Beiblatt zur Berliner Volks- Tribüne.

45.

Herbstlied eines Chinesen.

Wir sind nicht reif!

Das ist das Lied, das sie gesungen haben Jahrhunderte lang uns armen Waisenknaben, Womit sie uns noch immer beschwichten, Des Volkes Hoffen immer vernichten, Den Sinn der Bessern immer bethören Und uns're Zukunft immer zerstören.

Wir sind nicht reif?

Reif sind wir immer, reif zum Glück auf Erden, Wir sollen glücklicher und besser werden. Neif find wir, uns're Leiden zu klagen, Reif find wir, uns're Wünsche zu sagen. Neif find wir, euch nicht mehr zu ertragen, Reif, für die Freiheit alles zu wagen.

Hoffmann v. Fallersleben  .

[ Nachbruc verboten.]

Nur eine Kellnerin.

Bon

John Henry Mackay  . ( Fortsetzung.)

Sonnabend, den 9. November 1889.

III. Jahrgang.

ort lag, die Nacht zu bleiben und sie bei einem Frauen: Dann ging er schnell in sein Zimmer, warf sich in den zimmer zu verbringen, welches er sich auf der Straße auflas. Lehnstuhl und las den Brief noch einmal vom ersten bis Als er das Weib am nächsten Morgen verließ, zum letzten Wort, mit jener peinlichen Genauigkeit, mit schenkte er ihr das. Armband, welches Marl   sich durch ihr welcher er seine Geschäftssachen zu lesen pflegte. Lachen verscherzt hatte. Dann reiste er mit dem ersten Zuge weiter.

II.

Er saß da mit zusammengekniffenen Lippen; auf der Stirne eine kaum merkbare Falte, in dem hellen, schönen Zimmer und sah auf den Brief, auf die ungelenken, im Anfang krampfhaft graden, gegen Ende immer undeutlicher

Für Marl Braun folgten wieder die eintönigen und zitternder werdenden Linien, das zerknitterte, nicht Wochen einer Beschäftigung, an welche sie sich zwar immer ganz reine Papier und es fiel ihm fast unangenehm auf, mehr und mehr gewöhnte, welche sie aber doch zu Zeiten wie ungelent, unregelmäßig und wie einfach das Ganze recht anwiderte. Die wenigen Studenten, welche sonst war. Ueber die Bemerkung mit der Suppe lächelte er, wohl ab und zu gekommen waren, waren in den Ferien, als sein Auge wieder auf die Stelle fiel. und unter ihren anderen Gästen war niemand, mit dem Dann dachte er an Marl  , aber nicht an das franke sie gern gesprochen hätte. So kam es, daß fie oft an Mädchen, welches von aller Welt verlassen war, welches Hans Grüßmeyer dachte; und dann tauchte stets wieder alles verloren hatte, was sie besessen hatte, bis auf ihren der eine glänzende Abend im Café Bauer und der Sonn- Stolz, der erstickt war, als sie sich nach langem Sträuben tag auf der Spree vor ihr auf. An diesen kargen Er- endlich entschlossen hatte, diesen Brief zu schreiben, sondern innerungen zehrte sie immer wieder, denn sie besaß keine er dachte an die heitere, frische Marl  , welche ihn so anderen. Alles andere war Staub und Arbeit und Elend, schlecht behandelt hatte. Dann warf er plößlich den Brief wohin sie sah in ihrer ganzen Jugend. Jedoch sie dachte bei Seite, ging einige Male im Zimmer auf und ab, nicht oft an ihre Kinderjahre. Sie wollte diese Zeit ver- überlegte, was er thun sollte, hob ihn dann wieder auf geffen und es mußte ihrem Willen gelingen. und schloß ihn sorgfältig ein. Dann ging er aus.

An Hans dachte sie mit Dankbarkeit. Sie glaubte Hans Grüßmeyer reiste nicht mit dem Frühzuge, ihm viel schuldig zu sein. An diese Dankbarkeit knüpfte sondern erst am Nachmittage. Den ganzen Morgen war fich eine Zuneigung, welche jedoch weit entfernt von er innerlich so unruhig, wie er es bei sich nicht kannte. Liebe war. Er wußte wohl, was es war: er hätte Marl   noch gern Da wurde sie plößlich krank. einmal gesehen. Es war ihm, als müsse noch etwas zwischen ihnen ausgesprochen werden, wozu nur heute noch

Den Abend verbrachte er in einer Gesellschaft, einer jener finnlosen Zusammenkünfte, in welcher man sich tausendmal Gesagtes immer wieder mit derselben lächelnden Liebenswürdigkeit sagt, in welchem man tausendmal Ge­hörtes mit der Miene des Interesses immer wieder anhört, während man im Innern nur den einen Wunsch hat, mög­lichst bald nach Hause zu kommen. Hans Grüßmeyer amüsirte sich dagegen immer vortrefflich in solchen Abend­

die Gelegenheit sei. Es quälte ihn beinahe. Aber doch Lebenstreis eingetreten, in welchem er sich so lange bewegt gesellschaften. Er war gern gesehen in diesen Kreisen, ba Unterdessen war Hans Grüßmeyer wieder in den nicht so, daß ihm sein Mittagessen nicht vorzüglich ge- hatte während seiner Jugend; und von dem ersten Tage, er gut zu unterhalten verstand, und es schmeichelte seiner

schmeckt hätte.

Als der Kutscher hielt, hieß er ihn warten, bis er wiederkäme. Er vergaß sogar nicht, sich die Nummer des Wagens zu merken, damit der Kutscher nicht etwa Lust bekommen sollte, mit seinem Gepäck fortzufahren. Als er aber einen Blick in das alte, müde Geficht des ehrlichen Weißbierberliners warf, kam ihm dieser Verdacht selbst lächerlich vor.

und

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Als er ungefähr einen Monat zu Hause war, erhielt er eines Tages von dem Briefboten, welchem er zufällig an der Thür begegnete, den folgenden Brief.

Lieber Hans!

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Er saß im Wagen und hatte Befehl gegeben, nach von der ersten Stunde an fand er den kleinen, kurzathmigen, Eitelkeit, hier seine kleinen Triumphe zu feiern, und für dem Bahnhof zu fahren. Als er auf seine Uhr sah, sah engen Ton ganz von selbst wieder, in welchem alle diese wißig, ja geistreich zu gelten, während er doch eigentlich er, daß er noch über eine Stunde Zeit hatte und schnell Menschen sprachen, und welchen er in nichts verlernt hatte keine Spur von echtem Humor besaß. Und besonders an entschlossen rief er dem Kutscher den Namen einer Straße während der Jahre, welche er draußen in der Welt diesem Abend, wo die Tochter des reichen Kaufmanns da gewesen war, in nichts, mochte er auch diese Jahre ganz war, welche er zu, welche an jene grenzte, in welcher Marls Kneipe lag. anders gesprochen haben. In der Enge dieser Berhältniffe, stimmt heirathen sollte! Er hatte durchaus nichts da­so war es im Rath der Eltern be= Während der Wagen weiter rollte, dachte er daran, was wohl Marl   sagen würde, wenn er doch noch einmal in welchen jede freiere Natur erstickt wäre, bewegte er sich gegen, und sie ebensowenig, und so verlief alles zur Zu­wieder fäme. Er suchte nach einem Vorwand. Vielleicht, ſicher und behaglich. Keine Anforderung trat an ihn heran, friedenheit. Erst als er spät am Abend im Bette lag, wenn er angab, ihr noch ein kleines Abschiedsgeschent welche er nicht leicht im Stande gewesen wäre zu erfüllen, fiel ihm plößlich wieder der Brief der Kellnerin ein. Er - was er unbewußt am angenehmsten empfand bringen zu wollen? Und sehr befriedigt mit dieser Idee legte sich auf die andere Seite. Der Gedanke war ihm ließ er bei dem nächsten Goldschmiedladen halten und jene leisen Zweifel, welche so unbehaglich waren, an sich unangenehm, daß er doch irgend etwas thun müsse. Mor­kaufte ein billiges Armband, welches weit werthvoller aus: selbst und anderem, hier schwiegen sie vollständig. Denn unangenehm, daß er doch irgend etwas thun müsse. Mor­sah, als es war. nichts war da, was sie hätte erwecken können. Seine gen dachte er und schlief ein. Am nächsten Morgen nahm er den Brief vor, und Eitelkeit fog Nahrung aus seiner gesellschaftlichen Stellung, überlegte noch einmal ruhig und reiflich. Er rechnete nach, welche durch seinen Vater eine sehr geachtete war, und die wie viel er wohl gut entbehren könnte. Dann wollte er sie waren so gering ihr 40 Mark senden. Als er aber noch einmal nachdachte, Pflichten seines neuen Berufes" und dabei doch völlig schüßend gegen jeden etwaigen Vor: sagte er sich, sie hätte gewiß auch mit 30 genug, sie war wurf der Unthätigkeit. ja schon auf dem Wege der Besserung und würde bald wieder etwas verdienen können. Dann sah er nach ihrer Adresse. Aber den Brief las er nun nicht wieder. Es Er ging schnell die Straße hinunter. Er konnte ein war ihm peinlich; und er wußte ja auch zur Genüge, was Berlin  , den 10. 8. 85. darin stand gewisses, unbehagliches Gefühl nicht unterdrücken, darum Er wollte ihr das Geld per Postanweisung ging er immer schneller, trotzdem er bei der Gluth wie in schicken; aber dann mußte er seinen Namen als Absender Schweiß gebadet war. Du hast mir einmal gesagt, wo Du wohnst, das ist mir wie hergeben. Sandte er dagegen in eingeschriebenem Brief, Er stand vor der Thür. Da trat er einen Augenber eingefallen ich habe Dir nicht schreiben wollen aber ich weiß so würde sich der Postbeamte gewiß über seine Korrespon­nicht, was ich thun soll. Schon glaubte ich mich von allen verlassen, blick zurück und unter das Fenster, an welchem er Mar! ba erinnerte ich mich Deiner und klammerte mich an die Hoffnung, denz verwundern. Hier kannten ihn alle Menschen zu ge= zum ersten Male gesehen hatte. Er glaubte ihre Stimme die einzige, welche ich noch habe, fest und dachte vielleicht hilft mir nau. Da galt es in allen Dingen, und besonders in sol­gehört zu haben. Die Straße war leer. Das Fenster der, ich bin sehr frank, nicht lange nach Deiner Abreise und mußte chen Kleinigkeiten, vorsichtig zu sein. Denn alles wurde stand offen. Er drückte sich dicht an die Mauer. Da vom Geschäfte zu Hause gefahren werden. Es wurde der Arzt ge- besprochen, gedeutet, mißdeutet und weitergesprochen. So holt und er bat meine Wirthin die ist aber sehr arm hörte er über seinen Kopf fort ihr helles, lustiges Lachen solle sich meiner annehmen, denn ich wäre so übel baran; mun bin nahm er Scheine und legte sie in ein Couvert. Er fügte schallen, laut und anhaltend. Dann sprach sie, aber er ich in der größten Noth, ich habe keinen Pfennig Geld mehr und eine Karte bei, auf welcher er ,, Gute Besserung!" geschrie­konnte ihre Worte nicht verstehen. feinen Menschen, an den ich mich wende. Ich bin jezt allein, kein ben hatte. Als er aber sah, daß es eine Karte mit seinem Da ging Hans Grüßmeyer plößlich schnell und ohne Mensch weiß, daß ich schreibe. Ach, es wird mir so schwer an Dich Namen war, zerriß er sie und nahm eine andere leere. zu schreiben, ich hätte das nie gedacht, aber was soll ich thun in sich umzusehen den eben gekommenen Weg zurück, warf meiner Angst und Verzweiflung, heute ist der zwölfte Tag, daß ich Dann schrieb er mit seinen schönen, regelmäßigen Zügen sich in seine Droschke und fuhr mit bösem, geärgertem zu Hause gebracht wurde, drei Tage lag ich zwischen Leben und die Adresse ab und warf den Brief in den Kaften, als er Gesicht zum Bahnhof. Tod, meine Eltern, denen darf ich doch nicht schreiben und ich will zum Frühschoppen ging, welcher ihm in dem Bewußtsein, es auch nicht, lieber verhungere ich, o Hans! hätte mich der liebe eine gute That gethan zu haben, heute doppelt gut schmeckte. Gott   lieber sterben lassen, alles ersparte, es war ja sehr wenig, aber das letzte habe ich heute hergegeben zu einer Taube. Ich darf lich schrieb sie ihm nicht wieder. Jedenfalls wollte er dem Er glaubte auch, nun damit fertig zu sein. Hoffent= nur Suppe von Huhn und Taube eſsen, heute ist der erste Tag, daß ich zweimal essen darf. O Hans! hätte mich der liebe Gott   Briefboten einen Wink geben, dergleichen Briefe stets nur lieber sterben lassen! Lieber Hans! ach erbarme Du Dich meiner, ihm persönlich einzuhändigen. ich habe keinen Menschen sonst mehr an den ich mich wende, wenn ich wieder gesund bin, werde ich Dir alles mit dem größten Dank zurücksenden, entschuldige nur die Schrift, aber ich schreibe ja im Bett und dabei habe ich die Angit, jeden Moment kommt wer her­ein, sie dürfen ja nicht sehen, daß ich schreibe. Ich weiß nicht mehr selbst zu schämen brauchte. wo mir der Kopf steht, am 15. die Miethe, dann Essen, Wäsche und Alles. Die Tochter von meiner Mirthin besorgt mir den Brief, o bitte laß mich nicht warten. Lebe wohl, mir wird so schlecht, mit Gruß Deine Marl  ."

Er war tief gekränkt. So konnte sie also lachen, wenige Stunden nach der Trennung! Es nagte an ihm Diese Gleichgültigkeit hatte er nicht erwartet.

Er wußte nicht, daß es vielleicht das letzte Lachen des Mädchens gewesen war, welches er gehört hatte. Als ihn der Zug in den nächsten Stunden durch die öde, versengte Gegend trug, dachte er wieder an die letzten Wochen, mit denen er nun endlich und für immer abge: schlossen zu haben glaubte.

Sein Aerger ließ nach, ja er dachte sogar mit einer Art Zufriedenheit an seine Handlungsweise Marl   gegen über, wenn er sich zurückrief, daß er doch eigentlich sehr edel und uneigennüßig an ihr gehandelt habe. Wer hätte das an seiner Stelle gethan?

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fie

Und querüber über der ersten Seite stand noch einmal

Nicht durch das Mitleiden mit der Kranken war Hans Grüßmeyer bewogen worden, das Geld zu senden; sondern darum hatte er es gegeben, damit er sich nicht vor sich

( Fortsetzung folgt.)

Ausschreitungen der Innungen.

Das Handwerk soll bekanntlich auf den Zustand Nichts hatte er von ihr verlangt für das, was er mit großen, zitternden Buchstaben: Laß mich nicht warten!" vor dem dreißigjährigen Kriege wieder gebracht werden. ihr gewesen. Und er war ihr doch viel gewesen, sie hatte Hans Grüßmeyer starrte auf den Brief, den er in Es giebt nun zwar böse Leute, die da behaupten, das es ihm selbst gesagt. Rein und tadellos ja, so war der Hausthür stehend aufgerissen und durchflogen hatte. wäre nicht ganz so leicht, als es das Bewilligen von einer

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ihr Verhältniß gewesen, wie zwischen Bruder und Schwester Dann sah er auf das in der Haft zerrissene Couvert. Da Milliarde für einen gesinnungstüchtigen Reichstag ist, doch beinahe und innerlich befriedigt schaute er zum Fenster stand mit großen, ungelenken, aber klaren Buchstaben sein sind viele Hände, wenn auch wenige Köpfe mit emfigem - unserem Be­hinaus. Dann dachte er wieder an seine Zukunft... Name: An Herrn Hans Grüzmeier am Gericht" und der Bemühen thätig, diesem Ziele nachzustreben Aber immer wieder drängte sich doch Marls Bild vor Name der Stadt. Und auf der Rückseite ihre Adresse. dünken nach freilich auf etwas falschem Wege. Wie die Handwerker sich vor dem dreißigjährigen feine Augen. Er glaubte zuletzt wirklich, daß er sie ge- Eine Straße in Berlin  , die er nie hatte nennen hören; liebt habe. So hatte denn auch seine Jugend ein kleines im dritten Stock. Kriege räusperten und spuckten, das sieht man in den Man sieht Stück Romantik erhalten, welches eine hübsche Erinnerung Dann war sein erster Gedanke: wie gut, daß ich den Innungen freilich getreulich nachmachen. für sein Leben bleiben würde. Und er lächelte vor sich Poftboten zufällig getroffen habe! Wenn nun jemand aus Innungsfahnen, Innungsherbergen, Innungsober- und hin meiner Familie den Brief gesehen hätte! -unter- Meister, Innungsfeste, Innungstage und Innungs­Das alles hinderte ihn aber durchaus nicht, in der Er sah sich um. Aber das Haus und die Straße zöpfe einführen, aber den Geist der alten Zeit, den kann größeren Stadt, welche zwischen Berlin   und seinem Heimaths- waren still und ruhig. Niemand hatte ihn sehen können. man doch nicht gut wieder Herstellen. Man müßte da