich nicht fremd geblieben Ist, moderne, nur auf Zweckmäßigkeit gestellte Warenhausbautcn erheben und die Wohnhäuser vielfach nach neuen Plänen in der Unbeengtheit der Vororte wiedererstellt wurden, stehen die neuen Häuser der Dörfer in der Regel genau so wie vor der Zerstörung, lichtarme einstöckige Backsteinbauten, die abends noch sehr oft der kümmerliche Schein einer Petroleumlampe erhellt, trotzdem unmtttel- bor vor dem Fenster die elektrische Leitung vorüberzieht— der beste Beweis dafür, daß zumeist nicht der Ersparnis wegen, sondern nur aus Konservatismus auf den alten Grundmauern aufgebaut wurde. Daß zur Bodenbearbeitung und zur Ernte in starkem Maße moderne Maschinen zur Verwendung gelangen, ist nur dem Zwang zu danken, den der Mangel an geeigneten Arbeitskräften ausübte. Die Landflucht nahm in Nordfronkreich nach dem Kriege stellen- weise geradezu epidemischen Charakter an und erhöhte z. B. die Ein- wohnerzahl einer Stadt wie Reims in den Jahren 1921 bis 1926 um 24 Proz. Die Kricgsspuren find auf dem Ackerland fast restlos verwischt Schützengräben und Granattrichter sind Sehenswürdig- leiten geworden, die Cook mit seinem Reiseauto bcsährt Fast im gleichen Maß wie da? Gesicht des Landes wandelte sich die Gcisteshaltung seiner Bewohner. Die im und unmittelbar nach dem Krieg verlorengegangene Vernunft ist im Verlaus der letzten neun Jahre langsam wiedergekehrt. Der„ftanyais moyen", der um Mittag im Eafe beim Aperttii sei« Liertischpolitik macht, verspürt gegen Deutschland wohl»och Mißtrauen, aber bestimmt nicht mehr Feindschaft, Die Abneigung des einfachen Mannes hat sich gegen die Angelsachse,» gekehrt, die „Frantreich im Krieg die Kastanien aus-dem Feuer holen ließen und nun noch wchuldscheipe präsentieren". In, Gespräch, das sich naturgemäß, sobald man sich als Deutscher bekennt, der„großen Zeit" zuwendet, unterscheidet der Franzose jetzt fast durchweg zwischen Regierern und Regierten und beteuert nach einigen Berwünschungen gegen Wilhelm II. , der für die ganze herrschende Klasse seiner Zeit herhalten muß. in offenkundig ehrlicher Weise seinen Bersöhnungswillen. Wenn trübe Erinnerungen aus der Besatzungszeit aufgefrischt werden, so geschieht das in der Regel nur, um darzulegen, wie die„rsneune", die man vielleicht stellen- weise noch finden könne, zu erklären ist. Ich Hube jedoch diese rancune, das gehässige Nachtragen, nirgends gefunden, außer an dem Ort. wo man es freilich zulegt suchen sollte: in der Kirche, beim Klerus. Fast in jeder Predigt, die ich anhörte, wurde Propaganda für die„Bonne presse" gemacht und auf die Gelegenheit hingewiesen. sie am Ausgong der Kirche zu kaufen. Und was war mit dieser „guten Presse" gemeint?„Ca Croix", eine in Lille in einer Auslage von etwa 35 000 Exemplaren erscheinende, von Geistlichen redigierte Tageszeitung, die an Deutschseindlichteit und Nationalismus das „Echo de Paris" bei weitem übertrifft! Nimmt es da wunder, wenn man heute noch im Innern der Kathedrale von St. Ouentin eine zroei Meter hohe Leinwandtafel sieht, auf die in weithin sichtbaren Buchstaben folgende Kundgebung gemalt ist: Besucher! Vorgeht nicht, daß es die Deutschen waren, die in alle Pfeiler und sonstigen wichtigen Teile der Kathedrale 90 Minenlöcher bohrten, benor sie im Oktober 1918 die Stadt verliehen— ein Beweis, daß sie die Absicht hegten, die Basilika vollkommen zu vernichten. Nur dem Umstand, daß die Franzosen 24 Stunden früher ankamen, als es der Feind erwartete, ist es zu danken, daß uns die Kathedrale erhalten blieb!/ Der Abb« Demulier, der in Cassel(Nord ), keine hundert Kilo- meter von St. Ouentin entfernt, mit seiner„deutsch-sranzösischeu katholischen Korrespondenz" wahrhaft christlich für die Völker- Versöhnung arbeitet, steht ziemlich vereinzelt da. Solange die katho- lische Presse Frankreichs die Politik fortsetzt, die eine Berhöhnmy, des Kreuzes bedeutet, das sie sogar zu ihrem Namen erkoren hat. müssen seine Bemühungen notwendigerweise im Theoretischen stecken bleiben. Außer„La Croix", die die politische Meinung der Geistlichen formt und durch die sie auf viele Hunderttausende einwirkt, besitzt der Norden keine Zeitung von nennenswerter politischer Bedeutung In Städten wie Amiens , Arras , Cambrai , Douai , Roubaix , Toureving und Baleneiennes komnien des Mvrgens ganze Postwagen Pariser Zeitungen an. Aus ihnen schöpft der Nordfranzose seine politische Information. Das„Echo du Nord", das mit vielen Provinzousgaben in Lille täglich in nahezu 200 000 Exemplaren erscheint, läßt seine nationalistischen und schutzzöllnerischen Ton- denzen nur gelegentlich durchschimmern und wird wie die andere» lokalen Blätter zumeist nur neben der hauptstädtischen Zeitung gelesen. Die politische Geisteshaltung der Bewohner der nördlichen Departements unterscheidet sich, wenn man die oerschieden« soziologische Schichtung vieles Herdes der industriellen Kraft unseres Nach- barlandes in Erwägung zieht, wohl kaum mehr von der Einstellung der übrigen Teile Frankreichs . Nachdem schon die Kammerwahlen des Jahres 1924 einen starken Ruck nach links gezeigt hatten, brachten die Munizipalwahlen des folgenden Jahres sämtlichen größeren Städten des Nordens eine sozialistische oder radikalsozialistische G«° meindeverwoltung. Nur noch der Landwirt wählt Kandidaten des Rl« national, und dos bestimmt nicht, weil sie eine scharfmacherische Haltung gegen Deutschland einnehmen, sondern aus rein innerpali. tischen Gründen. Vom Säbelrasseln haben hier alle genug. Die endlosen Reihen der Holzkreuze aus den Massengräbern. von denen jedes einen gefallenen Soldaten bezeichnet, bilden ein« Heschwöning zum Frieden, der sich auch der gefühlloseste Mensch mcht entziehen kann.
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44 (12.11.1927) 11
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