itiHiit im berliner Volks Tribüne.
M n.
Sonnabend, den 15. März 1890.
iv. Jahrgang.
Machdruck verbaten.I Feil. Von Bruno Wille  . (Schluß.) Inzwischen ist die alle Dichterin aus eine belebte Straße gerathen. Sie fühlt sich unsicher in dem rauschen­den Treiben; das Menschengewühl, die trabenden Pferde und rasielnden Wagen verwirren und beängstigen sie. Das Geläute der Pserdebahnglocken pocht an ihren Kopf, daß sie Kopfschmerzen bekommt. Wie bin ich doch nervös! ich habe mich überarbeitet, zu wenig geschlafen. Wenn nur nichts in meinem Kopfe platzt. Ich muß mich entschieden mehr schonen... Ob ich mit der Pferdebahn fahre? Ach, ich bin zu unbe- Holsen! Der Kutscher wird meinetwegen nicht anhalten. Auch kostet das Geld, und ich muß das Geld zusammen- halten... Und die kleine, sonderbare Gestalt im dunkeln Män- telchen, mit der gelben Feder auf dem schwarzen Hut, hastet weiter durch das Gewühl der Straße... Endlich sieht sie den Buchladen des Verlegers. Wird er das Manuskript auch annehmen? Er war in der letzten Zeit so zurückhaltend. Wird er das Honorar auch gleich zahlen? Die Dichterin tritt in das Haus, steigt die Treppe empor, nach Athem ringend, und klopft zaghast an die Thür des Sprechzimmers. Der Verleger blickt ihr entgegen, als lege er auf ihren Besuch kein Gewicht. Er besindel sich in Gesellschaft zweier Herren. Jener stattliche Herr mit dem langen Bollbarl und den würdevollen Augenbrauen ist ein bedeu- tender Kritiker. Der andere Herr ist jung... trögt Künstlerhaar... vielleicht ein litterarischer Anfänger! Der Verleger setzt die Unterhaltung mit den Herren unbekümmert fort. Doch der große Kritiker hat sich er- hoben und blickt steif auf den Besuch. Der Verleger erinnert sich, daß dem Kritiker Form- losigkeit überaus zuwider ist, und stellt die Herren vor. Auf die Dichterin weist er mit den Worten:Mitarbeiterin an meiner.Volksbibliothek', Verfasserin der, schönen Sün- deriist... Der Titel ist übrigens von mir." Der Kritiker blickt würdevoll. Der junge Mann be- trachtet die alte Frau mit versteckter Belustigung. Ter Verleger wendet sich zur Dichterin:Nun? Bringen Sie Manuskript? Lassen Sie sehen..." Damit nimmt er die Papiere, durchblättert sie und überfliegt die ersten Zeilen. Der junge Mann blickt die Dichterin lauernd an und meint:Die Volksbibliothek ist wohl stark verbreitet... da draußen... nicht?" Ich glaube," antwortet die Dichterin trocken. Der junge Mann flüstert dem Kritiker zu:Unsere Gedichte liest man nicht... dieschöne Sünderin" liest man." Der Kritiker zieht die Augenbrauen in die Höhe. Der Verleger wendet sich zur Dichterin:Die Ueber- schrisl des Artikels taugt nichts.Ein Besuch"? Viel zu trocken! Wovon ist denn die Rede? Doch von der Affäre mit der Gräfin? Sagen wir also lieberIm Boudoir der Gräfin". Das ist gleich spannender." Hiermit ändert er den Titel mir Bleistift.  Gut"!... Haben Sie sonst noch?..." Die Dichterin entgegnet leise und verlegen:Dürfte ich vielleicht das Honorar..." Lassen Sie sich vom Kassirer für fünf Spalten geben... Uebrigeus, früher haben Sie pikanter ge­schrieben... Sie werde» sich doch nicht ausgeschrieben haben?... Was wollen Sie eigentlich in's nächste Ka- pitel bringen?" Die Dichterin blickte ängstlich. Genau weiß ich das noch nicht. Ich dachte... die Kirchhofsszene mit den Leichenräubern! Oder meinen Sie lieber die Orgie der jeunesse doree? Wie Sie wünschen." Wo haben Sie denn die Liste?" Der Verleger gehl an seinen Schrank und sucht zwischen Papieren. Spöttisch lächelnd nähert sich der litterarische Anfänger der Dichterin, welche den Verleger mit unruhigen Blicken beobachtet.Sie wissen noch nicht, wie Sie Ihren Roman fortsetzen sollen?" Ich weiß ja nicht", erwiderte die alte Frau zer- streut,was Herr Ranke wünscht." Der junge Mann wendet sich auf den Absatz um und raunt dem Kritiker hämisch zu:Sie schreibt auf Be- stellung!" Die schwarzen Augen der Dichterin stechen nach dem Spötter. Sie möchte ihm entgegen, daß sie für ihre Tochter, für ihr Kind arbeite; sie möchte es sagen; aber die Worte bleiben in der Kehle stecken. Um das Lachen zu verhalten, kneift der junge Schrift- steller die Lippen zusammen, so daß er ganz roth im Ge- ficht wird. Der Kritiker blickt verächtlich. Der Verleger, welcher diese Szene gar nicht beobachtet hat, schließt seinen Schrank und bemerkt trocken:Wählen wir die Orgie!" Gut...." flüstert die Dichterin mit bebender Stimme...Die Orgie!" Die Dichterin ergreist die Thürklinke.
Draußen muß sie erst ein wenig rasten, um ihren Aerger niederzudrücken und das Zittern vorübergehen zu lassen. Da hört sie drinnen das Gelächter des jungen Mannes und gleich darauf die Stimme des Kritikers: Lachen Sie doch nicht! Es ist eine ernste Angelegenheit, ... diese geistige Prostitution!" Ein Stich geht der alten Frau durch das Herz. An ihrem Halse würgt etwas, daß der Athem stockt. Die Knie zittern. Vor Schwäche muß sie sich auf die Treppen- stufe setzen. Da hört sie Marthas Stimme:Du schreibst ja selbst solche Bücher!" Und dumpf saust es in ihren Ohren und klingt dazwischen wie ein summendes Weinglas, während es vor den Augen roth flimmert, als wimmelten Feuer- spinnen durcheinander Nun erleichtert ein Seufzer die beklommene Brust der Frau. Mühsam erhebt sie sich und schleicht wankend die Treppe hinunter. Sie geht in den Laden der Buchhandlung und wendet sich an den Kassirer mit der Bitte, den vom Verleger be- willigten Vorschuß auszuzahlen. Der Kassirer zählt das Sümmchen auf den Tisch, und scheuen Blickes streift die Dichterin das Geld ein. Dann umfängt sie wieder das Gewühl der Straße. Zaghafter als zuvor blickt die alte Frau. So oft sie quer über die Straße muß, zaudert sie, das Trottoir zu verlassen, um plötzlich, gleich einem gescheuchten Kaninchen, über den Fahrdamm zu eilen, ängstlich nach den Wagen blickend. In ihrer Hast beachtet sie nicht die Schaufenster Plötzlich aber fühlt sie eine Wärme und denkt an ihre Tochter; ihr Auge hat ein Putzgeschäft gestreift. Sie tritt an den Laden, mustert die ausgestellten Damenhüte und überlegt, welche Form dem Mädchen wohl am besten stehen würde. Unter jedem Hütchen sieht sie das hübsche Gesicht. Schließlich entscheidet sie sich: Sie muß selber wählen... selbstverständlich! Der Gedanke an ihr Kind hat die alte Frau be- rührt und erheiicrt. Nun ist sie auch bald daheim! Schon zeigt sich die Brücke. Während sie über die Brücke geht, sucht ihr Auge drüben am Ufer drei hochgelegene Fenster. Dort sitzt das Kind bei der Stickerei oder steht am Ofen oder schäumt die Suppe ab. Es ist doch ein liebes Kind, ein gutes Herz! Es war unrecht, ihr Vorwürfe zu machen; sie ist ja jung und lebenslustig... und hat wirklich wenig vom Leben... das arme Kind! Da ist die Hausthür. Mühsam steigt die alte Frau die Treppe empor. Sie öffnet ihre Stube. Die Tochter ist nicht darin. Vielleicht im Nebenzimmer! Auch da nicht. Wo ist nur das Kind? Sollte es bei Frau Kühl- meicr sein? Freilich... sie plaudern! Sie geht auf den Flur und klopft an Frau Kühl- meiers Thür. Keine Antwort. Sie ergreift die Klinke. Die Thür ist unverschlossen. Aber auch hier ist niemand! Schon will sie wieder gehen; da... horch! im Nebenzimmer lacht das Mädchen. Die alte Frau tritt zur Thür und drückt aus die Klinke... Da sieht sie... ihre Gedanken stehen still, ihr Herz wird gepackt und gepreßt... ein Schwindel... Die Thür wird von innen zugcdrängt und abge­schlossen. Wankend steht die alte Frau, den Blick starr auf die Thür geheftet. Dann knicken die Knie, und nur die Hand, welche die Klinke hält, verhindert, daß die Fran zu Boden stürzt. Nun tappt sie mit den Händen nach der Wand und wankt aus der Wohnung der Nachbarin. Auch die Flur- wand tastet sie entlang bis zu ihrer Thür. In ihrem Zimmer angelangt, sinkt sie auf das Bett. Sie sieht riesige, dunkelrothe Spinnen. Sie möchte dieselben verscheuchen. Fort! O haltet mich! Sie fühlt sich sinken und stürzen; und hinter ihr her durch staubgraue Luft wimmeln die dunkelrothen Riesen- spinnen; nun werden die Spinnen zu mächtigen, roth- braunen Rädern, welche poltern und poltern. Durch das Getöse zischen menschliche Stimmen... wer zischelt da?...Lachen Sie doch nicht; es ist eine ernste Angelegenheit, diese... geistige Prostitution... es ist schlecht, sich an einen Geldsack zu verkaufen... Tochter wie Mutler, Mutter wie Tochter..." So zischeln die Stimmen und rauschen, und ein Geräusch entsteht, wie es das Ohr unter Wasser vernimmt. Auch ist es dunkel wie im tiefsten Wasser. Nun wird es Heller; ein scharfer Lichtblick und gleich- leichzeitig ein Klirren, als sei ein Glas zersprungen. Die alte Frau zuckt zusammen und richtet sich wild auf; sie hat den Hut schief aus dem Kopse, und die gelbe Feder ist geknickt.Was ist los?" murmeln die bläulichen Lippen, und verstört irren die schwarzen Augen umher.
Der Topf auf dem Ofen kocht zischend und dampfend über. Die Dichterin macht eine Bewegung, als wolle sie aufspringen. Plötzlich erstarrt sie; Entsetzen reißt ihre Augen auf, und iil dem halbgeöffneten Munde stockt ein heiserer Schrei. Sie horcht... Eilen nicht Schritte die Treppe hinab? Hält nicht ein Wagen vor der Hausthür? Er will sie entführen; der Graukopf! der Geldsack! Er will sie entführen! Mein Kind!" kreischte sie, springt auf und fährt zur Stube hinaus. Ueber den Flur! Die Treppe hin- unter!Ho o o! Ho 00! Ich bin ein Gespenst!" Plötzlich fällt sie hintenüber und rutscht die letzten Stufen der untersten Treppe hinab. O Gott! O Gott!" ächzt das Weib und richtet sich mühsam aus, ganz außer Athem. Dann geht sie zur Hausthür... schwerfällig... Die Arme hängen schlaff: der Ausdruck des nach vorn gesunkenen Kopfes ist stumpf. Mit gleichgiltigen Augen schaut sie sich nach beiden Seiten der Straße um, macht einige planlose, wankende Schritte und betrachtet blöde einen vorübergehenden Ar- beitsmann. Darauf schlendert sie langsam am Flußufer entlang. Vom grauen Himmel stäubt ein Nebelregen, welcher die kalten Steine mit Glatteis überzieht.
Nach einer Weile ist das Weib in eine Seitenstraße gerathen. Hier strömen Kinder aus einer Schule. Die Knaben lärmen, rennen und gleiten über die schlüpfrigen Steinplatten. Ein Knabe mit frechem Gesicht und borstigem Haar stößt auf das sonderbare, irr blickende Weib mit dem schiefen Hut und der geknickten Feder, schaut ihr in's Ge- ficht und beginnt zu johlen, indem er mit dem Finger auf das Weib zeigt. Gleich darauf ist dieses von Kindern um- ringt, welche schreien, lachen und mit Geberden spotten. Das alte Weib blickt ängstlich. Dann schimpft es und droht mit der Faust. Ein betäubender Lärm antwortet. Man zupft die Alte am Mäntclchen hier und dort. Um die lästigen Knaben zu haschen, wendet sie sich hierhin und dorthin. Doch die Knaben entschlüpfen behende, lachen und setzen ihr Treiben mit doppeltem Eiser fort. Die Leute auf der Straße bleiben stehen und lachen, während aus den Fenstern neugierige Gesichter schauen. Vor seinem Laden steht ein behäbiger Schlächtermeister und schüttelt sich vor Lachen. Plötzlich kommt der alte Fritsche, eilt aus den Kinder- schwärm los und schlägt scheltend die äußerst befindlichen Knaben. Diese blicken sich verdutzt um und reiben sich die Köpfe. Gleichzeitig erhebt sich ein gellendes Geschrei. Das Weib versucht den Kindern zu entfliehen und rennt die Straße entlang. Die Kinderschaar hinter ihr drein, brau- send wie ein gereizter Bienenschwarm. Frau Bräsecke!" ruft der alte Kolporteur mit schwäch- sicher Stimme und läuft athemlos nach. Ein Knabe nimmt seinen Bücherranzen und wirft ihn der alten Frau vor die Füße. Sie stürzt vornüber und schlägt mit dem Kopf auf das Steinpflaster. Sie bleibt liegen. Die Kinder kreischen auf. Der Knabe, welche den Ranzen geworfen, rennt davon. Der alte Kolporteur kommt gelaufen und stößt die Kinder beiseite. Die alte Frau liegt regungslos. Erbleichend kniet Fritsche nieder, faßt mit zitternden Händen die Gestalt unter den Schultern, wendet sie um und richtet den Oberkörper auf. Der Kopf sinkt kraftlos auf die Brust. Nun treten auch andere Erwachsene herzu. Ein Karrenschieber hält an und geht zornig auf die Kinder los.Wer hat das gethan?" Die Kinder ziehen sich scheu zurück; und weisen auf den fliehenden Knaben. Der alte Kolporteur läßt die Gestalt aus das Pflaster nieder und blickt verstört auf die Umstehenden. Dann wieder schaut er schmerzlich der alten Freundin ins Gesicht. Das Gesicht ist todtcnbleich und still. Aus einer Wunde an der Schläfe rinnt Blut. Und diese Wunde hat zwei Lippen... stumm klagende Lippen. Und der alte Mann ahnt, was diese Lippen klagen.
Biographische Mittheilungen«der die jetzt gewählten sozialdemokratischen Abgeordnete«. 1.*) Auer, Jgnaz, Schriftsteller in München  , früher Sattler. Geb. 19. April 1846 zu Dommelstadt bei Passau  , Bayern   skath j. Besuchte die Volksschule in Birn­ bach   a. d. R. und Neunburg   a. I., bereiste in seinem Be- rufe als Sattlergeselle Deuffchland und Oesterreich. Aus
*) Wir entnehmen die Mittheilungen über die früher bereits einmal gewählten Genossen dem Hirth'schen Parlamcntsalmanach.