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Beiblatt zur Berliner Volks- Tribune".

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Weihnachten des Proletarierknaben.

Von Paul Nitsche .

Das Aug' verweint, in öder, falter Stube Saß eine Frau bei trüber Lampe Schein, Und vor ihr stand ein schmucker, blonder Bube, Er mochte kaum der Schul' entwachsen sein.

Er sprach: Sieh', Mutter, dort im Nachbarhause Da feiern sie das liebe Weihnachtsfest, Viel Gäste fißen dort beim frohen Schmause, Wie kommt's nur, daß man uns so hungern läßt?"

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Den Vater hat man von uns weggenommen, Aus seiner Werkstatt riß man ihn heraus! Ach, Vater, möchtest bald zurück Du kommen, Dann säh' es anders wieder bei uns aus!"

Und in der Mutter Augen Thränen schimmern, Ihr Herz bricht fast vor lauter Schmerz und Noth, Denn ihre Kleinen hört sie kläglich wimmern, Ach, liebe Mutter", schrei'n sie," gieb uns Brot."

Den ganzen Tag hat keines noch gegessen, Nun klopft der Hunger allgewaltig an. Und wie die Muter sinnend lang' gesessen, Da hebt sie weinend laut zu jammern an:

Mein Sohn, haft Recht, ja, könnt' der Vater kommen, Dann würde allen uns geholfen sein! Doch weil der Freiheit er sich angenommen, So schloß man ihn in einen Kerker ein.

Da sigt er nun gefangen hinter Gittern, Und schaut im Geist voll Kummer zu uns her. Wie muß ich vor der Richter Urtheil zittern, Vielleicht, mein Sohn, seh'n wir ihn nimmermehr.

Und uns, die schuldlos so in Noth geriethen Der Hunger nagt an unserm Leibe schon Will keiner von den Reichen Hilfe bieten, Statt Brot erhalten wir nur Schmach und Hohn."

Der Knabe hört's und seine Augen leuchten, Er hebt die Hand zum ernsten Schwur empor: " Liegst Vater auch im Kerker Du, im feuchten, Es dringen täglich neue Kämpfer vor.

Der Freiheitsdrang ist wach in mir geworden, Am Fest der Liebe, Vater, schwör' ich Dir: ,, Mag auch der blinde Haß die Freiheit morden, Dein Geist stirbt nicht, er lebet fort in mir!" Arno Holz

, ein moderner Lyriker.

B. W. Der Grundtrieb der Gesellschaftsklasse, welche Schule und Presse beherrscht und also auf geistigem Gebiete die größte Macht besitzt, ist Erwerbsucht. Die egoistische Atmosphäre aber erstickt edles Gefühl, ideales Streben. Kein Wunder also, daß unsere gegenwärtige Dichtung im Allgemeinen des idealen Schwunges baar ist und nur dem platten Unterhaltungsbedürfniß der bücher­kaufenden Klasse, der Bourgeoisie, dient.

Sonnabend, den 22. Dezember 1888.

Gedanken blizen und verwehen Unzählig, wie der Sand am Meer. Doch mehr als einer wird zur That Und lenkt die Zukunft der Geschlechter, Und als des Jdeals Verfechter Streut er der Zukunft gold'ne Saat. Und auf flammt dann ein neues Licht, Ein neuer Welttag für die Erde,

Denn auch die Menschheit hat ihr Werde"! Und sinnlos ist kein Traumgesicht. Der ew'ge Friede baut sein Zelt, Und ob die Zeit sie auch verdamme, Der Freiheit gold'ne Oriflamme Weht leuchtend über alle Welt.

II. Jahrgang.

Dann schlägt kein Tambour mehr Allarm, Dann steht die Welt voll gold'ner Halme, Und Frankreich ringt dann Arm in Arm Mit Deutschland um dieselbe Palme. Drum juble, juble: Vive la France! Hony soit, qui mal y pense! Arno Holz

richtet auch gegen unsere schmachvollen literarischen Verhältnisse seinen schneidigen Angriff und geißelt eine Reihe von Salondichtern, bürgerlichen Wasser­poeten und Alterthümlern.

An dichterischem Werthe werden die Angriffsgedichte unseres Poeten überragt durch die Schilderungen und Lieder, welche der Betrachtung unserer sozialen Ver= hältnisse entspringen.

Wenn wir von den weniger charakteristischen Tage­buchblättern" absehen, gruppirt sich die Poefie unseres Zwei Racen giebt's; die eine wird mit Sporen, Dichters in Angriffs- Gedichte, welche scharfe Kritik, Mit Sätteln wird die andere geboren. beißenden Spott, schneidenden Hohn den finstern Mächten Unter diesem Motto malt Holz zwei Bilder: Ein unserer Gesellschaft entgegenwerfen, und in Gedichte, welche adliges Schloß; die Fenster verhangen; der Straßendamm mit innigem Mitgefühl des Volkes bescheidene Freuden, ist mit Stroh bestreut, damit die Karossen geräuschlos insbesondere aber sein Elend schildern.

Die Gedichte der ersten Gruppe, die Satiren, zeichnen sich durch gesundes Gefühl, kecken Wiz und edle Rücksichts­losigkeit aus; als Motto derselben lassen sich die Verse betrachten:

Ich pfeif' auf eure feigen Possen!

Ins schwarze Schuldbuch unsrer Zeit Sind meine Verse rothe Glossen.

fahren; der Portier läßt keinen Besuch vor; die Diener­schaft schleicht auf Zehen; der hochgeborene Hausherr blickt verstört, das Parlament muß diesmal auf seine Kraft verzichten; schon zum vierten Male erscheint der greife Hausarzt; und warum das alles? ,, Die gnäd'ge Frau hat heut Migräne." Und nun das Gegenbild: Jm leßten Stockwerk einer

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So glossirt denn der Dichter die hohen Herren im Miethskaserne, umgeben vom Elend, liegt ein junges Weib Frack", welche sich mit den veralteten Ideen der Porzellan- fieberkrank darnieder; Kinder stehen am Bette mit ver= und Reifrockzeit" tragen. D glaubt mir", ruft er aus, ,, unser Jahrhundert ist das Jahrhundert des Fortschritte und der Umwälzungen".

Schaut hin, schon hat's an den Nagel gehängt Purpur und Hermelin

Und sizt am Studirtisch tief versenkt In die heilige Schrift des Darwin . Ja die biblische Spottgeburt aus Lehm" Besann sich auf ihre Kraft,

Und die Wahrheit erschließt ihr Weltsystem

Vor der Königin Wissenschaft.

Ihr aber thut, als wäre die Welt

Noch die Welt, die sie ehemals war;

Ihr bucht eure Titel und zählt euer Geld... Ihr faselt im Wachen, ihr faselt im Traum, Und im Frühling genirt euch der Wind, Und keiner merkt, wie am Freiheitsbaum Schon die Knospen gesprungen sind... In einem Gedichte Die deutschen Denker an die deutschen Dichter" läßt Holz die Männer des begrifflichen Gedankens Anklagen erheben gegen die Poeten der Gegen­wart, weil die Poeten, dem wirklichen Leben abgewandt, nicht verstanden, den Geist der Zeit zu erfassen und das Volt einer besseren Zukunft entgegenzuführen.

Ihr stammelt wie die Kinder, Daß Niemand euch versteht

Und jeder Reimverbinder

Ist heute ein Poet".

Sich selbst singt er im Liede

Und macht es sich bequem,

Als wäre der ewige Friede Schon mehr als ein Problem.

Zum Schluß die Ermahnung, treu zum Volke zu halten, mit demselben zu fühlen und begeistert an der Befreiung desselben mitzuwirken.

Und dräut auch manche Wolke Euch schwarz am Horizont, Dhaltet treu zum Volke; Ihr habt's noch nie gekonnt. Nach ihm streckt seine Krallen Siebenfach die Noth;

Der schrecklichste von allen

Ist doch der Kampf ums Brod.

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Wenn er nur schnüffeln und büffeln kann, Mag dreist dies Sonnensystem erfalten:

Das Gedicht Weltgeschichte" ist eine Satire gegen Doch schon dämmert unserer trüben Zeit das Licht eine gewisse Sorte von Historikern; es zeigt uns einen der neuaufgehenden Sonne, einer Sonne der Erlösung; verknöcherten Graukopf, der in wundervoller Sommernacht und Hunderttausende wenden das Gesicht begeistert dem ohne jeden Sinn für die Schönheit und das Leben der Aufgange zu. In den Köpfen einiger Dichter, jüngerer Welt über Büchern und Bergamenten fiẞt. Kräfte, wogen sehnsüchtige, auf eine bessere Zukunft gerichtete Phantasien; und dieser ideale Geist bewirkt, daß die Dichter unsere Zeit mit eigenthümlichen Blicken be­trachten, mit Blicken, welche sich nicht abwenden von Leiden und Häßlichkeiten, sondern die Wahrheit, die ganze Wahrheit erkunden wollen, mit kühnen, barmherzigen und auch zornigen Blicken. Zu diesen modernen Dichtern gehört Arno Holz , ein noch junger Mann, welcher 1886 Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen"( Zürich , Verlags- Magazin) herausgab.

Gefühle, Phantasien, Gedanken, welche die Leser dieses Blattes sympathisch berühren werden, gehen von den Gedichten aus. Zum Eingang" schildert der Dichter mit pikanten Reimen den Charakter der modernen Poesie, schildert die Kraftlosigkeit der Goldschnitt- Lyrik, spottet der Schönfärberischen und romantischen Poesie und stellt diesen Richtungen das Programm der modernen Dichtung ent­gegen; als einen wesentlichen Charakterzug derselben bezeichnet er den idealen Geistes kampf.

Nein, mitten nur im Volksgewühl, Beim Ausblick auf die großen Städte,

Beim Klang der Telegraphendrähte

Ergießt ins Wort fich mein Gefühl.

Dann glaubt mein Ohr, es hört den Tritt

Bon vorwärtsrückenden Kolonnen,

Und eine Schlacht seh ich gewonnen,

Wie sie kein Feldherr noch erstritt.

Doch gilt sie keiner Dynastie,

Auch kämpft sie nicht mit Schwert und Steule-

Galvanis Draht und Voltas Säule

Lenkt funkensprühend das Genie.

Und um sich sammelt es ein Heer

Von himmelstürmenden Jdeen,

Ihm ist's schon recht, denn was geht es ihn an, Daß sich die Welten wie Blumen entfalten? Festgeleimt an den Stuhl das Gesäß, Fängt er sich Grillen und mästet sich Motten, Hüstelt und schreibt gelehrte Essays Ueber Assyrer und Hottentotten. Tintenfässer bilden Spalier, Goldstreusand und Radirmesser blinken, Ganze Ballen von Schreibpapier Liegen bekrißelt ihm schon zur Linken. Säuberlich hat er drin aufnotirt Jede Schlacht und jedes Gemezel; Neben Napoleon figurirt

Kaiser Tiber und der Hunnenchan Ezzel. Efelerregend mit jedem Band

Schwillt das Gemengsel von Blut, Fleisch und Knochen. Weltgeschichte! O blutiger Hohn! Uralter Hymnus auf die Bornirtheit! Wann, o wann kommt des Menschen Sohn, Der dich erlöst aus deiner Vertiertheit? Immer noch brütet die alte Nacht Grauenvoll über den Völkern der Erde, Aber schon seh' ich rothlodernd entfacht Flammen des Geistes auf ewigem Herde. Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit Jubelt die neugeborene Trias.

Freu dich, mein Herz, denn die goldene Zeit Dämmert, und predigen wird der Messias. Den Franzosenfressern" stellt sich unser Dichter als Deutscher vor, jedoch zugleich als Verehrer des wahrhaft Großen, welches das Volk Rousseau's hat.

Wohl steht noch heut, Gewehr bei Fuß, Ein Cerberus an jeder Grenze, Doch schon umweht's mich wie ein Gruß Aus ferner Zukunft fernem Lenze.

weinten Augen, die nun aber starr und angstvoll blicken; der Armenarzt tritt herein, beleuchtet mit der trüben Kerze das bleiche Gesicht des Weibes und stellt den Tod fest, den Tod aus Elend.

Das Gedicht: Frühling" schildert in modernen Klängen nicht etwa den Frühling, wie ihn die Romantik in Wald und auf der Flur sah, sondern den Frühling in der Großstadt; in launiger Weise werden uns all jene Anzeichen des erwärmenden Jahres vor Augen geführt, welche der Berliner auf den Straßen, am Kanal, im Thiergarten, in der Familienstube und vor dem Stadtthor beobachtet.

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Das Samstagsidyll" liefert ein anmuthiges Bild von dem Liebesleben eines junges Pärchens er ist Dichter, sie Näherin welches in bescheidener Mansarde­wohnnng zusammen Kaffee kocht, von tausend Harmlosig= keiten plaudert und dann spazieren geht im Parke und vor der Stadt, bis der Abend die Welt dunkler und die verliebten Seelen lichter macht.

Das Leiden des Volkes besingt Holz in den sogenannten armen Liedern.

Die Armuth bettelt um ein Stückchen Brot, Doch herzlos läßt der Reichthum sie verhungern; Millionen tritt die Goldgier in den Koth Und einen Einzigen nur läßt sie lungern.

In seid'ne Betten wühlt sie ihn hinein, Wenn er beim Sekt sich endlich ausgeplappert, Indeß beim flackernden Laternenschein Das blaße Elend mit den Zähnen klappert. Gott , warum dies Alles, o warum? Wie Zentnerlast drückt mich die Frage nieder; In meinen Reimen geht sie heimlich um

Und ächzt und stöhnt durch meine armen Lieder. Der arme Schuhmacher, welcher seiner Familie durch den Tod entrissen wird; der Tischler, welcher bei seinem gefährlichen Handwerk den Tod fand und ein verzweifeltes Weib mit einem Kindlein im Elend zurückläßt; das arme, steinalte Mütterlein, dessen Gedanken durch die am Dorfe vorüberziehende Militärmusik in vergangene Zeiten, zu dem lieben Sohne schweifen, der in der Schlacht fiel; der Dichter, welcher vor Elend soeben gestorben ist, als eine Depesche die Botschaft bringt, daß sein Theaterstück einen - das sind die wesentlichen großen Erfolg gehabt habe Strophen der armen Lieder.

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Von demokratischem Geiste ist das erzählende Gedicht: , Ecco homo"( Welch ein Mensch) erfüllt; es schildert den Lebenslauf eines Proletarierkindes, eines Findlings, der von einem armen Schuster erzogen wird, das Seßer= handwerk lernt, in den dürftigen Mußestunden aber, ja bei Nacht, sich durch Bücher unterrichtet und seinen Geist derartig erweitert und vertieft, daß er, der begeisterte Sozialist, in das Parlament gewählt wird; die Redaktion einer sozialistischen Zeitung wird ihm übertragen, und nun hat der Führer des Volkes Gelegenheit, in Wort und Schrift leuchtende Gedanken und anfeuernde Begeisterung in die Massen strömen zu lassen. Ich seh ihn Tag für Tag, Als wäre nichts geschehen, Still mit dem Glockenschlag An seine Arbeit gehen; Das Halstuch roth wie Blut, Von Locken wirr nmflogen, Den Kalabreserhut Tief in die Stirn gezogen. Ein jeder Zoll Genie, Ein Volksmann, ein Poet, Scheint er mir öfters, wie Ein biblischer Prophet.

Das ganze Viertel kennt Und ehrt in ihm den Führer, Der oft im Parlament Auftrat, ein wilder Schürer. Weh' jeder Tyrannei, Wenn er bis Mitternacht Am Pult der Druckerei Geschrieben und gedacht! Wem seine Blize sprühn, Vergißt das Athem holen, Denn seine Worte glühn Im Hirn wie rothe Kohlen. Tiefes Mitgefühl, hohe dichterische Zartheit und eine seltene Formschönheit zeichnen die Gedichtgruppe: Phantasus" aus; dieselbe schildert den Widerspruch zwischen idealem Fühlen und wirklichem Leben, die Zerrissenheit eines jungen Dichtergemüthes, welches, von Schönheit, Glück, Liebe und Freiheit träumend, umgeben wird von Mangel und tiefstem Elend und an dieser Zerrissenheit zu Grunde geht. Ein Auszug aus diesen Gedichten dürfte ein allzu blaffes Bild liefern; mehr empfiehlt es sich, ein einzelnes der