Beiblatt zur Berliner Volks- Tribüne.

1.

Deutschland.

Von J. Stern in Stuttgart .

Einst bist du flein und schwach gewesen, Der Staaten Aschenbrödel blog:

Jetzt zählst du zu den ersten Größen, Jezt bist du mächtig, bist du groß; Der Süden mit dem fernen Norden Zum starken Reich geeinigt ist.

Doch ach! wie bist du flein geworden, Seitdem du groß geworden bist.

Du hast entsagt den Jdealen, Für die du schlugst so manche Schlacht: Der Bürger schwärmt nur noch für Zahlen Und beugt sich knechtisch vor der Macht.

Um Titel buhlt er und um Orden

Und feiert Strieg und Völkerzwist. O Volt, wie bist du klein geworden, Seitdem du groß geworden bist!

Mit Steuern wird sowie mit Zöllen Geschröpft des Volkes dürftig Blut; Von allen, allen Lebensquellen Der Fiskus fordert den Tribut. Der Kultus friegerischer Horden Gleichwie ein Krebs am Wohlstand frißt.

Land, wie bist du klein geworden, Seitdem du groß geworden bist!

Geknebelt ist das Wort, die Presse. Der Spigel wühlt um Sündengeld.

Es blüh'n politische Prozesse,

Wie jener dort in Elberfeld .

Der Haß dringt selbst durch Kirchenpforten;

Dem Juden grollt und flucht der Christ. O Volt, wie bist du klein geworden, Seitdem du groß geworden bist!

D'rum raffe du dich auf, erwache O deutsches Proletariat!

Und kämpfe für die gute Sache

Und streue aus die gute Saat!

Einst wenn die Freiheit allerorten

Ihr glorreich Banner aufgehißt,

Bist du erst wahrhaft groß geworden, Seitdem du groß geworden bist!

[ Nachdruck verboten.]

Der alte So f.

Erzählung.

Bon Johannes Schlaf . I.

Da fällt mir doch der alte Hof wieder einmal ein! Der alte Hof!..

Ich glaube, wer ihn einmal gesehen hatte, dem ging es wie mir: er konnte ihn nie wieder vergessen.

Bei mir hat das nun allerdings noch seinen ganz be­sonderen Grund. Zunächst habe ich, so lange mein Stu­dium in Berlin dauerte, immer nach dem alten Hof hinaus gewohnt und dann... nun! Das werdet Ihr gleich erfahren.

Sonnabend, den 4. Januar 1890.

Bretter aufgestapelt, altes, rostiges Eisen, Lumpen, Ge­rümpel, unbrauchbar gewordene Möbel und dergl.

Nun stellt Euch das alles in diesem grauen, un­aufhörlich rieselnden Regen vor, der alle Linien verschleiert, verwischt und den Rauch von den unzähligen Schorn­steinen in die Hofräume niederdrückt.

Da meine Stube im dritten Stockwerk lag, konnte ich das alles recht schön übersehen.

Auf dem ungepflasterten Theil des Hofraums dicht vor unserem Hause sah ich Kinder in den Pfüßen spielen,

IV. Jahrgang.

Schön war auch wieder das stille, verstohlene Sonnen­licht an freundlichen Herbsttagen.

Dann gab es noch diese Herbsttage mit dem blei­grauen, entseßlich gleichmäßigen, unbarmherzigen Licht, in dem man klar und deutlich jedes Fleckchen und Tüpfelchen sieht, sehen muß...

Diese drückten mich

II.

Um meine Studien bekümmerte ich mich damals nicht, die fich da vom Regen gebildet hatten. Einige steckten obgleich ich es eigentlich recht nöthig hatte. Für mich Stäbe in einen winzigen Grasfleck am Fuße einer riesigen, exiftirte nur der alte Hof mit all den Ideen, die er in schwarzen Brandmauer, meinem vis à vis. Sie waren mir anregte. Er hat damals den allerſtärksten Einfluß alle barfüßig, zerlumpt und furchtbar schmuzig. Ihre auf mich ausgeübt und der stärkste Einfluß hat mich jedes­heiseren Stimmen hallten zwischen den trostlosen Mauern. mal mit Haut und Haar. Ich sah ihnen zu, wie sie spielten und machte mir Das ist auch so einer meiner Fehler. Aber natürlich allerlei Gedanken über alle die Leute, die hinter diesen nur deswegen, weil diese stärksten Einflüsse bei mir so hundert und aber hundert schwarzen Fensterlöchern wohnten. ganz und gar ,, unzweckmäßig" sind. Das wird sich nicht Weit hinten auf einem der Höfe wurde fortwährend mich weiter nicht. Ich komme auch so zu meiner Rech­ändern lassen. Jetzt sicher nicht mehr. Aber es kümmert eine Drehorgel gespielt. nung...

Es war furchtbar.

Mir war wirklich an diesem Tage ganz trostlos zu Muthe. Ich hätte am liebsten meine Wohnung sofort wieder gekündigt.

Aber sie war billig und das kam für mich sehr in

Betracht.

So bin ich denn geblieben.

Ich gewöhnte mich an diesen alten wunderlichen Hof.

Jhr glaubt es vielleicht nicht: aber ich habe ihn nachher oft sogar schön gefunden.

Das richtete sich hauptsächlich nach dem Wetter. Sehr anziehend fand ich ihn z. B. in Mondnächten. Ich kam manchmal erst weit nach Mitternacht nach Hause. Lieber Gott ! Ihr könnt euch ja denken, wie das im Studentenleben geht! Man ist frei und hat wenig Sizefleisch.

-

Also ich studirte den alten Hof.

Eindrücken beschäftigte mich nicht so lebhaft wie dieser Die ganze, große Stadt mit all ihren glänzenden die Großstadt interessant wurde. Noch mehr: dieser alte alte Hof. Ich kann sagen, daß mir erst von hier aus Hof verhalf mir zu einer Lebensanschauung, die den Vor­theil hat, daß ich mit ihr auskomme.

Nun, und das tam so!

Nachdem ich mich an den Eindruck gewöhnt hatte, den der alte Hof äußerlich auf mich machte, interessirte es mich zunächst, die Menschen, die hinter diesen hundert und aberhundert Fensterlöchern hausten, kennen zu lernen.

Ich brachte daher ganze Stunden damit zu, das Leben auf den Höfen und an den Fenstern zu beobachten. Na­türlich, so weit mir das von meinem Stübchen aus mög­lich war. Jch kombinirte und machte meine Schlüsse. Außerdem machte ich mir die Gesprächigkeit meiner Wirthin

Wenn ich mich dann die dunklen, steilen Treppen hin­auftappte nicht an der Geländerseite, denn das Ge- zu Nuze. länder war oft schmutzig machte ich wohl auf dem britten Treppenflur Halt und trat an das Fenster. Ich habe dort oft noch Viertelstunden lang gestanden und weiter nichts gethan, als mir den alten Hof an gesehen.

Ach! Ich habe damals jedes Eckchen des alten Hofes durchlebt. Ihr versteht mich wohl!

Es geht mir noch heute so, wenn ich mich an ihn erinnere, und das ist sehr oft der Fall, denn ich habe den alten Hof lieb gewonnen. Ihr werdet das vielleicht nach her noch begreiflich finden.

Aber ihr könnt euch denken, daß mich das alles nicht zufrieden stellte. Das waren ja alles nur Phantasien, die weiter keinen anderen Nußen für mich hatten, als daß meine Begierde nur noch größer wurde, die Wirklichkeit fennen zu lernen. Gott

ja! Es war vielleicht eine Grille von mir und jeder andere würde bald davon abgekommen sein und seine Zeit nüßlicher verwendet haben. Aber nun müßt ihr be­denken, daß ich damals ein armer Teufel war, der kaum sein liebes, nothdürftiges Auskommen hatte. Ihr könnt euch nicht denken, wie einem das zu schaffen macht.. Da Im Mondlicht dehnte er sich dann groß wie soll war es ja ganz natürlich, daß ich mich immer wieder mit ich sagen? überwältigend groß, viel größer als bei den Leuten beschäftigte in den vielen, vielen schmußigen Tage, dunkel und still, todtenstill, so räthselhaft. Und Hinterhäusern. Es bestand eben zwischen uns eine gewisse überall diese breiten, ruhigen, träumerischen Lichtstreifen Wahlverwandtschaft und Dreiecke an den dunklen, schnurgraden, ungeheuren Flächen der Façaden hin.

-

Unregelmäßig drüberweg zerstreut waren dann noch einige helle, rothe Fenster.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß einige von diesen Fenstern die ganze Nacht durch hell blieben.... Ich weiß nicht, was für eine wunderliche Stimmung immer in diesen Viertelstunden über mich kam. Aber, das kann ich Euch sagen: ich hatte dann einen großen Respekt vor dem alten Hofe

.

Aber ich sollte die Wirklichkeit kennen lernen.

Von dem, was ich euch jetzt erzählen werde, will ich euch sagen, und ihr könnt es mir glauben, daß jede Em­pfindung so empfunden, jedes Wort so gesprochen, jede Situation genau so gewesen ist, wie ich fie euch aus der Erinnerung berichte, denn alles hat sich mir unauslöschlich eingeprägt...

III.

Ich weiß noch: als ich ihn zum ersten Male fah, Es war so ein rechter rauher Herbstabend mit Sturm. wollte er mir gar nicht gefallen. Ich habe damals gradezu In dunklen Nächten, namentlich wenn es regnete, Im Schornstein sang doppelstimmig der Wind. einen Schauder vor ihm empfunden. Das mochte wohl war er mir unerträglich. Diese paar verstreuten Lichtvier hoch, bald tief. Bald klang es wie lautes Aufweinen, Bald daher rühren, daß ich von Hause aus noch zu verwöhnt ecke starrten mich dann durch den rauschenden Regen aus das immer schwächer wird, dann wieder ein wenig zu­der undurchdringlichen Nacht heraus wie blutrothe Augen nimmt und endlich in ein stilles Winseln ausgeht; und so Also: wie ich ihn zum ersten Male sah, habe ich an. Und dann konnte ich mich wie ein kleines Kind vor immer abwechselnd. mich vor ihm erschrocken. dem alten Hofe fürchten. Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich noch von meiner Kindheit her so unver­ünftige Anwandlungen habe

war.

Es war aber auch an diesem Tage Regenwetter. So ein feiner, grauer, unaufhörlich rieselnder Regen.

Wenn ich Euch doch den Eindruck auch nur annähernd so lebhaft machen könnte, wie ich ihn damals empfand!

Aber im Sonnenschein hätter Ihr ihn sehen müssen! Ich meine in der Frühlingssonne!

An einem solchen hellen Frühlingstage bemerkte ich auch gleichsam zum ersten Male die vielen rothen Blumen­stöcke on den meisten von den Fenstern.

Ich habe dieses Geräusch gern. Es läßt sich so hübsch über alles mögliche dabei nachdenken. Ich fühlte mich recht wohl.

Ich steckte mir meine Pfeife an, machte Licht und drückte mich mit einem Buche in die Sophaecke.

Es war Häckels ,, Anthropogenie".

Ich wollte nämlich damals den Menschen verstehen lernen. Ich wollte sehen, wie er sich physisch und geistig entwickelt, was er für einen Zweck hat, was das Ziel dieser Entwickelung ist. Dieser Wunsch bestimmte damals meine Lektüre. Vielleicht hatte mir hier der alte Hof die erste Anregung gegeben.

nete mir sogar sehr sauber das ideale Urbild des ersten Wirbelthieres ab...

Nun! Stellt Euch ein ungeheures Rechteck von Häusern vor, die vier Straßen angehören und einen Hof bilden; Miethskasernen, wie man sie im Norden von Berlin überall findet. Diese Häuser bilden vier lange, Der ganze, große Raum schallte dann von hellen Kin­lange, fahle Fronten. Nur durch Regenrinnen find fie derſtimmen. Ihr könnt euch denken: es gab da eine ge­gegen einander abgegrenzt. Sie sind alle vierstöckig, alle hörige Anzahl... von derselben verräucherten, graublauen Farbe, schmußig, Dann leuchteten bunte und weiße Wäschestücke, die unsagbar schmußig. Eine Unzahl von Fenstern. Eins wie Fahnen aus den weitgeöffneten Fenstern hingen, in Ich las, machte mir zwischendurch Erzerpte und zeich immer dicht neben dem anderen. Hinten, wo sich der Hof der warmen Sonne und die Façaden hatten nicht mehr verjüngt, find sie kleiner und schmal. Unter jedem dieser diese abscheuliche, graublaue, regenverwaschene Farbe. Fenster ist ein breiter, schwarzer Schmutzfleck von der Dann konnte ich auch die Leute beobachten, die in Wäsche, den Scheuerlappen und bunten Lumpen, die zum den offenen Fenstern zum Vorschein kamen. Aber sie zeigten Lüften herausgehängt sind. heitere Mienen und plauderten von einem Fenster zum Denkt Euch nun noch mitten in dieses ungeheure, anderen. große Rechteck ein kleineres eingeschachtelt. Dieses wird An solchen Tagen habe ich auch fröhliches Gelächter gebildet aus kleinen zweistöckigen und einstöckigen Häusern auf dem alten Hofe gehört. mit ganz kleinstädtisch- hohen Ziegeldächern. Der Raum Ja, alles war dann Leben und Farbe; helle, blen= innerhalb ist durch schiefe, vom Wetter graublaue Holz- dende, bunte Farbe.. ftacete in kleine Höfe eingetheilt. In jedem von den

Da höre ich auf einmal eine laute, grobe Stimme. Ich merke, es muß ein Betrunkener sein, denn die Stimme lallt.

Ich nehme die Pfeife aus dem Munde, lege das Buch auf den Tisch und horche. Es muß drüben bei un­serem Flurnachbar sein.

Da!.. Ein dumpfer Schlag!... Jch: in die Höhe und zur Thür

Ich mache sie leise auf und trete auf den halbdunklen Flur, auf dem nur eine kleine Delfunzel in der Zug­luft blakt.

Der alte Hof rührte mich an solchen Tagen.. Höfen hat man noch Platz für ein Gärtchen gefunden. Dann gab es heiße, öde Sommersonntage. Diese Aber es giebt da nur etwas kränkliches Grün, ein paar waren mir fürchterlich. Alles kam mir dann so elend vor. Küchenkräuter, etwas Gras und ein paar kümmerliche, Die Häuser, an denen überall Bewurf abgebröckelt war, Jezt konnte ich jedes Wort deutlich hören, was drü­gelbe Sonnenblumen. Auf diesen kleinen Höfen liegen sahen dann wie aussäßig aus...

ben gesprochen wurde.