Aeiö5ait zur„Aertiner Wolks-Irisüne". 14. Sonnabend, den 6. April 1889. m. Jahrgang.
Erinnerungen. Von Kermann Bang. Herr Jgnaz Dorn ist bereits erschienen und hat die Fenster des Theatcrbureaus geschlossen; er hat den hohen Hut in die Hutschachtel aus den Schrank gestellt und den Komtoirrock angezogen— derselbe diente einst als Lord Rochestcr in der„Schlasrockscene" vor 25 Jahren in Sorau — und setzte sich an seinen„Posten". Aber Frau Erdmann ist noch sorlwährend damit beschäftigt, in Herrn Prokornys Privatkomtoir auf- zuräumen. Frau Erdmann kommt um sieben Uhr, packt ihre Besen aus und wirst alte Theebläiter auf den Tcppich in dem Privatbureau und wirthschastel umher, sie bewegt sich mir der kleinen Sparlampe in der Hand, vor sich hin sprechend und einen Wischlappen auf jedem Möbel ver- gessend. Dann schleppt sie Kohlen herbei iind zündet im Ofen Feuer an mit Hilfe sehr vielen Papiers, welches sie aus Herrn Prokornys Papierkorb nimmt, der von Zeitungs- ausschnitten und Reklamen der Kaufleute angefüllt ist... Bor dem Ofen, mit der Lampe neben sich auf dem Boden, liegt sie auf den Knieen und liest einen Zeitungsausschnitt nach dem anderen mit ihren thränenden Augen. Frau Erdmann denkt, sie könne vielleicht den Namen ihrer Tochter finden... Und zerstreut, das eine über dem anderen vergessend, zündet sie das Feuer an, segt umher, hält wieder inne und seufzt, während sie den Kopf schüttelt. „Ja— wie kommt es doch?... Ja— so kommt es— o nein, nein— wie es kommt!" Frau Erdmann spricht diese Worte stets in einem resigiiirten, halb abwesenden Tone. Zwischen allen Sätzen und in jeder Rede daheim und draußen sagt sie, die Augen in den leeren Raum gerichtet— stets dasselbe: „Ja, aber— wie es kommt!... O doch, nein— so kommt es!"... Es existirt kein anderes rechtes Leben in dem alten Gehirn, nichts anderes als diese eine Erinnerung... aber sie bewegt sich mit ihrem Besen auf dem Dutzend Treppen und Korridoren von Morgens früh bis Abends spät. Frau Erdmann ist fertig in dem Privatkomtoir und sammelt Besen und Putzlappen, sie zieht einen wollenen Rock über ihre Scheuerkleider, schlägt den Regenmantel um— alles, was Frau Erdman.n trägt, ist im Laufe der Jahre braungrau geworden— und sie fetzt den Hut aus, der mit dünnen Bändern und einer Feder geschmückt ist und altmodisch auf dem ergrauten Haar sitzt. Sic bleibt vor Herrn Jgnaz Dorn's Pult stehen und reibt sich die Hände in den stelffingrigen Handschuhen. „Wäre es nicht möglich... wäre es... wenn es sein könnte..." „Was wollen Sie— was will Frau Erdmann?" Herr Jgnaz Dorn hat die Augen aufgerissen, wie alle Männer, die in ihrer Trcimühlcuarbeu gestört werden. „Gut, gut, gut!"— Herr Jgnaz Dorn hatte dies.» Uebergang wie König Philipp in der Szene über die Niederlande benutzt—„Ich weiß— ich weiß," fährt er fort, indem er mit der Hand umherfichl, als wolle er etwas aus einer unsichtbaren Tafel auswischen—„man giebl heute„die kleine Hexe"..." „Ja", erwidert Frau Eidmann—„ja"... und sie fährt halb erschreckt zusammen. Herr Dorn nimmt die Gänsefeder— Herr Dorn schreibt noch immer mit Gänsefedern— stellt eine Billet- anweisung mit langem Schwung aus und reicht ihr dieselbe. Sie küßt ihm dankbar die Hand. „Na, na— gute Erdmann— gut... gut!..." Die Erdmann küßt ihm noch einmal die Hand. „Gut, gut!" ruft Herr Dorn, der in seiner Freude als Wohlihäter auch bethaute Augen bekommt, wenn er der Erdmann die Anweisüng auf ein Blllel giebt. „Ja— ja— das waren unsere Rollen", sagt er seufzend. Er hatte in Sorau den„Landry" mit Frau von Berg-Erdmann gespielt. „Das waren unsere Rollen," wiederholt er. „Ja— ja wie es kommt, sage ick— so kommt es" ... Und Frau Erdmann kann die Tasche für das Billet mit ihren zitternden Händen gar nicht finden... Herr Jgnaz Dorn vergißt sich selbst und sitzt mit gebeugtem, rundem Rücken wie ein alter Mann da, während er an Sorau und an den Zwilling Landry denkt. „Ja, gewiß— ja, gewiß," sagte er mit einer ganz anderen und„ruhigen" Stimme...„ja, gewiß— meine gute Frau Erdmann."—— An diesem Nachmittag kommt Frau Erdmann drei Stunden früher nach Hause als sonst— die Treppen sehen an diesem Tage fast aus, als ob Wirbelwinde sie heimgesucht und den Schmutz in die Ecke gefegt hätten, so hatten Frau Erdmann's Besen gewinhschaftet, während sie vor sich hin murnrelte, als ob ihre Zunge von einem Banne gelöst wäre— sie tritt zu einer Nachbarin, Frau Pander, ein, um ein Plätteisen zu leihen, und sagt mit einer Stimme, die vor Bewegung bereits ganz belegt zu sein scheint:„Ich habe ein paar Halskrausen zu plätten. Ich gehe heule in's Theater."
Sic plättet die alten weißen Halskrausen und die gelben Bänder an dem merkwürdigen Turban mit den beiden Blumen aus Glasperlen, welche sich auf hohen Stengeln bewegen. Sie kleidet sich an— sorgfältig wie alle alten Leute, welche Hunderte von Lappen rundum an ihrem Körper anzubringen haben— und sie sieht jede Minute nach der kleinen Weckuhr vor Angst, daß sie zu spät kommen werde. Bor sechs Uhr ist sie fertig und sitzt in dem braun- grauen Regenmantel vor der Uhr auf dem Stuhl an der Thür, fieberhaft erregt wartend... Am Billetschalter ist sie die Erste, welche ihren Zettel hinreicht, indem sie vor den Kassirer sich verneigt, stets fürchtend, daß er sagen werde:„Jetzt, im letzten Augenblick?— Der Zettel gilt nicht," oder:„Es ist ausverkauft— es ist kein Platz vorhanden"... immer in Sorge, daß sie nicht hinein- kommen werde. Sich fortwährend verneigend, bleibt sie stehen mit angsterfüllten Augen, während der Kassirer zwischen seinen Bllleis iiniherwühlt, endlich das Galleriebillel abreißt und es ihr hinausreicht, aber sie niminl es nicht, bevor er sagt:„Nun, nehmen Sie doch, da ist es"... Sie ergreift es und wird von einem Käufer fortgestoßen. Oben auf der Gallerte ist sie die erste, sie packt den Regenmantel zusammen und legt ihn auf ihren Platz, so daß sie auf demselben sitzen kann; still, fast wie in Andacht setzt sie sich nieder und schaut auf den Zuschauerraum und den halb finsteren Vorhang. Wenn sich die Bänke um sie zu füllen beginnen, wird sie lebhast, zeigt den Leuten die Plätze und Nummern, dienstwillig wie Jemand, der an Ort und Stelle wie zu Hause ist, ein Gespräch mir den Nachbarn anknüpfend, vom Wetter und von dem Stück sprechend— nur auf die Gelegenheit lauernd, von dem einzigen, was sie bewegt, sprechen zu können:„Ja — meine Tochter— Frau von Berg... Bcrg-Erd- mann——." Während der Abende hier, in dem Lichterglanze, in der Gasluft, mit dem Publikum rings um sich, fühlt sie sich sicher und breitet sich auf ihren« Platz aus, plaudernd wie in alten Tagen, wenn sie laut in den Garderoben sprach, die Choristinnen von dem „Spiegel" fortjagte, ihrer Tochter, Frau von Berg, mit der Puderquaste und den Pastillen folgte und„Platz!— Bekommt man endlich Platz!" den Maschinisten zwischen den Koulisien zurief. „Ja— wir habeil Komödie gespielt"... Und sie kramt in jedem Zwischenakt all' die alten Triumphe aus: „Als wir beim Hoftheater waren— beim Hostheater in Ncu-Strelitz— da sagte Durchlaucht— seine Durchlaucht — zu meiner Tochter Tochicr..." Sie verliert sich fast ganz in ihren Erinnerungen und zwischen all' den Kränzen, von denen sie spricht, und der Durchlaucht und den „Herren Grafen" und„damals, als wir den Fackelzug vekameu", sagt sie mcchaniscb in ewiger Gewohnheit: „Meine Tochter Berg-Erdmann... als Fanchon!" indem sie mit dem Kopse schüttelt. „O ja— aber— wie es kommt, o ja— so kommt es." Und plötzlich sitz: sie ganz still, den allen vergrämten Muiid verziehend und den Kops schüttelnd, so daß die beiden Glaspcrlenblumen auf dem Toupet wackeln und zusammenrascheln. Sic„applaudin" dem„Landry" und „Didier" und der alten„Fädelte", um„Fanchon" zu verdunkeln, und wenn Fanchon hervorgerufen wird, sitzt sie unbeweglich da, als ob diese Darstellerin der kleinen brünetten„Hexe" mit ihren weißen Zähnen nur bloße Luft fei— neidisch auf jedes Händeklatschen, das ihr zu Thcil wird... Wenn das Stück zu Ende ist, grüßt sie alle Nachbarn, läßt sie vorübergehen, verneigt sich zum Abschied vor allen Zuschauern derselben Bank, sie selbst aber bleibt sitzen, bis der ganze Schwärm sich entfernt hat, man die Lichter zu löschen beginnt und die Kontroleure die Sitze aufschlagen und die Logenthüren schließen. Sie aber sitzt noch immer und starrt nach der Bühne, bis der eiserne Vorhang herabgelassen wird und sich schließt... Und wenn sie geht, taumelt sie gegen die Wände auf den langen Treppen und merkt es nicht, plötzlich ver- funken, hinabgestürzt„wie in einen tiefen Brunnen"— in die stumpfe und friedlose Traurigkeit der Alten... Daheim sitzt sie auf dem Rohrstuhl am Bett, indem sie Stunde auf Stunde den Kopf schüttelt, mit den Händen im Schoost, und alles noch einmal wiedersieht— noch einmal sieht sie alles wieder— all' die verflossenen Jahre hindurch... Die lichten Jahre— und die, welche... dann kamen. Deutlich, wie alte Leute sich zu erinnern pflegen, die nur an eins denken und nur eins wissen, durchlebt sie alles noch einmal. Die letzten Jahre— als alle so ungerecht gegen ihre Tochter wurden... zogen sie, jeden Monat wechselnd, von Theater zu Theater, von Städten zu kleinen Städten umher... sie und ihre Tochter. Abends in der Garderobe, wenn sie ihr das Mieder schnürte, so daß sich die Tochter vor Schmerz in die Lippen biß, rief diese:„Noch mehr!"-- „Aber— Du kannst es nicht vertragen." „Ziehe mehr an!"... Doch das half nichts. Voll Angst harrte sie in den Koulifsen, während ihre
Tochter sich auf der Bühne befand— und wenn die Tochter wieder herauskam, lauschte sie und hoffte sie— doch„die Leute dort unten" saßen still— und laut, so daß die Kollegen in den Koulifsen es hören konnten, sagte sie, wenn auch die Stimme dabei zitterte:„Wie schön es war— wie schön Du spieltest!" Und die Tochter ging vorüber und stieß sie fort: „Thörin!" Es war ja das Unglück— nur das Unglück, welches sie so schwer umgänglich machte während der letzten Jahre — ihre arme Tochter. Frau Erdmann sitzt still am Bett, einige kleine Zähren glitten mitunter an ihren Wangen herab... Langsam erhebt sie sich, als läge ein schweres Gewicht auf ihren Knieen. Und still zündet sie ein Licht an, nimmt den Mantel ab und das gute Kleid und legt beide schonend zusammen. Die beiden Blumen— es waren die Blumen, die ihre Tochter als Preziosa... Frau Erdmann hält die beiden Glasperlenblumen mit ihren knöcherigen Händen unter die Lampe. »Ja— ja, sie tanzte... wie es kommt— so kommt es"... Bald darauf ist es still im Zimmer. Frau Erdmann schläft im Bett unter dem Bilde ihrer Tochter. New-Iorker Volkszeitung.
Kassalle's Kehr- und Manderjahre.*) Der alte griechische Philosoph Heraklit , welcher so lange der Gegenstand von Lassalle's Studien war, bediente sich einer Menge verschiedener sinnbildlicher Ausdrücke, um sein Prinzip zu bezeichnen: Feuer, Strom, Gerechtigkeit, Krieg, unsichtbare Harmonie, Bogen und Leier; sie fallen Einem urnvillkürlich ein, wenn man nach einem Symbol sucht, welches das Lebensprinzip Ferdinand Lassalle's be- zeichnen könnte. Irgendwo in einem Briefe, der voll Ungeduld über die langsame Entwickelung der Ereignisse ist, gebraucht Lassalle den Ausdruck„meine glühende Seele"; unter Tausenden, welche eine Redensart wie diese, die zur Phrase geworden ist, anwenden möchten, hat er allein sie ohne Uebertteibung gebraucht; in seinem tiefsten Innern war wirklich Etwas, das dem Feuer glich. Seine glühende Liebe zur Wissenschaft und zur Erweiterung seiner Kennt- nisse, sein Durst nach Gerechtigkeit und Wahrheit, seine Begeisterung, sein unbändiges Selbstgefühl, seine tiefe Eitelkeit, sein Mulh, seine Freude an der Macht: Alles trug denselben flammenden und verzehrendeil Charakter. Ein Lichtbringer war er und ein Flammenbringer; ein Lichtbringcr, verwegen und trotzig wie Lucifer selbst, ein Fackelträger, der gern sich selber durch den Schein der Fackel, mit welcher er Klarheit brachte, in volle Beleuch- lung stellte— granck osenr et granck poseur,— In der Welt Heraklit's waren der Bogen und die Leier im Verein das herrschende Prinzip; die Leier ist das Symbol der Harmonie, d. h. der vollendeten Bildung, der Bogen mit seinem tödtlichen Sonnenpfeil bezeichnet Thätigkeit und Vernichtung. Auch in Lassalle's Geiste herrschten Bogen und Leier im Verein, die vollendete theoretische Bildung und der rastlose praktische Thätigkeitsdrang. Sellen ist in der Weltgeschichte ein solcher Verein theoretischer und praktischer Begabung erblickt worden. Aber Der, welcher Lassalle im Beginn seiner Laufbahn beobachtet hätte, würde, wenn er einen zugleich sympathischen und vorwärts- schauenden Blick besaß, auf ihn die Worte haben an- wenden können, die er selbst von dem alten neuplatonischen Denker Maximos von Tyrus erwähnt:„Ich verstehe den Apollo, Bogenschütze ist der Gott und der Tonkunst Gott , und ich liebe seine Harmonie, aber ich fürchte seine Schützeilkunst(Texeia)" Lassallc war in Breslau geboren; sein Vater war ein nicht hervorragend begabter, aber braver und recht- sicher Kaufmann, beide Eltern israelitisch. Der Sohn war ursprünglich für den Handelsstand bestimmt; da er jedoch auf der Handelsschule zu Leipzig nur geringe Fort- schritte machte, beschloß man, ihn durch Privatunterricht in seiner Vaterstadt sich auf die Universität vorbereiten zu lassen. Lassalle war sein ganzes Leben hindurch der liebe- vollste Sohn, und das Verhältniß zwischen ihm und seiner Familie nach jüdischer Weise ein sehr inniges und festes. Die Mutter hing während Lassalle's ganzer Laufbahn mit größter Begeisterung an dem Sohne, fand sich in Alles, was er unternahm, und fand zuletzt Alles gut. In dem Aller, wo alle Knaben naseweis sind unv sich gern aufspielen, war Lassalle ein ungewöhnlich naseweiser und vor- lauter Junge. Was er selbst in seinem späteren Leben so oft als seine„Frechheit" bezeichnete, verrieth sich schon damals. Wir stehen hier bei dem Rasscnmerkmal in seinem Gemüthe, der Grundform seines Temperamentes, bei der Eigenschaft in ihm, deren Keim am treffendsten durch das jüdische Wort„Chutzbe" bezeichnet wird, das zugleich Geistesgegenwart, Frechheit, Dummdreistigkeit, Un- Verschämtheit und Unerschrockenhcit bezeichnet, und das sich *) Nächsten Donnerstag kehrt der Geburtstag Lassalle's(11. April 1825) wieder. Wir bringen daher heute eine Schilderung der weniger bekannten Jugendzeit des großen Agitators, und zwar nach Georg Brandes ': Ferd. Lassalle. Leipzig 1889. Verlag von H. Barsdorf.