Aerliner Soeial-Polittsches Wochenblatt. Das Wahlergebniß.— Fortschritt und Rückgang der Parteien. — Proportionalvertretung.— Die Rechte der abhängigen Wähler. — Das Wahlrecht bedroht.— Prehstimmen über die Kaisererlasse.— Was soll am 1 Mai geschehen?— Die Schweiz und der inter - nationale Arbeiterschutz.— Schutzgesetze in Cngland, Belgien . Gedicht von Robert Seidel.— Novelle von Bruno Wille I.— Wie sich der Gebildete eine Wählerversammlung vorstellt.— Preßkorruption.— Frauenarbeit.— Trusts und Gewerkschaften.— Bradlaugh und der Arbeiter- schntz.— Sibirien . Z« den Stichwahlen. An die Wahlkomitees der sozialdemokratischen Partei. Wir ersuchen, das Resultat der Stichwahlen dem Unterzeichneten telegraphisch mitzutheilen. Dresden -Plauen, den 24. Februar 1890. Für das Zentral Wahlkomitee. A. Bebel. Das Mahlergebniß. Wenn dieses Blatt in die Hände unserer Leser ge- langt, sind bereits die Stichwahlen in vollem Gange— wie in Preußen— oder schon entschieden— wie in Sachsen und anderen Bundesstaaten. In diesem Augenblick noch eine breite Uebersicht aller nothwendig gewordenen Stichwahlen zu geben, hieße Zeit und Raum vergeuden. Wir werden dafür in nächster Nummer alle definitiven Ergebnisse der Reichstagswahlen bringen und beschränken uns heute in der Hauptsache nur auf die Erwähnung der sozialdemokratischen Erfolge. Am 20. Februar, also sofort bei der Hauptwahl, gelangten folgende sozialdemokratische Kandidaten zum Sieg: 1. Singer(Berlin IV), 2. Liebknecht (Berlin VI.), 3- v. Wollmar (Magdeburg ), 4. Frohme(Altona ), 6. Hann(Elberfeld ), 6. Schumacher(Solingen ), 7. v. Wollmar (München IL), 8. Grillenberger«Nürnberg ), 9. Geyer(Leipzig -Land), 10. Schmidt(Miltwcida), 11. Schippe!(Chemnitz ), 12. Auer(Glauchau ), 13. Stolle(Zwickau ), 14. Seifert(Schneeberg ), 15. Förster(Greiz ), 16. Wurm(Gera ), 17. Bebel(Hamburg I.), 18. Dich(Hamburg IL), 19. Metzger(Hamburg III.), 20. Hickel(Mühlhausen ). Wollmar ist demnach zweimal(in Magdeburg und München II.) gewählt. Die Nachricht von der Wahl des Sozialdemokraten Horn-Löbtau gegen Ackermann(kons., Tharandt ), bestätigte sich nicht. Die Hauptwahl vom 20. Februar hat insgesammt folgendes Resultat ergeben: 1887 im kommen in ersten gmö# GM""# Wgmg Konservative...... 51.. Reichspartei....... 16.. Nationallibcralc.... 16.. Freisinnige....... 21.. Zentrum........ 91.. Welsen......... 2.. Polen .......... 14.. Sozialdemokraten.... 20.. Volkspartei....... 2.. Dänen.......... 1.. Elsasser......... 13.. AMisemiten....... i.. 25 24 78 62 22 9 6 59 10 71 33 88 14 92 2 13 6 248 149 . 1 . 15 I 336 61 { Stichwahlen.... I Die Zahl der am 20. Februar abgegebenen sozialdemokratischen Stimmen betrug nach den neuesten Zu- I» sammenstellungen Via Millionen und dieses rapide An- wachsen(von 763 124 Stimmen im Jahre 1887) zeigt sich jetzt auch in Kreisen, die früher der Sozialdemokratie ganz unzugänglich schienen— besonders auch in ultra- montan-ländlichen Bezirken. Ueber das Wachsen der sozialdemokratischen Stimmen in den Stadtkreisen giebt folgende Tabelle der„Frank- furter Zeitung" einen sehr guten Ueberblick: bis 1890; da finden wir Städte, in denen sich die sozia- listischen Stimmen mehr als verdoppelt(Stuttgart von 4496 aus 10 372, Köln von 4952 ans 10 688) oder fast verdoppelt haben(Bremen von 7743 auf 14 843). Von den 36 Stadtkreisen besitzt die Sozialdemokratie jetzt bereits: 1. Berlin IV, 2. Berlin VI, 3. Hamburg I, 4. Hamburg II, 5. Hamburg III, 6. München II, 7. Magde burg , 8. Nürnberg , 9. Chemnitz , 10. Elberfeld -Barmen, 11. Altona . Sie steht zur Stichwahl 1. in Berlin II, 2. in Ber lin III, 3. in Berlin V, 4. in Breslau I, 5. in Breslau II, 6. in München I, 7. in Leipzig , 8. in Köln , 9. in Frankfurt a. M., 10. in Königsberg , 11. in Hannover , 12. in Stuttgart , 13. in Bremen , 14. in Düsseldorf , 15. in Stettin , 16. in Braunschweig , 17. in Halle, 18. in Lübeck . — Davon hat sie früher schon besessen: 1. Breslau I, 2. Breslau II, 3. Frankfurt , 4. Hannover , 5. Braun schweig ; außerdem auch noch Dresden I. Es sind also von den 36 Kreisen nur noch sechs, die nicht schon der Sozialdemokratie gehört haben oder von ihr stark gefährdet waren, nämlich Berlin I , Danzig , Straßburg , Aachen , Krefeld und Dresden II. Wer die Zahlen der Tabelle objektiv beurtheilt, wird wohl zu dem Unheil gelangen, daß in absehbarer Zeit die 36 großen Städte ausschließlich durch sozialdemokratische Abgeordnete vertreten sein werden. Die Niederlage des Kartells. Nach einer dem Abgeordnetenhause mitgetheilten amt- lichen Uebersicht sind am 20. Februar siebe» Millionen Stimmen in Deutschland abgegeben worden. Hiervon sind rund vier und ein halb Millionen gegen das Kartell und nur zwei und ein halb Millionen für das Kartell abgegeben worden. Das Kartell, d. h. die innere Politik des Fürsten Bismarck, ist also mit einer Mehrheit von zwei Millionen Stimmen verurtheilt worden. Die genauen Ziffern stellen sich wie folgt: Es wurden abgegeben 7 031 460 Stimmen. Davon entfielen: auf die Konservativen...... 919646 Stimme» „„ Freikonscrvativcn.... 457 936, ,„ Nationalliberalc».... 1 169 112„ auf das Kartell also....... 2 546 694 Stimmen. Auf das Antikartell dagegen entfielen 4 484 766 Stimmen, nämlich: auf die freisinnige Partei.... 1 147 863 Stimme» „„ Zentrumspartei und die Deutschhannover.... 1 420 438, „ ,, Sozialdemokraten.... 1 341 587„ „, Volkspartei....... 131 438„ „. Polen .......... 245 852 », Elsaß-Lothringer.... 100479„ „„ Wilden.......... 97109 gegen das Kartell........ 4 484 766 Stimme». Im Vergleich mit den Wahlen von 1887 ergiebt sich Folgendes: Die Gesammtzahl der abgegebenen Stimmen ist von 7 487 991 trotz vermehrter Bevölkerungszahl auf 7 031 460, also um 456 351 Stimmen zurückgegangen. Nur folgende Parteien zeigen gegen 1887 ein WachS- lhum der Stimmenzahl: die Freisinnigen...... um 202 561 Stimme» „ Sozialdemokraten.. 567405„ „ Volksparte!....... 22 066 Dazu kommen 7 1 206 wilde Stimmen mehr. Alle übrigen Parteien zeigen einen Rückgang der Stimmen. Derselbe beträgt: bei der Zentrumspartei ...... 206 657 Stimme» „ den Elsässern.......... 147 175„ „„ Konservativen....... 274 858„ „„ Freikonservativcn..... 235259„ „„ Nationalliberalen..... 489 046„ Insgesammt also hat das Kartell nahezu 1 Million (999 163 Stimmen) verloren. Vroportionalvertretnng. Zur Kritik des deutschen ReichswahlrechtcS- pfr Allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht— ein stolzer Name ist es, den das für die Wahlen zum Reichstage geltende Gesetz führt; ob es ihn mit Recht führt, das ist freilich eine andere Frage. Direktes— nun, dieses Attribut können wir ihm noch allenfalls ausstellen, aber allgemeines, gleiches, geheimes?— So viel Worte, so viel Lügen. Wir haben es mehr als ein Mal erlebt, wie gut die Regierung den ihr zur Verfügung stehenden amtlichen Apparat spielen zu lassen versteht, um ihr genehme Kan- didaten bei der Wahl durchzusetzen. Die Beweisausnahme bei Gelegenheit der Wahlprüfungen haben es zur Genüge bewiesen, welche Thätigkeir die Landräthe und Regierungs- Präsidenten, die Amtsvorsteher und Kreisschulinspektoren, die Schulzen und Gemeindevorsteher u. s. w. u. s. w. bei den Wahlen zu entfalten haben, um die Bestimmungen des bestehenden Wahlgesetzes in jeder Hinsicht unwirksam zu machen. Namentlich die ländlichen Bezirke wissen ein Liedchen davon zu singen, was bei ihnen Wahlfreiheit heißt; es ist die Freiheit der Wähler, den ihnen in die Hand gedrückten„vorschriftsmäßigen" Wahlzettel vor den Augen der zur Einwirkung einer„ordnungsgemäßen", „vaterlandsfreundlichen" Wahl bestallten Kontrolleure in Die Urne zu werfen und dann im Bewußtsein der erfüllten Pflicht sich nach Hause zu trollen, getreu der trefflichen Devise des deutschen Staatsbürgers:„Soldat werden, Steuern zahlen, Maul halten." Auch die gegenwärtige Wahl hat massenhafte Vorspiele gehabt, die sich den früheren amtlichen Wahlbeeinflussungen würdig an die Seite stellen können. Hand in Hand mit diesen amtlichen Wahlbeein- flussungen gingen von jeher die Uebergriffe, welche sich die Kapitalisten im Bewußtsein ihrer Stellung als ökonomisch Mächtigere gegenüber den ihrer Willkür Unterstellten er- lauben können. Die Brotherren halten es eben für ihr unveräußerliches Recht, den Arbeitern ihren eigenen Willen aufzuzwingen. Nirgends tritt es deutlicher hervor als bei den Wahlen, wie sehr die politische Abhängigkeit durch
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4 (1.3.1890) 9
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