3lr. 12 1. Dezember 1929 in öie �ücherwelt Beilage des Vorwärts Mdien WüldkHKi und RomauflK Neuere Erzählungsliteraiur. Für die innere Unsicherheit, die neuerdings unter den Erzählern Platz gegriffen hat, ist ein Extrem bezeichnend: die Einen können sich in Wirklichkeitskuiist nicht genug tun und sind darüber zum un- geschminkten, unverarbeiteten Lcbensdokument oder zur romanhaften Biographie geschichtlicher Persönlichkeiten gelangt; die Anderen aber schwelgen in Lyrik und Phantastik und bringen so die lange schon verstummten Brunnen der Nomantik wieder Zum Rauschen� Die Flut der Dokumentenromane brach mit Remarques Kriegs- buch und mit den atemraubenden Erzählungen aus dem neuen Ruß- land herein, und für ihre ungeminderte Kraft zeugt, daß alle Na- tionen ihr noch immer Untertan sind. Da haben wir, wenn wir nur oberflächlich sichtend unter die Neuerscheinungen greisen, die Eng- länderin Miß Lowell. In ihrem Buch:Als Matrose unter Matrosen. Der Roman einer Jugend auf hoher See."(Wien  , Zsolnay, 3ZZ S.. in Leinen K,S0 M.) erzählt sie anspruchslos, aber lebendig, wie sie von ihrem elften Lebensmonat ab auf einem in der Slld'e« kreuzenden Segelschiff groß wurde, behütet von ihrem pol- ternden, doch tüchtigen Bater und von dem alten Seebären Stitches, wie sie präzis spucken, schwimmen, klettern und fluchen lernte, sich an abscheuliches Essen, Ratten. Wanzen und Küchenschaben gewöhnte und trotzdem mit den rauhen Kerlen ringsum zu echter Tüchtigkeit und waghalsiger Tatkraft verwuchs auch Geschlechtlichkeit, Erotik und verhaltene Sentimentalität spielen unaufdringlich, doch bedeut- sam hinein. Der Tscheche Iwan Olbrachk benutzt den Roman einer Arbeiterin Anna"(Berlin  , Internationaler Arbeiterverlag, 346 S.. S M.), um die Schicksale eines nach Prag   als chausgehilfin verschlagenen Landmädchens mit den Parteikämpsen der Prager   Arbeiterschaft von 1919 zu verbinden. Er gibt dabei fast- und kraftstrotzende Bilder aus einemfeinen", von Schiebertum, Lüsternheit und Betrug zcr- sresienen Bourgoishaus, ohne ein paar sympathisch-gewinnende Streiflichter zu vergessen, und auch seine Massenszenen haben Wucht und den heißen Atem politischer Leidenschaft. Aber daß er sich der Kommunistengehässigkeit gegen sozialdemokratische Führer(Habr- mann, Stivin) nicht«ntschlagen kann, gereicht dem Buche nicht zum Vorteil; statt des revolutionären, bekommt es so parteipolitisches Pathos; Darum ist dem Tschechen der Rusie Alexander Rewerow weit überlegen, dem in der Novelle:Taschkent  , die brotreiche Stadt"(Berlin  , Neuer Deutscher   Derlag, 380 S., 3,£0 M. und 5 M.) wirklich ein von neuem Rhythmus getragenes, zugleich ergreifendes und anfeuerndes Lebensbild gelingt. Eigentlich fährt nur der Bauernjunge Mischka, zwölfjähriges Oberhaupt einer verhungernden Familie, die zweitausend Werst von Busuluk   nach dem gelobten Taschkent  , wo es von Milch und Honig, Brot und Getreide nur so sticßen soll, aber was steckt nicht alles in dieser furchtbaren und rührenden Odyssee! Die Verzweiflung eines oerschmachtenden Landes, Verwirrung, Hilflosigkeit, grausame Härte u�d versöhnende Güte, und wie schließen sich-Traum und Tat. MawiM mvd LielwiyL'zux bezwingenden Handlung»- und Sprachmelddiel. Das Erinnerungsbuch der Colette  ,M ein Elternhaus" (Wien  , Zsolnay, 230 S..»< M.), hat mit dieser Biographie des namenlosen Jungen nichts gemeinsam, aber die Kunst des Ver- d-chtens, die Kraft des Heraufbeschwörens eignet ihm ebenso. Hier atmet noch, als wäre es heute, die kurzsichtige, mit Zwicker und Lorgnonschnur an jedem Vorsprung hängenbleibende Mutter und ist herrlich eins mit Blume, Raupe, Spinne und Katze, mit Arbeit und Fürsorge; hier stapft der einbeinige, sächerbärtige, verliebte Vater leibhastig durchs Haus, das lüdfranzösische Dörfchen flutet mit seinen Menschen und seinen Nöten herein, und über allem leuchtet lächelnde Wehmut und heitere« Verstehen. Dieselbe tapfer-unpathetische Art der Behandlung hebt die kurze Geschichte von Paul Alverde»,Die P f e i f e r st u b e"(Franksurt am Main  , Rütten und Loening, 85 S-. geb. 2,50 M.), über den Schwall der üblichen Kriegserzählungen hoch empor. Grausigeres als ihr Vorwurf ist kaum vorstellbar: vier in den Kehlkopf getrossene Soldaten, die durch Kanülen pfeifend und rosielnd Lust holen müssen; aber in ihnen und ihrer Umgebung, dem Arzt und den anderen ent- setzlich entstellten Kranken, enthüllt sich ein unerschöpklicher Schatz der Menschlichkeit, hilfsbereite Güte triumphiert über qualvolles Leid, und die Verwirrung der Kreatur läutert sich in kristallklarer, dichte- rischer Sprache. Als Wecker der biographischen Romane und ihrer unetndämm- baren Hochflut darf man Emil LudwigsNapoleon  ",Bismarck  ", Wilhelm II.  " usw. und dazu die ganze Reihe heroischer Biographien betrachten, die neuerdings in Flakes,Hutten", Zweigs.F o u ch e, j Paleologues,C o o o u r" und Wassermanns,C o l u m b u s" be> deutsame Vertreter gesunden hat. Aber zu diesen zugleich um ge- schichtliche Zuverlässigkeit und künstlerische Wesensschau bemühten Anregern kommt leider ein schier unvermeidlicher SchußDrei- mäderlhaus", und der macht die ganze Gattung mehr oder weniger unerträglich.Lord Byrons  " dämonisches, die ganze Welt der zwanziger Jahre erschütterndes Wesen reduziert sich so bei Kasimir Edschmidl(Wien  , Zsolnay, 444 S., 7, M.) auf die verhängnisvolle Leidenschaft zur eigenen.Schwester, und aus dem einen Punkt soll sich erklären, was in Wahrheit Ausdruck einer gescsselten, von Un- rast verzehrten Zeit, eines nach alle» Höhen und ollen Tiefen der Menschheit begehrenden Temperamentes gewesen ist In fataler Aehnlichkeit macht Alfred TteumonnsG u e r r a"(Stuttgart  , Deutsche Verlagsanstalt  , 374 S., 7,50 M.) die Liebe der Schwester zu dem toskanischen Rebellen Guerrazzi zum Hebel alles Geschehens, und diese berückende Madda wird zur Universalhurc, um die Fäden der italienischen Verschwörungen zwischen 1830 und 1848 nur ja recht verworren, dunkel und beziehungsreich zu schlingen. Statt in welthistorischen Spannungen, bewegt man sich so bis zu Guerros ungeschichtlich dargestelltem Tode in einer von Geschlechtsdünsten durchzilterten Luft des gemacht Geheimnisvollen und gesucht Tiefen, aber dank Neumanns technischer Virtuosität i st«s immerhin eine ge- schlostene Atmosphäre. Emil LuckasT a g d e r D e m u t" Leipzig  , Rcclam, 232 S., 3 und 5 M.), ein Roman aus dem mittelalterlichen Siena   der letzten Hohenstaufenzeit, weiß nicht einmal die zu geben, ohne Anschaulichkeit, flach und unbeholfen, rinnen Historie und Liebeshandlung am Leser vorüber. Wahrlich, der sehr ernst zu neh- wende Gestaller und Denker Lucka   hätte diesen Absturz zum Unter- haltungskllsch nicht nötig gehabt! Und damit sind wir beim Gegenpol der verschiedenen Wirtlich- kettsbemühungen: der verblaßten oder üppig wuchernden Romantik. angelangt. Es ist seltsam und bedauerlich, daß ihr so vieleJunge" des Verlages Reclam   verfallen sind: Otto HenschelesW e g wider den Tod"(244 S., 4,50 M.), mit seinen rätselhast empfindsamen Menschen, seinen Dichtern, Geigerinnen, Forsthausslimmungen, Nochtbesuchen, tödlichen Liebcsumarmungen usw. liest sich wie ein ganz, ganz dünner Aufguß Eichendorfs aus 1830. In Gottfried Kopps.Loch im Wasser"(187 S., 4,60 M.), greifen die trüben Nebel traumhafter Erinnerung und heimlich bohrender Liebe in die moderne Welt der Technik und des Unternehmertums hinüber, spinnen ohne überzeugende Notwendigkeit einen Mann der prak- tischen Arbeit, einen Architekten, immer tiefer ein und lassen ihn schließlich(nicht weil es sein muß, sondern weil es dem sentimen- talen Bedürfnis so entspricht) aus dem Dasein schwinden wie ein Loch im Wasser". Und inZ i j a s Perlen" von Karl Z. Kurz (314 S., 6 M.) leiht die Romantik des Orients einer recht unterhall- samen Disbsgeschichte sreundliche Schlaglichter; tiefere Bedeutung kömmt, dem. leicht, doch auch seicht dahinfliegenden Wert nicht zu.- Da hatM a t k a B o s k a" von Eäclle Loa»(Stuttgart  , Deutsche Derlagsanstalt, 375 S 7,50 M.) schon ein ganz anderes Gewicht. Ein Polen   zwar, wie es die Schweizer   Dichterin schildert, mit Popen als Priestern der erzkatholischen Bevölkerung u. dgl., hat es nie gegeben; aber wenn ihre unniissende Magd vom heimatlichen Dorf über ein verbrechenumrauschtes Schloß und eine kurze, halb tierische Stunde der Lust zur Mutterschast kommt, wenn in der Sorge um das Kind drei Menschen sich unter Streit und Eifersucht läutern und das Bild derMatka Boska", der Gottesmutter, sich zum Symbol alles Muttertums vertieft, pocht doch hinter der über- wuchernden Romantik ein schönes Well- und Menschheitsempsinden, und das barocke Ziergehänge der vielen, allzuoielen Worte ordnet sich zu Sinn und Gestalt. Was Eecile Laos   an Plastik und entsagender Selbstbescheidung vermissen läßt, eignet der Engländerin Mary Borden   in doppeltem Maße. Gibt ihrSchloß Jericho"(Berlin  . Knaur, 317 S., 2,85 M.) auch nur eine Liebesgeschichte, so ist es doch eine fest ge- hämmerte, in Milieu und Charakteren sicher verankerte Dichtung und die Tragik der drei Hauptgestalten überzeugt, weil sie sich zu schicksalhafter Unentrinnbarteit steigert Man versteht, daß die kühne, jungenhoste Priscilla und der zarte, hypochondrisch-fromme Pfarrer Simon einander fanden, begreift, wie es Priscilla aus dem drücken- den Frieden ihres Heims unwiderstehlich zum hochmütig-herrischen Tory Erab zieht, und weiß voraus, daß die Frömmigkeit und zähe Liebe Simons allen Dreien zum Verhängnis werden muß. Das voll- zieht sich in Kämpfe», ohne Wehleidigkeit und voll reicher, charakte- riftisch abgetönter Einzelheiten und spielt hinein in das private Ge- schick das England des Weltkrieges, der Wahlkämpse und der auf- steigenden Arbeiterpartei. Und man muß zugeben: wenn schon Ro- man im alten Sinn, so wenigstens einer, der das rein Private sauber und mit zeitgemäßen Kunstmitteln darstellt. l)r..streck Kleinberg. Kunfigeschichle. Max Osborn  : Di« Kunst des Rokoko. Prophyläen-Verlaq, Berlin   1929. 123 Seiten Text, 478 Abbildungen, 52 Tafeln. Preis 55 Mark. Die Kunstgeschichte ist wie eine launische Dame Moden unter- warfen. Erst war Hochrenaissance Trumps, dann Frührenaissance, heute Gotik und noch Primitiveres. Unsere Großväter haben das Barock verlästert und aus den schönsten Schlössern und Klöstern des 18. Jahrhunderts Kasernen, Zuchthäuser, Irrenhäuser gemacht. Um 1900 herum hat man dann plötzlich das Barock neu entdeckt und hebt es seither in den Himmel. Es wäre an o-'r Zeit, daß zwischen diesen Extremen ein Aus- gleich gesucht würde. In dem letzten Band derProphyläen-Kunst- geschichte" versucht Max Osborn   einen solchen Ausgleich..Lunst hängt nicht als selbständiges Gebilde in der Lust", schreibt er.Sie ist Ausdruck und Funktion des gesamten geistigen Lebens eines Volkes." Er macht aufmerksam auf die drei Strömungen in der Kunst des 18. Jahrhunderts: die Weiterentwicklung des Barock- Ideals mit seiner höfisch-zeremoniellen Repräsentation, auf die llassizistische Tendenz, die am Ende des Jahrhunderts in den Stil der französischen   Republik und später in den des Kaiserreichs mündet, und drittens den Realismus. Klassizismus und Realisnms sind bürgerliche Ausdrucksformen, die den aus dein srüheven Barock abgeleiteten reinen Rokokoformen als de» aristokratisch-höfischen gegenüberstehen. Der Kamps zwischen diesen beiden Elementen gibt wie dem Leben, so der Kunst des 18. Jahrhunderts die unge- Ixur« Spannung. Es ist schade, daß dieser Gegensatz nicht viel schärfer heraus- gearbeitet« worden ist. Wenn der Verfasser nicht mir das geistige Leben, sondern auch das materiell« in den Kreis seiner Betrach- lung gezogen hätte, wäre er auf die charakteristischen Eigentümlich- keiten der Manusakturperiode gestoßen, die den Höhepunkt der Hand- werklichen Betätigung, kurz darauf aber die beginnende Zersetzung dieses Handwerks mit der beginnenden Industrialisierung er- schöpfend erklärt Er hätte sich denn weniger über dasBild von unerhörter Buntheit und Mannigsaltigkeit" gefreut, das diekleinen und kleinsten Kristallisationepunkte", die zahllosen deutschen   Winkel- residenzen,hervorbrachten". Dienachtwandlerische Sicherheit des Fingerlpitzengejühls", die er bei den Franzosen so bewundert und die er getrost noch stärker hätte unterstreichen können im Gegensatz zu der Zersplitterung der Kräfte in dem wirtschaftlich und politisch zerrissenen Deutschland  , wäre unmöglich gewesen ohne die früh« strass« Zusammenfassung Frankreichs   zum Einheitsstaat. Wenn die deutsche   Architektur sich zu einigen überragenden Leistungen aus- schwang: Plastik und namentlich Malerei blieben beschämend well zurück. Chodowiecti und Anton Gräff sind, neben die sranzösischen. aber auch neben die englischen Zeitgenossen gehalten, Brrbaren. Und die Bauerei des Alten Fritzen in Note dam wuchs sich, nachdem er seinen einzigen fähigen Architekten, 5knobelsdorsf, sortgejagt hatte, mehr und mehr zu einem Skandal aus. Das. hätte alles so schön gezeigt werden können: ein Despot. der seine Zeit längst überlebt hat. schließt sich als Bauherr von dem bürgerlichen Zug der Zeit ab, der sich in Frankreich   im beginnenden Klassizismus ankündigt, und holt sich wie Wilhelm II.   die Vorbilder aus der Vergangenheit. Derpreußische Stil" Ist das preußisch« Elend. Aber für diese Nachtseiten hat Osborn keinen Sinn. Wäh- rend die modischen Porträtmaler der englischen Gesellschaft, die Romney und Gainsborough  , von ihm weit über Verdienst gefeiert iverden, hat er für die großen Karikaturisten James Gillray   und Thomas Rrnvlondson, die die ganze Hohlheit und Verlogenheit der englischenFreiheit" und Wohlanständigkeit im Brennspiegel ihrer vernichtenden Satire aufgefangen haben und den berühmten Mo- ralisten Hogarth tief in den Schatten stelle», mir ein paar gleich- gültig» Zeilen übrig. Diese mangelnde Einfühlungsgabe verführt ihn zu Flüchtigkeiten, die einem Kunsthistoriker nickt unterlausen dürsten. Die Realisten Giuseppe Maria Crespi   und Alessandro Magnasco  , die Sittenschilderer des verelendeten nicht allein künstlerisch aus- gepumpten I Italiens erwähnt er überhaupt nicht und wundert sich des Todes, daß«in Goya   in dem Lande der strengsten mittel- alterlichen Ueberlieferungen, in Spanien  , austreten konnte. Osborn scheint nicht zu wisien, daß die führenden Meister des 17. Jahr- Hunderts, Valesquez und Murillo, Arbeiterinnen der Madrider  Teppichmanufaktur, Schmiedegesellen von der Straß«, schmutzig« und verlauste Bettelbuben qemall hoben und daß der Spanier Ribera die Elendsmalerei in Neapel   einführt«. Aber das beweist alles nur. wie notwendig es ist. daß mit der alten Schablone der jtunftgeschichtsschreibung, die sich nur für Kirchen und Paläste, für Prunk und Luxus interessiert, aufgeräumt wird. Hermann Hieber. Ein schuldenfreies Heim für Ihre Familie! Haus, Land und sonstigen Grundbesitz machen Sie kür Ihre Familie schuldenfrei durch eineLebensversicherung auf Lebenszeit": je 1000 Mark Hypothek lösen Sie ab durch jähr­lich 15 bis 75 Mark, je nach Ihrem Eintrittsalter. Schon nach der ersten Einzahlung haben Sie die Gewißheit, daß Ihre Familie den Grundbesitz von Schulden frei erhält je früher Sie beginnen, desto billiger ist es. Fragen Sie einen Versichertings- Fachmann!