Beiblatt zur Berliner Volks- Tribüne.

32.

Der Fluch der Arbeit.

Der Segen der Arbeit?.... Er ist längst vergessen, Und unsere verkauften Tage durchmessen

Von einem Joche wir wundgedrückt. Und naht dann der Abend, dann sind wir zufrieden! Wir verdienten uns Freude, die uns nicht beschieden, Bevor wir den Nacken nicht tief gebückt.

Armseliger Wahnsinn verblendeter Thoren! Zur Freude bist du und bin ich erkoren

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Durch dein Leben allein hast du sie verdient. Nur um leere, um fleinliche Tage zu kürzen,

Mit dem Trugbild von Pflicht sein Denken zu würzen, Hat sich mit Phrasen dein Geist umschient.

Und unermessen ballt sich zusammen

Ein Chaos von Arbeit, und droht zu verrammen Für immer, für immer der Freude Thor; Der Segen der Arbeit! Ja, in ihrem Segen Als Schatten liegt er auf all unsern Wegen Fast der Schimmer der Freude sich schon verlor!

Gebückte Nacken gilt es zu heben,

In tote Adern zu gießen ein Leben,

Das Freude, Freude, Freude nur kennt. Den Staub zu waschen von grauen Stirnen, Den Staub zu wehn aus vertrockneten Hirnen, Ein Licht zu entzünden, das heiter brennt.

Das Licht der Vernunft, das, vorbei an den Worten Des Wahnes, züngelnd die ehernen Pforten Der Zukunft mitleidlos offen stößt: Wir wollen hinein in die leuchtenden Hallen, Ein Taumel der Freude hat uns befallen,

Und vom Bann der Vergangenheit sind wir erlöst!

O Fluch der Arbeit, dir opfern vergebens

Wir Glück nnd Genuß und Freude des Lebens,

Zu tief find in Wahnsinn und Nacht wir getaucht! Wann kommen nach Arbeit, nach Leid und nach Klage, Nach Pflicht und nach Kümmernissen die Tage,

Wo die Menschheit nichts mehr zu vergessen braucht?!

G. H. Mackay.

[ Nachdruck verboten.]

Der Sohn der Tugend.

Von August Strindberg . Deutsch von Gustav Lichtenstein. ( Fortseßung.)

Sonnabend, den 10. August 1889.

III. Jahrgang.

Nein, Theodor hatte nichts gesehen und wollte auch herauf. Und der Lieutenant hielt ihnen Toaste, einen nach nichts sehen. dem andern. Und Theodor meinte, alles wäre so, wie es Und nun begegneten sie dem Omnibus von Norrbacka sein sollte, und er wurde schließlich so kühn, daß er Riek­mit all den Mädchen. Da erhob sich der Lieutenant in chen auf die Schulter füßte. Aber sie entzog sich ihm und der Droschke und warf ihnen Handküsse zu, mitten auf sah erzürnt aus, da schämte sich Theodor. der Straße. Er war zu toll. Und als die Uhr auf eins zeigte, mußten sie gehen.

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Theodor war wie bethört. Ein Nüchternheitsver­sprechen hatte er niemals gegeben und er sah keine Sünde darin, wenn er ein Wirthshaus besuchte. Er folgte, ob­gleich ihm der Athem im Halse stecken blieb.

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In der Hausflur traf der Lieutenant zwei Mädchen, die im nächsten Augenblicke an seiner Brust lagen. Guten Tag, meine Tauben," begrüßte er sie und füßte beide auf den Mund. Hier habt ihr meinen ge­lehrten Bruder, er ist noch keusch, aber ich nicht, nicht wahr Jossa?"

In Bellevue richteten sie ihre Bestellung aus. Auf Als Theodor nach Hause in seine Kammer und in dem Rückwege lenkte der Kutscher ohne weitere Ordre nach die Einsamkeit kam, war er gänzlich neu und umgekehrt. Stallmeisterhof". Er riß das Komm zu Jesus" von der Wand, nicht weil Wir müssen etwas zum essen haben," sagte Gusten er nicht mehr an Jesus glaubte, sondern weil er meinte, und trieb den Bruder aus dem Wagen. es sei Heuchelei. Er war erstaunt, daß seine Religion so lose saß, wie ein Feiertagsrock, und er überlegte, ob es nicht unpassend sei, die ganze Woche in Sonntagskleidern zu gehen. Er fand in sich einen einfachen Alltagsmenschen, den er gut leiden mochte, und er schien mit sich mehr in Frieden, da er sich so einfach, anspruchslos, nicht empor­geschraubt sah. Und des Nachts schlief er einen schweren, guten Schlaf ohne Träume. Als er am folgenden Morgen aufstand, waren seine bleichen Wangen etwas voller und er fühlte eine frohe Luft, zu leben. Er machte einen Spaziergang, und wie er so ging, tam er hinunter nach Die Mädchen sahen Theodor schüchtern an, der nicht Norrtull. Ob ich im Stallmeisterhof" hören soll, wie wußte, wie er sich wenden sollte, so beispiellos frech, fast es den Mädchen geht, dachte er. Und so trat er in den naiv schien ihm die Rede des Bruders, und sie stürmten großen Saal ein; da saßen Riekchen und Jossa allein in die Treppen hinauf. Oben angelangt, begegnete ihnen Morgenkleidern und pußten Stachelbeeren. Ünd ehe er ein kleines schwarzes Mädchen mit verweinten Augen, das noch wußte, wie es geschah, saß er an ihrem Tische mit nett aussah und einen guten Eindruck auf Theodor machte. einer Scheere in der Hand und pußte Stachelbeeren. Und Und der Lieutenant füßte sie nicht, aber er holte sein sie plauderten von dem vergangenen Abend und von dem Taschentuch hervor und trocknete ihr die Augen und be- Bruder, und wie lustig es gewesen wäre. stellte einen kolossalen Sera. es wurde kein unanständiges Wort gesprochen. Er glaubte Es war ein helles, freundliches Zimmer mit Spiegeln in einer Familie zu sein, und das konnte nicht als fünd­und einem Pianino, eigens für Bacchanalien eingerichtet. Der Lieutenant öffnete mit dem Säbel den Pianinodeckel, und ehe noch Theodor etwas wußte, saß er auf dem Stuhl, die Hände auf der Klaviatur.

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Und

haft angesehen werden. Dann trank er Kaffee und bot auch den Mädchen an. Und dann kam die Mamsell, die Wirthin, und las ihnen aus dem Tageblatt" vor, und da war es ganz, als ob er zu Hause bei sich gewesen wäre. Jeßt spielst Du einen Walzer," sagte der Bruder. Und er fam wieder. Aber eines Nachmittags kam er Und siehe, Herr Theodor spielte einen Walzer. Und der eine Treppe hinauf zu Riekchen. Sie saß und nähte Lieutenant knöpfte den Säbel ab und tanzte mit Jossa Hohlsäume. Theodor fragte, ob er ihr lästig falle. einen gefährlichen Walzer, so daß die Sporenrädchen an D, nicht doch, im Gegentheil. Und nun sprachen sie von alle Stuhlbeine und Tischfüße schlugen. Darauf warf er sich auf ein Sofa und schrie:

,, Kommt her, Sklavinnen und fächelt mir!" Theodor glitt in Mollakkorde über und war bald in Gounod's " Faust". Er wagte nicht, sich umzudrehen.

" Ist das nicht der Freischüß?" fragte sie.

,, Nein," antwortete Theodor höflich, das ist Faust." Er sieht so nett aus, Dein Bruder," sagte die kleine Schwarze, die Riekchen hieß. Er ist anders wie Du, Du alter Schajas!"

dem Bruder. Er war im Feldmanöver und auf Rekognos­zirungen und sollte erst nach zwei Monaten zurückkehren. Und dann tranten sie Punsch und nannten einander ,, Du."

An einem andern Tage begegnete Theodor ihr im Hagapart. Sie pflückte Blumen. Und sie seßten sich in das Gras. Sie trug ein dünncs. Sommerkleid, so dünn, baß er das Obere ihrer Brust wie zwei weiße Hügel mit einer dunkelen Versenkung dazwischen sah. Er umarmte und küßte sie. Sie füßte ihn wieder, so daß ihm schwarz vor den Augen wurde. Da zog er sie an sich, als ob er fie ersticken wollte, aber sie riß sich los und sagte sehr ernst, er müsse artig sein, wenn sie sich wieder treffen sollten.

Und so trafen sie sich zwei Monate. Theodor war verliebt in fie. Er hielt lange, ernste Reden über die höchsten Aufgaben im Leben, über die Liebe, die Religion, über alles, und dazwischen machte er seine Angriffe auf

Eines Abends im Juli, als es am allerwärmsten ,, Geh und gieb ihm einen Kuß," flüsterte der Bruder, war, und alles im höchsten Flor stand, unter der Schwanger - aber das wagte feines der Mäden. Nein, sie fürchteten schaft der Natur, die alles, was im Frühjahr befruchtet sich vor ihm und seiner düsteren Musik. wurde, nun der Frucht entgegenreifte, saß Herr Theodor Aber die Keckste trat an das Pianino und wollte in seinem Zimmer und träumte. Er hatte an die Wand etwas sagen. ein großes Komm zu Jesus" angeschlagen, eine Art laß uns nicht- disputiren" für den Bruder Lieutenant, der ab und zu von dem" Meiereiland", wo sein Regiment stand, einen Abstecher nach Hause machte. Er war eine fröhliche Seele, die sich stets pflegte", wie der Onkel sagte, und die auf den Gang der Welt wahrhaftig keine Grübeleien Er ist auch Priester," flüsterte der Lieutenant. verschwendete. Heute Abend hatte er Theodor versprochen, Dies machte einen tiefen Eindruck auf die Mädchen, um sieben Uhr nach Hause zu kommen und ihn abzuholen, und sie füßten von nun an den Lieutenant nur noch heim- ihre Tugend, wurde aber stets mit seinen eigenen Worten um über die Feier des Geburtstages des Vaters zu lich, und Theodor sahen sie verlegen und mit einer Scheu zurückgeschlagen. Und nun schämte er sich so entseßlich, sprechen. Theodors heimlicher Plan war der Versuch, den an, etwa wie Hühner den Kettenhund. Und dann kam weil er so niedrig von einem unschuldigen Mädchen hatte Bruder zu überraschen und ihn auf bessere Gedanken zu der Sera! Himmel so viel Speisen! Es waren achtzehn denken können. Seine Passion nahm schließlich die Form bringen. Gustens heimlicher Plan aber war, Theodor zur Teller, außer den warmen Gerichten. Und dann goß hoher Bewunderung für dieses arme Mädchen an, das Vernunft zu bekommen. Gusten den Branntwein ein. fich inmitten unzähliger Versuchungen hatte rein bewahren Mit dem Schlage fieben hielt eine Droschke( der Stal, Du alter Priestergeselle," sagte er. Und fönnen. Er hatte sich das Priestereramen aus dem Sinn Herr Lieutenant tam stets in einer Droschke) vor dem Theodor konnte es nicht lassen, von dem Branntwein zu geschlagen, wollte eine akademische Würde erwerben- Hause, und bald darauf hörte Theodor Sporenklirren und kosten. Und der wärmte so schön, und ein dünner, warmer wer weiß vielleicht Niekchen heirathen. Er las ihr Säbelgeraffel auf der Treppe. Schleier fiel über seine Augen, und die Eßluft wühlte wie von nun an Poesie vor, und sie nähte. Küssen durfte Guten Tag, alter Maulwurf," begrüßte ihn der ein wildes Thier in seinen Eingeweiden. Und der frische er fie, so viel er wollte, fie drücken, ziemlich zudringlich Lachs mit seinem halbangefaulten Geschmack und die Dille sein, aber nicht weiter.

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ältere Bruder.

die Nacht.

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Es war eine junge, kräftige Gestalt. Unter dem mit ihrer betäubenden Narkotik; und die Radieschen fragten Endlich kam der Bruder nach Hause. Da wurde blanken Schaft der Stulpenstiefel sah man die prächtigsten in der Kehle und verlangten Bier, und die kleinen Beef- fofort ein Zechgelage auf Stallmeisterhof" angeordnet, Waden; und unter den langen Schößen des Uniform- steaks mit portugiesischer süßer Zwiebel, die wie ein und Theodor mußte dabei sein. Aber er sollte ihnen vor­rockes zeichneten sich Lenden ab wie die eines Percheron. ianzendes, warmes Mädchen roch, und die Hummer à la spielen; unaufhörlich vorspielen. Er war mitten in einem Der goldene Kartoucheriemen ließ die Brust noch breiter Daube mit seinen Düften vom Meeresstrand, und die Walzer, nach dem niemand tanzte, als er sich umdrehte erscheinen und das Säbelkoppel hing auf einem Paar ersten Preßgurken mit ihrem Geschmack nach giftigem stand auf und trat in die Flur hinaus. Er kam in eine und sah, daß er allein in dem Saale geblieben war. Er Hüften auf denen man hätte fißen können. Kupferroft, die so angenehm zwischen den Zähnen knirschten; stand auf und trat in die Flur hinaus. Er kam in eine Er warf einen Blick auf das Komm zu Jesus", und dann die jungen Hühner, mit Petersilie geschmückt, Reihe kleiner Zimmer; zuletzt in ein Schlafzimmer. Dort lachte verschmitt, aber sagte nichts. die an den Gärtner erinnerten. Und der Porter floß in hatte er einen Anblick, der ihn sogleich hinausstürzen, Komm jetzt mit, Theodor, wir fahren zum Gärtner seinen Adern wie warme Lavaströme, aber nach den seinen Hut nehmen und verschwinden ließ, hinaus in nach Bellevue und bestellen alles für des Alten Geburtstag. Gartenerdbeeren, paff! da knallte der Champagner, und Mache Dich fertig und komme jeßt, alter Baruch." das Mädchen fam mit dem schäumenden Trank, der wie Erst gegen Morgen befand er sich wieder in seinem Theodor wollte Einwendungen machen, aber der eine Quelle floß. Und dann sollte das Mädchen auch ein Bimmer in der Norrtullstraße, einsam, vernichtet, beraubt Bruder ergriff seinen Arm, setzte ihm die Müße verkehrt Glas haben. Und nun sprachen sie und der Lieutenant allen Glaubens an das Leben, die Liebe und natürlicher­auf den Kopf, steckte ihm eine Cigarre in den Mund und von allem Möglichen. Und Theodor saß da wie ein weise an das Weib, denn es gab nur ein Weib in der öffnete die Thür. Theodor fühlte sich lächerlich und aus Baum, der sich mit Saft zu füllen beginnt, und die Speisen Welt, und das war Riekchen auf Stallmeisterhof". seiner Rolle gerissen, aber er folgte. gährten in seinem Körper, so daß er sich wie ein Vulkan Mit dem 15. September reiste er nach Upsala, um " Jest fährst Du nach Bellevue," sagte der Lieutenant fühlte. Neue Gedanken, neue Gefühle, neue Ansichten, fich für das Predigerexamen vorzubereiten. zu dem Kutscher, aber so, daß Deine Bollbluthengste wie neue Gesichtspunkte flatterten wie Schmetterlinge um seine Riemen auf den Straßensteinen liegen!" Stirn. Und nun seßte er sich an das Pianino ; aber was Theodor mußte über des Bruders Sicherheit lachen. er spielte, wußte er nicht. Er fühlte die Tasten unter Niemals würde es ihm beigekommen sein, einen Kutscher, seinen Fingern wie eine Menge harter Knochensplitter, einen alten, verheiratheten Mann, Du zu nennen. aus denen sein Geist Leben pressen, die er ordnen, sammeln, Auf dem Wege plauderte und schwaßte der Lieutenant wieder zerbrechen, auflösen sollte. Er wußte nicht, wie von allem Möglichen und begaffte alle Mädchen, die ihnen lange er so gespielt hatte, aber als er geendet hatte und begegneten. So fuhren sie an einem heimkehrenden Leichen- sich umwandte, trat der Bruder in das Zimmer. Er sah zuge vorüber. glücklich aus wie ein höheres Wesen, und sein Antlig " Hast Du gesehen, hast Du gesehen," sagte Gusten, ftrahlte von Leben und Kraft. Und dann kam Riekchen ein so verwünscht hübsches Mädchen saß im letzten Wagen! mit einer Bowle, und bald darauf kamen alle Mädchen

( Fortseßung folgt.)

Die Berufskrankheiten der Arbeiter und der Kapitalismus .

V.

O Lungenleiden bilden auch den Hauptprozentsatz der Berufskrankheiten, die sich die in der Eisen- und Stahl­waarenfabrikation beschäftigten Arbeiter zuziehen. Bei der Produktion von Messern, Sägen, Sensen,