zu thun. Aber jedesmal, wenn sie an Hans vorbei ging, sah sie ihn an mit einem Blick voll Kummer und Zu- neigung, als wolle sie ihm zuletzt noch recht zeigen, wie lieb er ihr sei. Als der letzte Gast gegangen war, beeilte sie sich mit dem Aufräumen so sehr wie möglich. Dann stand sie zum Gehen fertig vor ihm. Sie nahm schweigend den Arm, den er ihr bot. Sie hatte sich vorgenommen, ihm noch ein herzliches Wort zu sagen, und ihm dafür zu danken, daß er immer so freund- lich zu ihr gewesen sei. Aber nun konnte sie es nicht finden und schwieg. Es war ein dunkler Abend. Die Hitze des Tages hatte sich gemindert. Sie gingen durch einige dunkle, fast menschenleere Gassen. „Du mußt mir den Weg sagen, Maxl. Ich weiß noch gar nicht, wo Du wohnst." „Wir gehen rechts," sagte sie leise. „Thut es Dir wirklich leid, das ich fortgehe, Maxl?" „Ja, denn Du bist der einzige gewesen, der mich gern gehabt hat, ohne—" sie stockte, und wußte nicht, wie sie ausdrücken sollte, was sie sagen wollte. „Ohne—?" wiederholte er. „Nun, ohne etwas von mir dafür zu verlangen. Du weißt ja, was ich meine. Darum habe ich Dich auch lieber, als die anderen.— Und nun gehst Du fort, und ich bin wieder ganz allein", setzte sie leise und traurig hinzu. Er sah vor sich hin. Dies Mädchen ist doch von einer rührenden Naivität, dachte er bei sich. Er blieb plötzlich stehen, und hob ihr Kinn mit der Hand empor, um ihr Gesicht sehen zu können. Sie ließ es willig geschehen, und sah ihn mit ihren eigenthümlichen, großen Augen an. Er sah, wie ihre Lippen zuckten. Da beugte er sich nieder und küßte diesen Mund, der sich ihm darbot, und sie schlang plötzlich ihre Anne um seinen Nacken und legte ihre Stirn an seine Brust. Er fühlte ihr krampfhaftes Schluchzen, welches sie nicht mehr die Kraft hatte zurückzuhalten. Er schwieg und ließ sie ruhig weinen. Er überlegte, ob er sie noch einmal küssen sollte. Aber merkwürdigerweise hatte er keine Lust dazu. Ihre Küsse waren so ganz anders gewesen, wie er gedacht hatte, so wenig sinnlich und so wenig reizend. Er fühlte eine gewisse Ernüchterung. Daher sagte er denn auch: „Komm, Marl , laß uns weitergehen, mein Kind." Sie gehorchte sofort. „Nicht wahr, ich bin recht thöricht, Hans", sagte sie, „was würde es denn auch helfen, wenn Du hier bliebest. Es bliebe doch alles beim Alten, und es ist gewiß besser, wenn wir uns nicht mehr sehen." Er hatte doch eine angenehme Zufriedenheit, als er sah, wie sie ihn so liebte. Denn er hatte es eigentlich nicht geglaubt. Sie sprachen nun zusammen über einzelnes und er- innerten sich au manches, was sie mit einander verhandelt hatten, wenn er des Abends gekommen war, um sie zu sehen. Sie war noch offener gegen ihn wie sonst. Aber er hatte an diesem Abend gar kein Interesse mehr für ihre kleinen Leiden und Freuden. Sie bemerkte es nicht, und sprach hastig und unzusammenhängend weiter, wie um sich über die Stunde hinwegzuhelfen. Er dachte an ein anderes, und wurde durch eine Frage ausgeschreckt. „Wie lange willst Du zu Hause bleiben, Hans? Ist es denn nicht möglich, daß Du noch einmal hierher kommst?" „Nein, Maxl, ich komme keinensalls wieder. Ich werde wohl ein Jahr oder länger noch dort bleiben." Und dann setzte er ihr auseinander, wie er eine Stelle am Gericht bekleiden würde ze. „Und dann willst Du Dich verheirathen, mit einer Dame aus Eurer Gesellschaft, nicht wahr?" Er lachte. „Vielleicht. Denn da ich Dich nicht bekommen kann, so bleibt mir wohl nichts Anderes übrig." Sie lächelte bitter. Aber er sah es nicht. Doch als er sie fester an sich ziehen wollte, fühlte er, wie sie sich ihm leise emzog. „Da wohne ich, Hans", sagte sie, und zeigte auf eines der hohen, traurigen Häuser. Sie standen still. „Du wirst mich wohl schnell vergessen", meinte sie. „Nicht so schnell, wie Du mich", gab er zur Antwort. Sie fühlte, wie stark ihr Herz klopfte. Es war ge- radezu ein körperlicher Schmerz, den sie empfand. Sie hatte vergessen, daß sie ihm noch danken wollte. Langsam reichte sie ihm die Hand und sah ihn an. „Kann ich nicht noch—" sagte er. Als er aber ihre klaren, ernsten Augen auf sich gerichtet sah, und ihr offenes Geficht, aus dem jetzt nichts mehr von Heiterkeil lag, da— wagte er es nicht! Er stockte und sprach nicht weiter. Maxl hatte ihn nicht verstanden. „Leb' wohl, Hans", sagte sie. Sie hatte sich vor- genommen, recht ruhig und tapfer zu bleiben. Sie küßten sich noch einmal. Dann eilte sie aus die Thür ihres Hauses zu. Während sie aufschloß, nickte sie ihm noch einmal zu. Dann sah er, wie sie schnell eintrat. Er wollte auf die Thür zueilen und klopfen. I Aber er drehte sich kurz um und ging zur nächsten Straßenecke, um den Straßennamen zu lesen. Er hatte keine Ahnung, in welcher. Gegend der Stadt er sich befand. (Fortsetzung folgt.) Soxialistische Spaziergänge. B. W. Eine große Wahrheit erzwingt nicht nur in der Studierstube vermöge eines Bollwerkes gelehrter Bücher und durch einen kriegskünstlerischen Aufmarsch von Grün- den unsere Beistimmung, sondern läßt auch im Leben außerhalb der Gelehrsamkeit, im alltäglichen Treiben der Welt, allerlei Bestätigungen auftauchen, hier eine, dort eine, und so schließlich ein ganzes Heer. Und gerade solch ungesuchte Bestätigungen überzeugen-, sie zeigen, daß wir es mit einer echten, nicht bloß eingebildeten Wahrheit zu thun haben, mit einer Geistes-Großmacht, die nicht allein eine glänzende Parade von Begriffen vorführt, sondern durch die Kraft der Thatsachen besähigt ist, die Köpfe zu beherrschen; wie den Rechner die sogenannte Probe von der Richtigkeit seiner Rechnung hauptsächlich überzeugt, so liefern die Beobachtungen, welche abseits von den Büchern im wirklichen Leben gemacht werden, einen wesentlichen Beitrag zur Beurthcilung einer Lehre. Der Naturforscher begegnet allerorten den Gesetzen seiner Wissenschast. Bei allerlei ganz ungelehrten Ver- richtungen hört er Naturgesetze wispern; aus den gewöhnlichsten Gegenständen sieht er Flämmchen physikalischen Geistes hervorzüngeln. Trocknet er sich mit dem Hand- tuche ab, so hört er ein Stimmchen:„Ich bin die Ca- pillarität!" Die Lustpcrlen ans dem Boden des gefüllten Wasserglases erzählen ihm vonCohäsion, Gleichgewicht u.s.iv. Und wenn er seine Taschenuhr aufzieht, spricht zu ihm das Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Geht er spazie- ren in Wald und Feld, so beobachtet er an Pflanzen und Thieren den Kampf ums Dasein, die natürliche Auslese und andere Wahrheiten des großen Darwin . Wie dem Naturforscher, so geht es auch dem denken- den Genossen. Sein Sozialismus ist keine bloße Bücher- Weisheit, welche sich auf die Kenntniß von Marx, Engels, Lassalle und Bebel beschränkt, sondern eine Leuchte, welche auf das alltägliche Leben einen solchen Schein wirft, daß sich in dem leicht Uebersehbaren, für viele Menschen Bedeutungslosen jene Gesetze erkennen lassen, nach denen die Entwickelung unserer Ge- scllschaft sich vollzieht. Solch flüchtige Beobachtungen eines Sozialisten, Be- stätigungen unserer Sozialwissenschaft, mögen hier eine fortlaufende Notiz finden, in planloser Reihenfolge, wie sie dem Spaziergänger sich darboten. 1. lieber dem Bürgersteige, neben dem Cigarren-Laden hängt an der Wand des Hauses ein Automat. Dieser rothgestrichene Kasten hat etwas Einschmeichelndes. Hinter seiner Glasscheibe zeigen sich zwei Schichten bunter Karton- Päckchen, theils mit Chokolade theils mit Bonbons gefüllt. „Darf ich bitten?" sagt der nette Kasten, und der Vorübergehende braucht nur einen Nickel in den Spalt zu stecken, um sich oder seine Dame mit der Leckerei er- götzen zu können. Diese Art zu kaufen ist so leicht und anmuthig wie eine Spielerei; man freut sich über das Klirren des Nickels im Automaten, über die Regelmäßigkeit der Wirkung und über die ganze schlaue Menschheit, der man anzugehören die Ehre hat und noch dazu im neunzehnten Jahrhundert. Man denkt auch wohl an die Zukunft. Ja, die Zukunft! Auch der Automat hat seine Zu- kunft. Noch freilich kann er als Spielerei betrachtet wer- den; er ist eben ein Kind. Aber wenn das Kind heran- wächst, oder wenn es Geschwister erhält, und wenn diese Geschwister heranwachsen....! Eine kleine Entwickelung hat ja der Automat bereits hinter sich. Er dient nicht bloß dem Handel mit Näschereien; er verkaust auch Zigarren und verschänkt Schnäpse, stellt fest, wieviel die Leute wiegen und liefert ihnen ihre Bildnisse, die er in wenigen Minuten photographisch anfertigt. Der Automat ist also gelehrig. Wie lange wird es dauern, und er verkauft Post-Werth- zeichen, Fahrscheine für Pferde- und Eisenbahn, Galanterie- und Kolonialwaaren und— was weiß ich! Wenn ich es genau wüßte, wäre ich ja der Erfinder. Die Menschheit aber wird das alles schon erfinden; denn sie ist gewinnsüchtig und schlau. Sie wird die ganze Erzeugung und Verbreitung der Güter mehr und mehr automatisch machen. Dieser Gedanke hat nun freilich etwas Wunderliches. Man legt sich die Frage vor: Wenn die Maschinen sogut wie alles machen, wo bleiben dann die Arbeiter? Wenn die Maschine bewirkt, daß zur Produktion immer weniger Menschen gebraucht werden, ohne daß die Arbeitszeit der Beschäftigten verkürzt wird, was sollen dann die Menschen anfangen, welche durch die Konkurrenz des blutlosen Räder- lhiers aus der Arbeit verdrängt worden sind? Mein pfif- figer Freund aus dem Lager der Nationalliberalen meint: „Die erhalten eben anderwärts Beschäftigung, werden z. B. für die Herstellung der Maschinen verwendet."— Allerdings viele werden verwendet in Maschinenfabriken, aber doch nicht so viel, als verdrängt werden. Sonst hätle ja die Maschine leinen vernünftigen Sinn. Die Erzeugnisse der maschinellen Produktion sind doch nur deswegen aus dem Markte siegreich, weil sie billiger sind; und sie sind billiger, weil sie weniger Menschenarbeit kosten.— Wohinaus also geht die Entwickelung der Menschheit, wenn die blutlosen eisernen Räderthiere die ganze Welt bevölkern, wenn die ganze Produktion gewissermaßen von einer ein- zigen Maschine geleistet wird, deren Kurbel der einzige Arbeiter eines einzigen Milliardärs dreht, während draußen die arbeitslose Volksmasse vor Hunger brüllt?— Doch den Scherz der Uebertreibung bei Seite! Jedenfalls ist die Frage sehr eindringlich: Was fangen die durch die Ma- schine verdrängten Arbeiter an?— Der Nationalökonom entgegnet: Sie vermehren die„industrielle Reserve- armee", haben nichts zu essen, vagabundiren, stehlen viel- leicht, gehen zu Grunde oder— erhallen sich dadurch, daß sie für ein Geringes arbeiten und also die Löhne drücken, die Arbeitszeit verlängern und überhaupt die Lage des Proletariats verschlechtern. Und der Politiker meint: Sie werden Sozialdemokraten und machen Sozialdemokraten. Hört, hört, ihr weisen Herren von der„Ordnungs- Partei"! Solch ein böses Ding ist die Maschine. Und der Auiomat ist eine Maschine, eine Verkaufs- Maschine, ich möchte sagen: die absolute Maschine, weil er nämlich keiner besonderen Bedienung bedarf. Dieser anmuthige, rothgestrichene Automal ist ein echter„Rother", ein ganz gefährlicher Sozialdemokrat. Er will den„Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung". Diesen herbeizuführen hat er mit den anderen Räderthieren einen geheimen Bund geschlossen. Klagt ihn also an wegen Geheimbündelet! Erklärt ihn auf grund des K 9 für aufgelöst! Weist ihn auf grund des kleinen Belagerungszustandes aus der Stadt, den hinterlistigen Schleicher, welcher sich zuerst mit Anmuth und Süßigkeiten einschmeichelt und im geheimen wühlt, um die sozialistische Gesellschaftsordnung zu verwirklichen! 2. Ein Spießgeselle des Automaten ist der Phonograph. Auch dieser Sozialdemokrat hat sehr einschmeichelnde Ma- nieren, thut als wolle er nur spielen und die feine Welt unterhalten, geberdet sich als Aristokrat, kümmert sich an- scheinend gar nicht um das gemeine Volk, verkehrt nur mit Millionären, Ministern und Fürsten , macht dem Reichs- kanzler Visiten— gerade wie unser Lassalle, der„inler- cssantc Gutsnachbar" Bismarcks. Ja, er ist eine interessante Person, dieser Mr. Phono- graph, ein geniales Individuum! Man denke nur: Er bringt es fertig, den Schall, gesprochene Worte, gesungene Worte, ganze Musikstücke derart auf einer Fläche zu fixircn, daß die Abdrücke auf dieser Fläche zu einer be- liebigen Zeit wieder in Schall , in dieselben gesprochenen oder gesungenen Worte, in dasselbe, genau ebenso klingende Musikstück zurückverwandelt werden können. Er ist gewisser- maßen ein Photograph der Stimme, welcher noch dazu „sprechend" ähnlich photographirt, ist Stenograph und Sprechmaschine zu gleicher Zeit. Er gleicht jenem Posthorn Münchhausens, in dem die Töne festfroren und später wieder austhauten zu lustigem Geschmetter. Er gleicht auch dem sibirischen Eise, welches ja die Fähigkeit nach- gewiesen hat, ein Mammut der Urzeit mit Haut und Haar so wohl zu konserviren, daß Hunde der Neuzeit sein Fleisch mit Appetit fraßen. Auch die Mammutthiere der Gegenwart, die geistigen Größen unseres Zeitalters ver- mögen wir nun mit Hülfe des Phonographen der Sterb- lichkeit zu entreißen, so daß noch späte Jahrhunderte ihre Stimmen belauschen können. In Wahrheit spricht jetzt der Parlamentarier zu den Fenstern heraus, und zwar nicht blos zu seiner Zeit, sondern auch noch zu späteren Geschlechtern, falls diese sich interessiren sollten. Die Leistungen der Ton-Virluosen können nunmehr verewigt werden. Und der Dichter wird bald seine Romane und Gedichte nicht mehr drucken, sondern von einem Vortrags- künstler oder gar von mehreren mit vertheilten Rollen in den Phonographen sprechen lassen, zu hohem Genüsse der Menschheit. — Fürwahr ein Genie, dieser Phonograph! Und doch ein rolher Sozialdemokrat, ein Umstürzler! Denn auch er wird helfen, das Proletariat durch Schaden klug zu machen und dem Sozialismus in die Arme zu treiben. In welchem Maße, läßt sich nicht voraussehen. Vielleicht wird er den Handclsbeflissenen Konkurrenz machen. Thatsache ist, daß Edison mit seiner Hülse bereits Arbeits- ersparungen macht. Jedenfalls ist der Phonograph ein sehr eindringlicher Beweis dafür, daß die Entwickelung der Technik und somit die Veränderung der Gesellschaft sich keinen Stillstand gestattet. Und jedenfalls wird der Phonograph ebenso wie der Telegraph und das Telephon den Stoffwechsel unseres Gesellschaftskörpcrs beschleunigen, durch ihre Adern stürmischer das schöpferische, bildende Blut jagen, so daß die Krise des Fiebers, der großen so- zialen Krankheit früher eintritt. Den revolutionären Karakter der neuen Erfindung, wenn auch unbewußt, tressend, Hat der Reichskanzler in den Phonographen die Marseillaise hincingesprochen, so daß er nun späteren Zeiten, falls diese ihm hören wollen, das alte Revolutionslied vordeklamiren kann. Möge die Zukunft immerhin dergleichen Stammbuchverse merkwürdiger Männer anhören, möge sie auch ein anderes Wort, welches der Kanzler im Hörne Münchhausens hat festftieren lassen, hören und beherzigen.„Sei mäßig in der Arbeit!" sprach Bismarck in den Phonographen — wobei er freilich, wie die Zeitungen berichten, nur seinen Sohn meinte. Uor Sonnenaufgang. es. Wenn im Schooßc einer alten Gesellschaft neue Kräfte sich regen, wenn die ökonomisch-soziale Entwicklung bis zu einem Punkte vorgeschritten ist, wo die unterjochten Klassen ihr Elend als Unrecht empfinden und nach politischer Macht streben, nm so zu ihrem Rechte zu kommen, dann drückt sich naturgemäß dieses weltgeschichtliche Erwachen auch in der Literatur aus, welche dem Jahrhundert den Spiegel vorzuhalten hat. Die bewußt oder unbewußt revolutionäre Poesie ist einer von den bedeutungsvollen, merkwürdigen Schatten, welchen große, unaufhaltsam herannahende Umwälzungen vor sich her werfen. Lehrreich ist das Schauspiel, welches das alte Frankreich uns kurz vor Ausbruch der Revolution von 1789 bietet. Die große Masse des Volkes schmachtet in einer Knechtschaft, die
Ausgabe
3 (2.11.1889) 44
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