Beiblatt zur

Berliner Volks- Tribune".

23.

[ Nachdruck verboten.]

Die Arbeitslosigkeit.

( Le chômage .)

Von Emile Zola .

Jns Deutsche übersetzt von E. 3.

( Schluß.) III.

Sonnabend, den 9. Juni 1888.

II. Jahrgang.

was man den Kindern verheimlicht. Wenn sie nur den Steinchen in seinen Lauf gefallen, aber es genügte, das Muth hätte, so würde sie die Mutter fragen, wer denn Wallen und Tosen zu erzeugen, das so seltsam an unser die Leute so in die Welt setzt, damit sie hungern. Ohr schlägt.

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Dann ist es bei ihnen so häßlich. Sie schaut das Troß alledem ziehen mich, wie bereits gesagt, die Fenster an, vor dem der Bettüberzug flattert, die nackten Wahnsinnigen unwiderstehlich an. Wieder und wieder suche Wände, die wackligen Möbel, den ganzen schmachvollen ich sie auf, das alltägliche, banal geheimnißvolle Dunkel, Jammer einer Dachwohnung, welcher die Arbeitslosigkeit welches ihren wirren Geist umfangen hält, nimmt mich noch das Mal der Verzweiflung aufdrückt. In ihrer Un- oft gegen meinen Willen gefangen. wissenheit glaubt sie von warmen Zimmern mit schönen, glänzenden Gegenständen geträumt zu haben, sie schließt Die Frau des Arbeiters ist heruntergestiegen, sie steht die Augen, um das Alles nochmals zu sehen, und durch Als ich eines Tages eine bekannte Jrrenanstalt be= an der Hausthür, die Kleine schläft oben. Die Frau ist ihre abgezehrten Lider fällt das Kerzenlicht als großer, suchte, sagte der mich herumführende Arzt: mager, sehr mager, sie trägt einen dünnen Kattunrock. goldiger Schein, in den sie sich flüchten möchte. Aber Warten Sie, ich werde Ihnen noch einen sehr Die eisigen Windstöße bringen ihre Zähne zum Klappern. der Wind bläst draußen, ein starker Luftstrom fährt durch interessanten Fall zeigen." Sie hat nichts mehr, was sie forttragen könnte. Alles das Fenster, und sie wird von einem heftigen Hustenanfall Damit ließ er eine Zelle öffnen, in welcher eine ist im Leihhaus. Acht Tage ohne Arbeit genügen, die ergriffen. Sie hat die Augen voller Thränen. etwa vierzigjährige, noch schöne Frau in einem Fauteuil Wohnung eines Proletariers gründlich zu leeren. Am Früher fürchtete sie sich, wenn man sie ganz allein saß und hartnäckig ihre Züge in einem kleinen Hand­gestrigen Abend hat sie bei einem Trödler die letzten Federn ließ, jetzt weiß sie es selbst nicht mehr... Alles ist ihr spiegel musterte. Sobald sie uns bemerkte, fuhr sie empor, ihres Bettes verkauft; das Bett ist auf diese Weise nach gleich. Da sie seit gestern Abend nicht gegessen haben, stürzte nach dem Hintergrund des Zimmers, ergriff einen und nach, Hand für Hand dahingegangen, jetzt ist ihr nur so denkt sie, daß die Mutter heruntergegangen, um Brod Schleier, der über einen Stuhl geworfen lag und ver­noch der Ueberzug geblieben. Sie hat ihn vor das Fenster zu holen. Der Gedanke belustigt sie. Sie will ihr Brod hüllte sorgfältig ihr Antlig. Darauf kam sie langsam gehängt, damit es nicht so zicht, denn die Kleine huſtet in ganz winzige Stückchen schneiden, die sie dann langsam, zurück, unsere Grüße durch ein leichtes Neigen ihres eins nach dem andern ißt. So wird sie mit dem Brod Hauptes erwidernd. Ohne ihrem Mann ein Wort zu sagen, ist auch sie spielen. ,, Wie geht es Ihnen heut Morgen, gnädige Frau?" Arbeit suchen gegangen. Aber die Arbeitsstockung lastet fragte der Arzt. Sie seufzte tief auf: noch härter auf der Frau als auf dem Mann.

gar arg.

Auf ihrem Korridor wohnen unglückliche Weiber, welche sie die ganze Nacht hindurch schluchzen hörte. Eine davon hat sie an der Straßenecke stehen sehen, sich mit Winken den Vorübergehenden feilbietend, eine Andere ist gestorben, eine Dritte ist verschwunden.

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Die Mutter ist zurück, der Vater hat hinter sich die Thür zugezogen. Ganz erstaunt schaut die Kleine Beiden auf die leeren Hände. Und da sie nichts sagen, so wieder­holt sie nach einer Minute mit singender Stimme: Mich hungert, mich hungert."

,, schlecht, sehr schlecht Herr Doktor, die Zahl der Narben nimmt täglich zu."

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Nein doch, nein," antwortete er ihr mit zuversicht­licher Miene, Sie irren sich."

In einem dunklen Winkel faßt sich der Vater mit Sie trat einen Schritt auf ihn zu und murmelte: beiden Händen an den Kopf. Er bleibt dort hocken, ge- Leider nein, ich bin meiner Sache gewiß. Ich habe Sie hat zum Glück noch einen guten Mann, der brochen, die Schultern von schwerem, lautlosem Schluchzen heut Morgen zehn Narben mehr gezählt als sonst; drei nicht trinkt. Es würde ihnen gut gehen, wenn die vielen geschüttelt. Die Mutter, die ihre Thränen hinabwürgt, auf der rechten, vier auf der linken Wange, dann noch Sauren- Gurken- Zeiten" sie nicht um Alles gebracht. Jeßt bringt die Kleine wieder zu Bett. Sie deckt sie mit allen weitere drei auf der Stirn. Es ist entseßlich, jawohl, hat sie allen Kredit erschöpft; sie schuldet dem Bäcker, dem Lumpen zu, deren sie in der leeren Wohnung habhaft entseßlich! Ich wage nicht länger, mich vor irgend Jemand Krämer, der Grünwaarenfrau, sie wagt nicht einmal mehr, werden kann. Sie bittet das Kind, artig zu sein und zu zu zeigen, nicht einmal vor meinem eigenen Sohn, nein, an den Läden vorüber zu gehen. Heute Nachmittag ist schlafen. Aber die Kleine, deren Zähne vor Kälte klappern, nicht einmal vor ihm! Ich bin verloren, für immer sie zu ihrer Schwester gelaufen, um eine Mark zu leihen, und die das Feuer in ihrer Brust stärker brennen fühlt, entſtellt!" aber sie hat auch da ein solches Elend gefunden, daß sie regt sich krampfhaft. Sie hängt sich ihrer Mutter an den Sie ließ sich in den Fauteuil zurückfinken und schluchzte kein Wort über die Lippen brachte und in Schluchzen aus- Hals und fragt leise, ganz leise: laut anf. brach. Sie und die Schwester haben lange zusammen geweint, und beim Fortgehen versprach sie ein Stück Brod zu bringen, wenn ihr Mann mit Etwas heimkäme.

,, Sag' Mütterchen, warum hungern wir nur?"

[ Nachdruck verboten.]

Madame Hermet.

Der Arzt nahm einen Stuhl, segte sich neben sie und sagte mit sanft tröstender Stimme:

Nun, nun, zeigen Sie nur! Ich versichere Ihnen, daß die Narben Nichts zu sagen haben. Mittels einer kleinen Kauterisation, die ich sofort vornehme, werden sie unverzüglich verschwinden."

Aber der Mann kommt nicht. Der Regen fällt und sie flüchtet sich unter das Thor. Zu ihren Füßen bilden sich Wasserlachen, in die große Tropfen niederplätschern, ein feiner Wasserstaub dringt durch die Kattunfähnchen. Von Guy de Maupassant . Dann und wann verliert sie die Geduld, trotz des Un­( Aus dem Französischen übersetzt von C. 3.) wetters tritt sie heraus, geht bis an das Ende der Straße, um zu sehen, ob der, den sie erwartet, sich noch nicht von Die Wahnsinnigen ziehen mich unwiderstehlich an. fern auf dem Fahrweg zeigt. Wenn sie zurückgeht, so ist Sie leben in einem seltsamen geheimnißvollen Traumreich, sie ganz durchnäßt, sie streicht mit der Hand über das über welchem die schweren undurchdringlichen Nebel geistiger Haar, um es zu trocknen, sie geduldet sich wieder für Umnachtung lagern. Alles was sie im Leben gesehen, beruhigen.

Ohne ein Wort zu erwidern verneinte sie nur durch ein Schütteln ihres Hauptes. Der Arzt faßte nach dem Schleier, um ihn zu lüften, aber sie hielt denselben mit beiden Händen so fest, daß sich ihre Finger tief in den Stoff gruben. Er suchte nun sie durch eindringliches Zureden zu

,, Sie wissen doch recht gut, daß ich die häßlichen

Minuten, und von Fieberschauern geschüttelt wartet und geliebt, gethan haben, beginnt hier für sie ein neues imagi- Narben fortschaffe, sobald sie sich zeigen, Niemand hat

wartet sie weiter.

näres Dasein, das sich all den Regeln und Gesezen ent­Das Kommen und Gehen der Passanten drängt sich zieht, welche sonst die Dinge beherrschen und die mensch- sie noch bemerkt, wenn ich Sie behandelt habe. Aber Sie an ihr vorüber. Sie macht sich ganz klein, damit sie lichen Gedanken leiten. müssen die kranken Stellen untersuchen lassen, denn sonst

Niemand belästigt. Männer schauen ihr in's Gesicht, sie Für die Wahnsinnigen ist Nichts unmöglich, Nichts kann ich Ihnen nicht helfen." fühlt manchmal einen heißen Athem über ihren Nacken unwahrscheinlich, für sie ist das Mährchenhafte lebensvolle Ihnen will ich die Flecken noch allenfalls zeigen" streichen. Das ganze verdächtige, zweideutige Paris , die Wirklichkeit, das Uebernatürliche alltäglich. alltäglich. Die alte murmelte fie, aber ich kenne den Herrn nicht, welcher Sie Straße mit ihrem Koth, ihrem grellen Lichtschein, ihrem Schranke Logik, die ehrwürdige Mauer Vernunft und der begleitet." Wagengeraffel scheint sie packen zu wollen, um sie in die altersgraue Wall, der die Ideen eindämmt und gesunder ,, Es ist auch ein Arzt, welcher Ihr Uebel noch beffer Gosse zu schleudern. Sie hungert, sie gehört einem Jedem. Menschenverstand heißt, sie alle zerschellen, zerstieben in versteht als ich selbst." Gegenüber ist ein Bäcker, und sie denkt an die kleine,

welche oben schläft.

Als sie dann endlich ihren Mann erkennt, welcher wie ein Verbrecher an den Häusern entlang streicht, stürzt sie ihm entgegen und schaut ihn angstvoll fragend an: Nun?" stammelt sie.

Der Mann antwortet nicht und läßt den Kopf hängen, Da steigt sie zuerst, blaß wie eine Todte, die Treppe hinan IV.

Daraufhin ließ sie sich den Schleier vom Gesicht ziehen,

tauſend Trümmer an ihrer Einbildungskraft, die zügellos aber die Angst, Aufregung und Scham, geſehen zu werden, in wilder Freiheit durch das unermeßlich weite Reich der Fantasie streift und in fabelhaften Sprüngen vorwärts machten sie bis zu den Haarwurzeln erröthen. Sie schlug rast, ohne daß irgend etwas im Stande wäre, sie auf die Augen nieder, wendete das Antlig bald rechts, bald zuhalten. Für sie ist Alles möglich und muß Alles möglich links, um unseren Blicken auszuweichen und stammelte: fein. Mühelos besiegen sie die Ereignisse, ohne Anstrengung ,, D, ich leide entfeßlich darunter, mich in einem solchen brechen sie Widerstände, räumen sie Hindernisse aus dem Zustande sehen zu lassen. Es ist schrecklich! Nicht wahr, Wege. Eine Laune ihres in Illusionen schwelgenden es ist schrecklich?"

Willens genügt, fie in Fürsten , Kaiser, Götter zu verwandeln, Ich betrachtete sie mit dem höchsten Erstaunen, denn ihnen alle Schäße der Welt, alle Annehmlichkeiten des in ihrem Antlig war absolut Nichts zu entdecken, was es Oben schläft die Kleine nicht mehr. Sie ist erwacht Lebens zu Füßen zu legen, sie alle Genüsse kosten zu lassen, entstellt hätte, es trug weder Zeichen noch Fleck, von einem und grübelt bei einem Lichtstümpfchen, das ihr gegenüber ihnen ewige Schönheit, Jugend und Liebe zu verleihen. Mal war so wenig zu bemerken wie von einer Narbe. auf der Tischecke im Sterben liegt. Niemand kann sagen, Nur Wahnsinnige können auf dieser Erde glücklich sein ,. Mit noch immer niedergeschlagenen Augen wendete welche ungeheuerlichen und herzzerreißenden Gedanken über denn für sie eriftirt die Wirklichkeit nicht mehr. Es liegt sie sich zu mir. das Gesicht des siebenjährigen Mädchens ziehen, mit den ein unendlicher Reiz für mich darin, mich über ihren ,, Herr Doktor, sagte sie, ich habe mir die fürchter­verwelften, ernsten Zügen einer reifen Frau. regellos umherwandernden Geist zu neigen, wie man sich liche Krankheit zugezogen, als ich meinen Sohn pflegte, der

Sie sißt auf dem Rand des Koffers, der ihr als wohl über einen Abgrund hängt, in dessen dunkelgähnender an ihr darnieder lag. Er ist durch meine Pflege gerettet, Lager dient. Ihre nackten Füße hängen herab und zittern Tiefe ein unbekannter Strom wallt und braust, von dem aber ich bin entstellt. Meinem armen Kinde konnte ich vor Frost. Die kraftlofen, welken Händchen ziehen die Niemand sagen kann, woher er kommt und wohin wohl meine Schönheit opfern. Ich habe meine Pflicht Lumpen über der Brust zusammen, mit denen sie zugedeckt er geht. erfüllt, mein Gewissen ist rein, der Himmel allein weiß, ist. Dort fühlt sie ein Brennen, ein Feuer, das sie löschen Vergebens lauscht man über diese Spalten geneigt, ob ich jetzt leide!" möchte. Sie grübelt. denn nie wird man das Woher und Wohin des Stromes Der Arzt hatte unterdeß einen kleinen Malerpinsel Sie hat nie Spielsachen gehabt. Sie kann nicht in erfahren. Alles in Allem genommen, besteht er nur aus aus der Tasche gezogen. die Schule gehen, weil sie keine Schuhe hat. Sie erinnert Wasser, wie es im Glanze des hellen Tageslichts offen Lassen Sie mich nur gewähren, wendete er sich an sich, daß sie als kleines Kind von der Mutter in die dahinplätschert und rauscht, und wenn man es da unten die Dame, und Alles wird gut." Sonne geführt wurde. Aber das ist schon lange her. einherströmen sieht, giebt sein Anblick keinerlei Aufschluß Sie reichte ihre rechte Wange, und er fuhr mit Sie haben ausziehen müssen, und von da an scheint es, über das Absonderliche seines Laufes. leichten Strichen darüber hin, als ob er kleine Farbenpünkt­daß ein kalter Wind über das Haus geweht hat. Seit Ebenso bleibt es vergebliches Bemühen, den Gedanken- chen auftragen wollte. Dann unterzog er die andere der Zeit ist sie nie mehr froh geworden, sie hat immer gang der Wahnsinnigen erforschen zu wollen. Alles in Wange, Kinn und Stirne der nämlichen Prozedur. gehungert. Allem genommen sind sogar ihre sonderbarsten Wahn- Schauen Sie sich an, die Narben sind verschwunden,

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Sie grübelt über eine tiefe Frage, die ihr unverständ- gebilde nur bereits bekannte Ideen, welche lediglich seltsam es ist auch keine Spur von ihnen zurückgeblieben!", rief lich ist. Ob wohl alle Leute hungern? Sie hat doch erscheinen, weil sie nicht durch die Vernunft mit einander er schließlich aus. versucht, sich daran zu gewöhnen und hat es nicht gelernt. verfettet werden. Der launische Fluß ihrer Vorstellungen Sie ergriff den Spiegel und betrachtete sich lange mit Sie denkt, daß sie noch zu klein ist, daß man groß sein verseßt uns in Staunen und verwirrt uns, weil wir seine tiefster, gespanntester Aufmerksamkeit, mit einer gewalt= muß, um das lernen zu können. Ihre Mutter weiß gewiß, Quelle nicht sehen. Wahrscheinlich ist nur ein kleines samen Anstrengung und Sammlung ihr ganzen Wesens,