Aerliner♦ ♦♦Social-Politischcs Wochenblatt.Inhalt:Die Verschärfung des Sozialistengesetzes«— Die sozialistische Bewegung in Schweden.— Die christlich-soziale Partei Frankreichs.—Streiks in den Vereinigten Staaten.— Derinternationale Zlrbeitertag.— Die Anfhcbnngdes Schulgeldes in Preußen.— Aus dempreußischen Landtage— Ans dem Reichstage.Der(fntwurf des verschärften Sozialisten-geseßes.Novelle.— Die Gesellenausschüsse derInnungen.— Die Schiedsgerichte bei derUnfallverstchernng.— Znr Sandhabnng desSozialistengeseßes.Politische Nachrichten.— Vereine undVersammlungen.Uor der Entscheidung.Wenige Tage noch und der Reichstag wird vor einerEntscheidung stehen, wie sie ihm seit dem Attentatsjahreereignißschwerer und verhängnißvoller noch niemals zu-gefallen ist.Denn sagen wir es offen heraus: von den Beschlüssender nächsten Wochen wird es abhängen, ob die herrschendePolitik in der Stellungnahme zu der ArbeiterbewegungDeutschlands für die Zukunft sich wenigstens noch eineMöglichkeit der Aenderung freihält, oder ob man mitfatalistischem Gleichmuthe einem Zustande zusteuern will,aus dem— wie aus der Todtcnwelt der Alten— jederRückweg verschlossen ist.Für beide kämpfende Theile, für die Bourgeoisie wiefür die Arbeiter, bedeutet die Annahme des Regierungs-cntwurfes nicht einen Waffenstillstand auf zwei, drei oderfünf Jahre, nach deren Verlauf dann vielleicht Aussichtauf einen annehmbaren Friedensschluß vorhanden schiene— sondem den Beginn einer ganz neuen Aera des sozialenKrieges, die mit dem nächsten europäischen Weltbrandedas gemein haben würde, daß sie keinen Gedanken anVersöhnung mehr auskommen ließe, sondern nur mit dervölligen Erschöpfung eines der beiden Gegner enden könnte.Das saigner de blanc, mit dessen Schrecknissen FürstBismarck vor Jahresfrist das Gespenst eines europäischenZusammenstoßes zu bannen suchte, wird dann auch fürden Klassenkampf im Innern des deutschen Reiches Geltungerhalten—„bis zur völligen Blutleere" werden diestreitenden Theile gezwungen sein, in der einmalbegonnenen Kampfesweise auszuharren.Oder wenn man schon heute vor einer Milderungdes alten Sozialistengesetzes zurückbebl wie vor einemSprung in einen dunklen Abgrund— wer wird denMulh haben, die Rückkehr zu normalen Verhältnissen zubeantragen, wenn erst einmal der Regierung die unerhörtenVollmachten des neuen Entwurfes verliehen sein werdenund wenn sich der Sozialismus auch darauf cingerickitethaben wird?Wir wiederholen also nochmals: wer die Stirn hat,jetzt Ja und Amen zu den Forderungen des Bundesratheszu sagen, hat sich für immer und ewig die Händegebunden, er hat nicht über die nächsten fünf Jahre,sondern über den ganzen Zeitraum entschieden, währenddessen es noch einen Gegensatz von Besitz und Besitzlosig-keit geben wird; er hat alle Schiffe hinter sich verbranntund wird niemals wieder den Boden des gemeinen Rechteszu betreten vermögen.Ehe man einen so entscheidenden Schritt wagt, sollteman sich unseres Erachtens nochmals alle Folgen desbestehenden zehnjährigen Ausnahmezustandes vergegenwärtigen, und seine Ergebnisse vergleichen mit denHoffnungen, welche man vor zehn Jahren, ausdrücklichoder stillschweigend, an ihn knüpfte. Aus diesem Vergleichwürde man dann entnehmen können, wohin der einmalbetretene Weg bei seiner Fortsetzung führen muß und obman hierbei nicht das Ge gentheil von alledem erreicht,was man 1878 seitens der Regierung und dem Reichstageerstrebt hat und noch immer zu erstreben vorgiebt.Ziehen wir also die Bilanz des Sozialistengesetzes—nicht für uns, sondern für unsere Gegner, nicht vomStandpunkte des proletarischen Sozialismus aus, sondernvom Standpunkte der herrschenden Klassenans, die seit 1878 für die Bekämpfung und Zurück-drängung der Sozialdemokratie durch rein mechanischeMittel des Zwanges eingetreten sind.Ist hier auch nur nach einer Seite ein Erfolg zuverzeichnen gewesen, welcher die hervorgerufenen materiellen,geistigen und moralischen Verwüstungen aufzuwiegen ver-möchte?Man hat das Sozialistengesetz geschaffen, um derAgitation Fesseln anzulegen, welche auf wirthschaftlichcmGebiete die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit be-tonte und zu der Aufhebung dieser Gegensätze aufforderte,weil nur hierdurch eine Besserung der Lage der besitzlosenMasse erzielt werden könne.Und was hat man in der kurzen Spanne einesDezenniums erreicht? Daß heute— nach den Strcik-erlassen, nach der Lahmlegung der Fachvercine, nach derAufhebung des Koalitionsrechtes— daß heute, sagen wir,selbst diejenigen Arbeiter nach politischer Befreiung undBethätigung, nack großen politischen Umänderungen dürsten,welche dereinst den Lohnkampf auf der Basis der bestehen-den Wirthschaftsordnung für ausreichend hieltenzur Hebung ihres ganzen Standes. Wer dereinst nockunter den Arbeitern von der Versöhnung zwischen Kapitalund Arbeit träumte, hat unter dem Drucke der durchdas Ausnahmegesetz vermehrten Uebermacht desBesitzes alle diese Träume aufgegeben und ist— durchdas Sozialistengesetz und rascher, als es je durch dierührigste Agitation hätte geschehen können— von demGegensatz überzeugt worden, dessen Erkenntniß durchdas Sozialistengesetz verhütet werden sollte. Geradedie harmoniepredigenden Befürworter der Ausnahmemaß-regeln sind es gewesen, die mit eherner Pflugschar denBoden aufgewühlt haben, auf dem früher kein sozialistischerSäemann eine Ernte erhoffen konnte.Das sind die„Erfolge", die man in dem Verhältnißzwischen Unternehmern und Arbeitern erzielt hat— undwir wiederholen es: größere Verbitterung hätte währendder letzten zehn Jahre eine noch so verbissene und gehässigeAgitation niemals crzengen können.Und wenn wir nun hinüberschreiten auf das Gebiet,wo der Arbeiter nicht mehr dem Unternehmer, sondernden Behörden, den Gerichten und der Regierung gegenüber-steht— welch' ein vollständiger Umschwung hat sich dabinnen zehn Jahren vollzogen!Man hat hunderttausende ehrlicher und unentbehrlicherMitbürger wie Verbrecher und Prostituirte gerichtlichenund polizeilichen Maßregelungen unterworfen— weil eine„gewissenlose Volksauswieglung" Gesetz und Obrigkeit alsWerkzeuge der Besitzenden schilderte und somit dieAchtung vor den öffentlichen Gewalten zu untergraben suchte.Und heute? Nun, heute sind— infolge desSozialistengesetzes— die Behörden selber gezwungen,durch Thaten das fortzuführen, was vor einem Jahrzehntdie„Aufwiegler" mit Worten begonnen haben. Es istnicht mehr erlaubt, öffentlich von Klassenjustiz zu sprechen— aber wo heute jemals die Gerichte dem Arbeiter be-gegnen, da thun sie es fast ausschließlich, um ihn für„Vergehen" zu strafen, auf die er stolz ist, weil er sieim Interesse seiner Klasse„begangen" hat. Man darfes nur nock, von Ohr zu Ohr flüstern, daß die Regierungenvon den Klassen imeressen der Besitzenden beherrschtseien— aber wo die Regierung heute mit dem Arbeiterzusammentrifft, da zerschlägt sie die Organisationen seinerKlasse, da verwehrt sie ihm, durch Streiks Zugeständnissevon den Besitzenden zu erringen, da vernichtet sie ihmdas Versammlungs- und Wahlrecht, das die besitzendenKlassen voll und ganz in ihrem Interesse auszunützenverstehen. Was kein Mund mehr redet, was keine Federmehr schreibt, das bringen die Behörden durch ihre Thatenunter das Volk— und sie sind dazu gezwungen, durchdas Sozialistengesetz, welches gerade das Gegentheilbewirken sollte.Das ist nach noch nicht zehnjährigem Bestehen desAusnahmegesetzes das Ergebniß nach der Seite der Arbeiterhin. Dasselbe würde vollständig ausreichen, um denBankerott der bisher befolgten Untcrdrückungspolitikfeststellen zu können.Aber es erschöpft das Verlustkonto noch lange nicht,das sich infolge dieser Politik für die Besitzenden aus-gethürmt hat. Wenn dereinst ein ehrlicher Forscher dieGeschichte dieser schmachvollen Periode unserer sozialenEntwickelung schreiben sollte, dann wird er neben derVerbitterung der Arbeiter noch die unsägliche Korruptionzu schildern haben, welche— infolge des Sozialisten-gesetzes— die Besitzenden selbst ergriffen hat, welchechier alle Keime einer edleren Auffassung der sozialenKämpfe vernichtet, ein vordem ungekanntes politischesStreberthum großgezogen und alle Beziehungen des öffent-lichen Lebens vergiftet und in den Koth gezogen hat.Die Anhänger des Sozialistengesetzes mögen sich drehenund wenden, wie sie wollen, auf allen Seiten dieser jüngstenGeschichte starrt ihnen das Wort entgegen: bankerott!bankerott!Aber der Bankerotteur hat seine eigene Logik unddiese Logik scheinen auch die herrschenden Klassen befolgenzu wollen. Wie der verzweifelte Geschäftsmann, bei demdie Ausgaben schon lange die Einnahmen überschreiten, zuNothanlehen greift, um die nagende Sorge des Augen-blickes abzuschütteln, auch wenn später der Zusammenbruchum so furchtbarer wird— so kann sich die herrschendePolitik nicht entschließen, zu normalen Zuständen zurückzukehren; auch sie verlangt neue Vollmachten, um sich nocheinige Zeit halten zu können.Und dann?Wenn kein Band mehr die verschiedenen Gesellschafts-klaffen verbindet, wenn vielleicht alle Arbeitcrabgeordneten— soweit sie nicht expatriirl sind— auf ihre Anwesen-heil im Reichstage verzichten, um auch nicht den leisestenAnschein zu erwecken, es sei von parlamentarischen Verhandlungen noch etwas für die Arbeiter zu erwarten,wenn kein Arbeiter im deutschen Reiche mehr, sein Augehoffnungsvoll auf die Gesetzgebung richtet, wenn die furchtbarste Roth alle Arbeiter zu einer furchtbaren Phalanxzusammengeschlossen haben wird— was dann?Wer von den Besitzenden wird dann überhaupt nochden Muth habe», die Rückkehr zu freieren staatsbürger-lichen Verhältnissen zu verlangen— wenn alsdann jederfühlt, daß es zu spät ist? Scheut man sich heute, nach-dem man selber den Abgrund aufgerissen, vor dem Sprungin's Dunkle, wer wird ihn später noch anrathen, wennder Abgrund tiefer und tiefer geworden ist?Es wird sich Niemand finden, der das thut, und darumwird die Entscheidung der nächsten Wochen, wenn sie zuGunsten der Regierung ausfällt, den Gang unserer innerenEntwickelung für immer und ewig entscheiden.Die bisherigen Schicksale des SozialiKen-gesebes.Frühjahr 1878: Reichstagsauflösung. Im Herbstestimmen Konsebvative und Nationalliberale für das Gesetz.Dauer 2'/- Jahre, also bis Ende März 1881.Erste Verlängerung durch Denselben Reichstag um3'/- Jahre, bis Ende September 1884. 13 Zentrumsleutestimmen dafür.Für die zweite Verlängerung beantragt sogar die Re-gierung nur 2 Jahre. Es stimmen 38 Zentrumsmänner und27 Freisinnige dafür. Geltung bis Ende September 1886.Dritte Verlängerung. Die Regierung verlangt fünfJahre. Annahme ans 2 Jahre mit Hilfe des Zentrums.Geltung bis Ende September 1888.Die vierte Verlängerung soll sich nunmehr aus fünfJahre erstrecken, also bis zum 30. September 1893, undHand in Hand mit einer Verschärfung gehen.