Mim i« Kerliner Unlks Trilrüne.
M 51.
Sonnabend, den 21. Dezember 1889.
III. Jahrgang.
Der Armen Tod.
�Nachdruck verboien.j
Der Mond blitzt durch die Fensterscheiben, Um's dunkle Dachwerk pfeift der Wind Und Nachbars Lieschen liegt im Sterben Und ihre Mutter weint sich blind. Das Haar gebleicht von tausend Sorgen, Im dünnen Kleidchen von Kattun, Erwartet sehnlich sie den Morgen— Der Apocheker will nicht borgen, Der Doktor hat„zu viel zu thun"... Der Märznacht goldne Sterne scheinen, Ihr Himmel deckt uns alle zu: Hör auf, du Mütterchen, mit Weinen, Dein Kind ist besser dran als du! Es braucht nicht nähend mehr zu sputen Sich spät bis in die Nacht hinein, Und wenn die Lüste sie umfluthcn Und roth die Rosen wieder bluten, Spielt um sein Grab der Sonnenschein! Die Noch im löchrigen Gewände Zertritt die Perle der Moral; Das Loos der Armuch ist die Schande, Das Loos der Schande das Spital! Ja, jede Großstadt ist ein Zwinger, Der roth von Blut und Thränen dampft; Drum hütet euch, ihr armen Dinger, Denn diese Welt hat schmuy'ge Finger— Weh, wem sie sie in's Herzfleisch krampst... Da horch! ein langgezognes Stöhnen Und jetzt ein wilder, geller Schrei! Was chut's? Man muß sich dran gewöhnen! Hier hieß es wieder mal:„Vorbei!" Schon übermorgen karrt der Racker Das arme Mädel vor die Stadt Und niemand kennt den Todtenacker, Darauf beim öden Sterngeflacker Ein Herz sein Glück gefunden hat! Arno Holz .
piachdr»« ctrfotm.] Wur eine Kellnerin. Von John Henry Mackay . (Schluß.) Nicht plötzlich war Moxl dieser Gedanke gekommen, und merkwürdigerweise auch nicht in dem Uebermaß einer mahn- sinnigen Verzweiflung— nein, sie hatte ganz ruhig und fest überlegend überall umher geblickt und alle Wege ver- sperrt, alle Thüren verschlossen gefunden und in logischer Folge war ihr suchender Geist nun bei dem letzten Wege angelangt, der offen vor ihr lag, wie er jedem Leben immer und immer als letzter Zufluchtsort offen steht, wenn es nicht mehr ein und aus kann. Sie warf in dieser Stunde noch keinen Blick auf diesen Weg, und dachte nicht darüber nach, ob sie auch stark genug sei, ihn zu gehen. Sie stand an seinem Ansang, und fühlte nur und dachte nur daran, wie traurig es doch sei, so»erlassen und Hülflos zu sein, wie sie war. Sie fühlte auch, daß sie nie mehr wieder gesund werden würde. Sie hatte zwar keine Schmerzen jetzt, dock sie wußte, daß ihre Sehnen an mancher Stelle wie durchschnitten seien, denn es machte ihr Mühe, die Hand zu heben und den Kopf nach einer anderen Richtung zu wenden. Und auch nicht eben erst war ihr der Gedanke des Sterbens gekommen. Zuweilen schon hatte sie sich in den einsamen Stunden ihrer kranken Nächte mit ihm beschäftigt, aber noch nie war er ihr so nah getreten, wie in dieser Stunde. Noch mochte sie sich nicht entschließen, und glaubte immer noch eine Oeffnung zu finden, durch welche sie durchschlüpfen könnte. Aber immer mehr sah sie auch ein, daß es sein mußte. Alle unglücklichen, betrogenen Mädchen gingen in's Waffer. Auch sie war unglücklich und betrogen worden. So blieb ihr nur übrig, dasselbe zu thun. Ganz langsam gingen die meisten ihrer Gedanken; und dann kamen wieder einige plötzlich ruckweise und schnell. Oft verwirrten sie sich. Aber sie kehrten immer wieder zu dem Einen zurück. Endlich blieben sie davor stehe». Und von jetzt an dachte sie nur noch an dies Eine.— Sie erhob sich mühsam und trat vor den Bahnhof. Aber als sie einige Schritte gcthan hatte, kehrte sie wieder um— nein, es sollte nicht hier sein, wo er lebte. Er sollte sie nicht wieder sehen. Er brauchte es nicht zu wissen. Es war keine Uebcrwindung für sie, ihm dies zu ersparen. Aber als sie wieder in der Nähe des Schalters stand, mußte sie wieder alle ihre Gedanken zusammennehmen, um sich darüber klar zu werden, was sie eigentlich wollte. Ihr Blick fiel auf eine Karte der Gegend, und sie trat vor dieselbe hin. Unter dem Namen der Stadt, wo sie
sich befand, war ein dicker blauer Strich gezogen. So fand sie, was sie suchte. Und neben dem Flusse, �der mit scharfer Krümmung vort sich von Norden nack Süden wandte, sah sie den Strich lausen, der die Eisenbahnlinie bezeichnete; und indem sie mit dem Finger dieser Linie nachging, las sie den Namen des nächsten größeren Ortes� der an diesem Flusse lag. Sie sprach ihn halblaut vor sich hin, um ihn einzuprägen. Dann trat sie zum Schalter und wiederholte ihn laut. Sie griff in die Tasche und legte eines der Goldstücke hin. Als ihr gleichgültig das Billet und das gewechselte Geld zurückgeschoben war und sie beides zu sich genommen hatte, suchte sie nach dem Perron.%• Sie mußte etwa eine halbe Stunde warten, bis der Zug kam. In dieser Zeit ging sie entweder langsam au und ab, oder lehnte sich still an die Wand. Sie war wieder in eine halbe Bewußtlosigkeit zurückgesunken. Ein mal fühlte sie Hunger, und dann einige Minuten lane; einen brennenden Durst; aber sie wußte nicht, wo sie etwas zu essen bekommen konnte; und dann war beides wieder vergangen.— Als ein Beamter vorbeiging, zeigte sie ihm wortlos ihr Billet.„In zehn Minuten auf diesem Gleis erhielt sie zur Antwort. Es kümmerte sich niemand um sie; das Perron füllte sich langsam mit Menschen. Neben ihr stand eine Gruppe Arbeiter, mit rauchgeschwärzten Ge sichtern. Sie lachten und sprachen laut. Aber sie verstand nicht, was es war, worüber sie lachten und sprachen. Dann entstand eine kleine Bewegung unter den Leuten welch ihr sagte, daß der Zug nun gleich kommen müsse Ihr kam der Gedanke, nach der Uhr zu sehen. Es war noch nicht drei. Sie glaubte, es müsse schon Abend sein. Aber es war noch nicht drei— sie hatte ganz richtig sehen. Als der Zug heranbrauste, stand sie so dicht an den Schienen, daß ein Mann sie zurückschob. Nun dachte sie sekundenlang daran, sich der Lokomotive entgegen zu werfen dann war es auch vorbei. Aber sie hatte nicht den Muth dazu. Sie wurde halb von dem Andrang der Anderen in den Wagen geschoben. Ihr Billet hatte sie noch immer in der einen Hand, und die andere ließ sie nicht von ihrem Bündel. Sie saß an dem Fenster, welches niedergelassen war. Sie war fast allein im Coupe. Nur drei der Arbeiter saßen an der anderen Seite, aber sie stiegen schon au der nächsten Station aus. Sie sah während der ganzen Fahrt unablässig zum Fenster hinaus. Zuerst sah sie noch Theile der Stadt, und sie mußte unwillkürlich einen kurzen Augenblick wieder an Hans Grützmeper denken. Aber die Stadt verschwand rasch in der immer trüber werdenden Ferne. Dann sah sie neben sich plötzlich den Fluß. Er floß von nun ab die ganze Strecke neben ihr her. Sie sah unverwandt aus das starkfließende Wasser. — Es lag ihr schwer auf der Brust; ihr war es, als könne sie kaum mehr athmen, und je weiter sie fuhr, desto heftiger fühlte sie wieder die Schmerzen in der rechten Schläfe werden. Sie drückte sich dichter in die Ecke. Doch nur so weit, daß sie noch das andere Ufer des Flusses im Auge behalten konnte. Die Arbeiter waren ausgestiegen und sie war allein. Sie hörte nichts mehr, als das einförmige, dumpfe Stampfen der Maschine und das Rasseln der Räder auf dcni Eisen. Der Schaffner ging durch den Wagen. Sie vernahm, wie er sie fragte. Doch sie verstand ihn nicht, und reichte ihm mechanisch ihr Billet. Er nickte.„Nächste Station" sagte er und ging weiter. Nächste Station schon! So bald!— Und ganz plötzlich ergriff sie eine entsetzliche Angst. Eine Angst, so groß, daß sie am ganzen Leibe zitterte. So saß sie mit bebenden Lippen und starren Augen da, bis der Zug hielt. Sie wußte nicht, daß sie ausgestiegen war. Aber sie be- fand sich auf einmal wieder draußen und ging wieder den anderen nach. Erst als sie nicht mehr gedrängt und geschoben wurde, sah sie auf. Zur Linken lag die Stadt: graue Massen, Thürme und Rauch— alles halb verschwommen. Bor ihr, wo die meisten Menschen, welche mit ihr angekommen waren, gingen, zog sich eine lange Chaussee hin. Sie besann sich nicht lange und ging den- selben Weg. Es würde schon recht sein. Sie senkte wieder den Kopf und sah nur, wie sich der Weg langsam unter ihren Füßen fortschob; ihr war, als ginge nicht sie, sondern der Weg, und als würde sie sortgeschoben. Erst als die Chaussee eine Biegung machte, sah sie sich wieder um; sie stand an einem Kreuzweg. Links führte es zur Stadt, welche nun schon ganz nahe lag. Rechts durch die Felder durch; sie glaubte in der Ferne den Fluß zu sehen. So ging sie auf diesem Wege weiter, obwohl er ganz menschenleer war. Sie war so müde, daß sie sich am liebsten auf die Erde niedergeworfen hätte, um zu schlafen. An das,- was sie wollte, dachte sie kaum. Es lag wie dumpfe Betäubung auf ihr. Auf einmal fuhr sie zusammen. Es war jemand an ihr vorbei gegangen. Sie blieb stehen. Es war ein Herr gewesen, der sich umdrehte, als er sah, daß sie nicht weiterging. Sie ging zögernd einige Schritte zurück und ging
auf ihn zu. Aber als sie nahe bei ihm stand, wußte sie nicht, was sie wollte. Er sah sie erstaunt an. „Ist dort das Wasser?" fragte sie endlich. Der Herr fixirle sie scharf. Er hatte eine goldene Brille auf und einen langen, wohlgepflegten Bart. Maxl fühlte, wie seine kalten, scharfen Augen auf ihr ruhten. „Ja", sagte dann der Herr kurz. Es schien, als ob er sie noch etwas fragen wollte. Aber als er sah, wie sie weiter ging, setzte auch er kopfschüttelnd seinen Weg fort. Maxl glaubte noch zu fühlen, wie er ihr nachsah. Deshalb ging sie schneller, wie vorher. Es begegnete ihr niemand mehr; nach einer Weile aber sah sie eine alte Frau an einem der Bäume kauern. Da kam ihr ein Gedanke, und indem sie auf die Frau zutrat, griff sie in die Tasche und legte behutsam alles Geld, welches sie mit den Fingern erfaßt, in die Hände der Alten. Das Weib rührte sich kaum; es war entweder blind oder schlief. Maxl beugte sich nieder, um ihr Ge- ficht zu sehen. Aber es war so vornüber gebeugt und die grauen, wirren Haare fielen so dicht darüber hin, daß sie nichts sehen konnte. Sie seufzte auf und ging weiter. Wie traurig doch alles war!... Sie sah jetzt deutlich den Fluß. Da ging sie über die Felder hinweg, immer schneller, in fast aihemloser Hast, trotzdem ihr die Füße schmerzten und sie mehrere- male über die Furchen stolperte, so daß sie fast gefallen wäre, bis sie an dem Ufer stand. Sie keuchte. Jetzt!— der Rand des Ufers fiel flach ab. Er war mit Gras bedeckt, und an den meisten Stellen reichten dichte Schilfe und hohe Halme über ihn hin. Maxl stand auf dem Kies des Weges, welcher sich oberhalb der Böschung hinzog. Sie sah sich um. Es schien ihr, als käme etwas den Weg hinauf. Sie ging ihm entgegen. Da sah sie, daß es Pferde waren, welche mühsam ein breites, flaches und bis zum Sinken beladenes Schiff stromaufwärts zogen. Sie wartete, bis sie näher kamen und vorbei waren; bis das Knallen der Peitsche, und die eintönigen Laute, mit denen der Schiffer seine Pferde unablässig antrieb, verhallt waren. Es dauerte sehr lange. Sie stand und blickte zum Himmel empor. Er lag da, so weit sie zu sehen ver- mochte, in einem sonnenlosen, feuchtdunstigen, trüben Grau; undurchsichtig und wolkenlos- öde, soweit sie auch blicken mochte. In der letzten Ferne verdämmerten die Dächer der Stadt. Drüben am andern Ufer, jenseits der beiden Felder erhoben sich Hügelmassen, an deren Fuß sich eine Landstraße hinzog. Wie ein kaum erkennbarer Punkt zog dort zuweilen ein Wagen hin. Die Wiesen und Felder lagen vereinsamt. Nirgends ei» Arbeiter. Und außer dem Schiffer, der langsam mit seinen Pferden an ihr vorbeischwankte, rings kein Mensch. Sie schaute wieder den Weg hinauf und hinunter. Aber alles lag stumm und regungslos. Zuweileu kam von Westen ein etwas stärkerer Wind- zug über die Felder und den Fluß und wehte durch ihre Kleider. Sie fröstelte dann, und die Wellen am Userrand plätscherten etwas vernehmlicher. Aber wenn er über die Stoppeln dahin geweht war, lag alles wieder kahl und leer. Jetzt!— Ihr Blick war ganz starr geworden und ihre Lippen bebten, so entsetzlich war ihre Angst. Aber es mußte sein. Ihre Aufregung wurde so groß, daß sie nichts anderes mehr fühlte, keine Schmerzen und keine Müdigkeit mehr. Sie klomm laugsam die Böschung hinab und kauerte sich am Rande nieder. Sie zögerte und zögerte. Wenn jetzt jemand gekom- men wäre, sie hätte sich vor ihm hingeworfen und ihn um ihr Leben gebeten. Zuletzt glaubte sie selbst, es müßte jemand kommen... Sie hörte ganz deutlich das einförmige Rauschen des Wassers. Dicht vor ihr strömten und kreisten die gelben "leinen Wellen. Da plötzlich sprang sie mit einem halbunterdrückten Schrei in die Höhe— der Tod hatte sie angesehen— eben— ganz deutlich-- Und sie griff mit der einen freien Hand in das Gras und zog sich mit aller Kraft in die Höhe. Ein namenloses Entsetzen durchrieselte sie. Sie fühlte es kalt am Rücken hinabgleiten. Was sie eben gesehen hatte— wie furchtbar! So hatte sie sich das Sterben nicht vorgestellt! Und plötzlich raffle sie sich von neuem auf, und stol- perle den Abhang empor. Es war riligsunl lautlos- still, als sie dahinlief, so chnell sie nur vermochte. Zuweilen blieb sie stehen, als önne sie nicht weiter. Aber immer wieder schrak sie zu- ammen und taumelte weiter über den lehmigen, unebenen Weg. Eben noch hatte sie sich nur vor dem Sterben ge- ürchtet. Doch jetzt graute ihr vor dem Tode selbst. Sie fiel nieder und schlug mit dem Gesicht so heftig auf die Steine, daß es blutete Aber sie fühlte nichts; die Angst und das Grauen beraubten sie ihrer Sinne. Ind wieder wurde sie von ihnen emporgerissen. Aber plötz- ich fühlte sie einen schneidenden Schmerz im Herzen; sie