Beiblatt zur Berliner Volks- Tribüne.

№ 19.

Alte Banknoten.')

Von A. Miljukow.

Aus dem Russischen übersetzt.

( Nachdruck verboten.]

An einem Wintertage ging ich einmal die Garten­straße entlang, an der Reichsbank vorbei. In dem Hof raume derselben wurden gerade alte, ausgeloofte Banknoten verbrannt. Aus einem kleinen, eisernen Ofen schlug eine helle Feuerflamme empor, und abseits standen drei Bank beamte in warme Pelze eingehüllt und sahen zu, wie ein Soldat mit einer langen Eisenstange in dem brennenden Papierhaufen herumwühlte. Auf der Straße, hinter dem Zaune, welcher den Hof umgab, stand eine Menge Neu­gieriger meist aus den niederen Volksschichten- und sah zu, wie die Funken in Garben aus dem kleinen Ofen emporstiegen in eine dichte, schwarze Rauchwolke gehüllt und dann als feiner Ruß von grauer Farbe, auf den Hof und die Straße niederfielen und dort sich Lagerten. Ich hatte nichts zu thun, und so blieb ich stehen, um zu lauschen, was sich wohl das Völkchen erzählte. Nach einigen Minuten kam ein altes Weib heran, in einem fadenscheinigen Mantel, der mit Watte gefüttert war, und mit einem schmußigen Tuche um den Kopf. Was wird da gemacht, Väterchen?" fragte sie einen ausgedienten Soldaten, der offenbar Thorwächter in irgend

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einem Regierungsgebäude war.

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Geld wird verbrannt," antwortete er barsch.

,, Was für Geld? am Ende wohl noch silbernes?" " Metall brennt doch nicht!- Banknoten sind es!" ,, Und wozu verbrennt man fie?"

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Deswegen, weil sie jetzt keinen Werth mehr haben,

an ihre Stelle kommen neue."

„ Ja, ja! das ist ganz hübsch, aber wozu die alten verbrennen? Kann man die ganz und gar nicht mehr

verwenden?"

" S' wird wohl so sein."

Sonnabend, den 10. Mai 1890.

IV. Jahrgang.

Nein, Mütterchen, Du verstehst es doch nicht: die Saläre nehmen ab. Es entsteht ein Proletariat der Mittel­Regierung hat das so verordnet." klasse, das sich bald fühlbar machen wird.

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Nun meinetwegen-die Regierung! Wer Ver- Die zweite Ursache sind die erhöhten Ansprüche an ordnungen veröffentlicht, der hat seinen Gehalt und lebt das Leben. Der junge Mann mit 1500 bis 2500 Dollars davon; und wer seinen Bauch mästen kann, der versteht Einkommen per Jahr wünscht ins Theater zu gehen, Bücher es nicht, wie schwer es für einem Armen fällt, eine Kopeke zu haben, ab und zu eine Reise zu machen Heirathet zu verdienen. Da werden dann auch Banknoten verbrannt, er aber und hat den Aufwand für ein Haus zu bestreiten, nicht nur Rubelscheine o nein! auch blaue und rothe so fällt das alles weg. Also heirathet er nicht Scheine. Ich sage Dir, hundert Armen könnte man davon Die Opfer bei diesem Stand der Dinge sind die zu essen geben. Dazu wird noch so viel Holz verbrannt; Töchter der Mittelklassen, die in erschreckender Zahl ohne mit dem Holz allein könnte sich eine arme Familie in Männer bleiben und nichts mit sich anzufangen wiffen. ihrem Stübchen einheizen. Die Fröfte treiben doch wahr- Die Billigkeit des Lasters und die Kostspieligkeit der Che haftig keinen Spaß mit uns!" ist ein Unglück für diese Mädchen. " Du bist doch aber recht dumm, Mütterchen, die In dieser Hinsicht sind die Mädchen der ar­Bank macht es immer so, und das nennt man bei uns beitenden Klassen viel besser gestellt. Die Arbeiter die alten Noten„ löschen". heirathen ohne Bedenken, auch wenn sie keine Mittel haben, Ein schönes Löschen" das! Du hälst mich wohl auch kann sich eine Arbeiterin eher selbstständig durch­für ganz dumm. Ich bin doch nicht blind, ich sehe doch schlagen, als das durch hundert Rücksichten gebundene ganz gut, wie der Rauch aufsteigt. Löschen! Aber für Mädchen der Mittelklasse. Das letztere muß zufrieden die Regierung mußt Du natürlich eintreten, denn Du steckt sein mit jedem Liebhaber, der kommt, weil sie keine Wahl ia unter einer Decke mit ihnen. Wenn ihr mehr den hat. Daher sind unglückliche Ehen nicht selten und diese lieben Gott fürchtet, dann hättet ihr auch mehr Mitleid schrecken erst recht vor weiteren Heirathen ab. im Herzen. Hast Du die heilige Schrift gehört, welche Daher entsteht eine Armee von alten Jungfern aus die Popen in den Kirchen vorlesen? Christus hat nicht der Mittelklasse, die erschreckend zunimmt. Geheimnißvolle befohlen, das Geld zu verbrennen, sondern hat gesagt, Krankheiten kommen auf, die unzweifelhaft erzwungener daß man es den Armen geben soll. Ehelosigkeit zuzuschreiben sind. Man spricht nicht gern Soldat ärgerlich. Er spuckte energisch auf die Erde und der ehrbarsten, besterzogenen Mädchen Englands keine Aus­,, Ach, Du albernes Frauenzimmer!" brummte der über diese Zustände, aber die Thatsache, daß eine Legion ficht hat, Männer zu bekommen und ebenso keine Möglich­Jawohl, nur Du allein bist klug!" sagte boshaft keit, eine ihren Familienverhältnissen entsprechende Erwerbs­die Alte, indem sie ihm nachsah und dann sich zu uns stellung, welche sie unabhängig machte, ist so ernst, daß mendete.„ Hat sich stets vollgegessen und ist wohl davon sie nicht mehr lange übersehen werden kann. so klug geworden. Man sollte Dir so acht Tage nichts

ging weg.

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zu effen geben, dann würdest Du schon anders reden, Soweit der englische Korrespondent des amerikanischen dann würdest Du schon einsehen, was das heißt, Geld Blattes. Er hat, soweit er die Zerseßung der heutigen verbrennen. Barmherziger Gott! durch unsere Sünden Ehe- und Familienverhältnisse schildert, zweifellos recht, haben wir es verschuldet, daß die Menschen so hart sein tönnen. Wie der Rauch nur aufsteigt! Wer sind wohl die Herren dort in den Pelzen?" fragte sie zuletzt mich. Bankbeamte", sagte ich.

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" Und wozu stecken die ihre Nase hier hinein?" Sie müssen Acht geben, daß alles verbrannt werde." ,, Gott vergebe ihnen ihre Sünden! Man wird sie

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" Ja, für den Reichen haben sie keinen Werth, aber für einen Armen taugen sie vielleicht doch noch. Ein armer Mann würde sich vielleicht unter den Papieren etwas heraussuchen, und sich noch bedanken bei den Menschen und dem lieben Gott. Und so geht das zum Teufel! selbst" in der Hölle aufspießen und braten und mit langen Das ist doch wahrhaftig nur die reine Mißgunst. Gott verzeih' es ihnen! Es ist doch recht, was die Leute sagen: Der Hund liegt auf dem Heu, frißt es selbst nicht, läßt aber auch andere Thiere davon nicht fressen."

,, Ach, was schwaßest Du da, Mütterchen!" sagte der Soldat in strengem Ton.

Warum sollte das Geschwäß sein?"

Eisenstangen über dem Feuer zurechtrücken dafür, daß sie gegen arme Leute so hart waren. Wir alle werden ge­richtet, uns allen wird Gerechtigkeit zutheil, je nach unseren

Werken."

Die Alte bekreuzte sich und ging weiter.

wenn er auch nur die Oberfläche und nicht die letzten und tiefsten Ursachen berührt. Als Bourgeois fehlt natürlich dem Verfasser erst recht jeder Blick dafür, daß die Zer­segung der alten Geschlechtsbeziehungen zugleich den Boden bereitet für eine höhere und freiere Form der Familie.

Sozialistische Spaziergänge.

B. W. Wenn ein Gewässer lange Zeit unthätig steht und keinen frischen Zuzug erhält, so pflegt sich seine Ober­fläche mit einer Fülle von Sumpfgeschöpfen Waffer linsen, Seerosen, Froschlaich, Wasserspinnen, Käfern u. s. w. zu bedecken.

" Ich sage es Dir ja beutlich: die Papiere taugen Ueber die Demoralisation der englischen einem stehenden Gewässer.

nichts mehr, denn sie haben keinen Werth und deßhalb werden sie ausgelooft."

„ Hm! ja... aber wozu werden sie denn verbrannt? Die Noth ist doch jetzt überall so groß; weist Du, wie theuer das Brot ist? Wenn sie menschlich fühlten, und den lieben Gott fürchteten, dann würden sie die Banknoten nicht ins Feuer werfen, sondern sie lieber einem Armen schenken. Der würde schon zusehen und sich etwas her aussuchen."

Bourgeoisie

schreibt der englische Korrespondent des Philadelphier Evening Telegraph", Herr Adolph Smith:

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Das moderne Bürgerthum gleicht in mancher Hinsicht Allerlei Zeichen der Ver­Sumpfung treten an ihm zu Tage. Einige derselben haben wir auf früheren Spaziergängen betrachtet. Der sumpfigfte Theil dieses Gewässers aber heißt Kapitalistenweib. Drum wuchert auf ihm der Krimskrams von Sumpf­geschöpfen in üppigster Fülle.

Wir haben eine große Klasse privilegirter und reicher Leute, welchen viel Zeit und Geld zur Verfügung steht. Wer das Boudoir des Kapitalistenweibes einer Diese Leute sind die Kunden der Häuser, in welchen un- kritischen Betrachtung unterwirft, der wird fürwahr an natürliche Lafter getrieben werden. Dazu kommt noch das einen Sumpf gemahnt, wofern er wenigstens ohne„ noble" zunehmende Laster der Morphiomanie und ähnlicher Ge- Vorurtheile den tausendfachen Toiletten- Tand mustert wohnheiten, die besonders unter den Damen von Stand und sich klar macht, welchem Zwecke eigentlich jeder einzelne „ Aber ich sage Dir doch, daß für die alten Papiere und Vermögen herrschen. Gegenstand dient. Unsinn, Eitelkeit und Kapitalismus neue gemacht werden." Während so übermäßiger Reichthum und Müßig- schalten und walten auf diesem Gebiete und feiern wüste Ach was! die neuen wird man uns doch nicht gang hauptsächlich zur Degradation unserer höheren Orgien, ja einen förmlichen Herenfabbat. schenken. Nicht wahr? Und diese da könnten sie uns Klassen führt, demoralisirt der Kampf ums Dasein Der Physiognomiker( Körperdeuter) Lavater glaubte, schenken, wenn sie nicht wissen, was sie damit anfangen die Mittelklassen und die arbeitenden Massen. aus der Betrachtung eines einzelnen Körpertheiles allerlet

sollen. Wenn sie auch alt sind, was schadet das? Mir Unter Mittelklasse verstehe ich die Leute, welche, ohne Schlüsse auf den ganzen Meuschen ziehen zu dürfen. In hat am Weihnachtstage ein Gauner einen falschen Rubel- irgend Vermögen zu besißen, in kommerziellen oder pro- ähnlicher Weise glaube ich, daß der Toilettenschrank des schein herausgegeben. Von zwei anderen Papieren hat er feffionellen Stellungen von 1500 bis 2500 Dollars( 6000 Rapitalistenweibes ein ganzes Kapitel Sittengeschichte er­die Enden abgerissen und so zusammengeklebt, daß es bis 10 000 Mark) pro Jahr verdienen. Damit leben sie zählen kann. So erzählt er uns, daß dieses Weib in aussah, wie ein Rubel. Eine Nummer war natürlich als Gentlemen, führen ein eigenes Haus und halten sich volkswirthschaftlicher Hinsicht etwas höchst Ueberflüssiges, nicht darauf. Ich gebe ihn einem Kaufmann er nimmt ein oder mehrere Dienstboten. Aber die Kinder aus diesen nämlich Unproduktives ist, daß es wesentlich die Bestim ihn nicht, ich will für ihn ein Huhn auf dem Markte Familien sind übel dran. So lange der Sohn bei den mung hat, der Lust zu dienen( falls es nicht blos das taufen, aber auch so werde ich ihn nicht los. Da tam Eltern wohnt, oder als lediger Mann lebt, kann er mit Anhängsel eines Geldsackes ist) und zugleich das Kapital ich endlich in eine Trödlerbude, in der ein Deutscher saß, seinem Verdienst seinem Stande gemäß existiren. Heirath seines Herrn dadurch zu mehren, daß es Reklame macht, und dieser nahm den Schein, ohne zu merken, daß er aber wäre finanzieller Selbstmord. Er enthält sich vulgo repräsentirt." Er enthält sich vulgo ,, repräsentirt." Das Boudoir ist der getreue Aus­falsch war. Siehst Du wohl!" daher derselben. Diese Abstinenz wird dadurch erleichtert, druck dieses weiblichen Berufes.

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,, Dann hast Du ihn betrogen, denn Du hast ihm daß es tausende von Arbeitsmädchen giebt, die nur zwei Das Kapitalistenweib ist etwas Ueberflüssiges im einen falschen Rubel gegeben. bis drei Dollars( 8-12 Mark) wöchentlich verdienen, Vergleich zur Bürgerin der guten alten Zeit." Damals,

Was sollte ich aber damit anfangen? Verbrennen?! und oft nicht einmal diesen Verdienst haben. Die Söhne als die Produktion für den Hausbedarf wesentlich häus­Ach ja! der Deutsche wird auch nicht so dumm sein. der Mittelklasse, welche eine Frau bei dem üblichen Auf- liche Produktion war, hatte das Eheweib einen wirthschaft­Nimmt's einer nicht, so nimmt's ein anderer, irgendwie wand in diesen Kreisen nicht erhalten können, find aber lichen Zweck, nämlich den, diese Produktion zu leisten oder wird er ihn los! Nicht jeder versteht doch Nummern zu wohl im Stande, einem solchen Mädchen wöchentlich einige wenigstens zu leiten. Aber heute, in dem Zeitalter der lesen, das kostet einem armen Manne viel Mühe. Und Dollars zu geben. Daraus entsteht eine andere Quelle Bäcker-, Butter-, Schlächter, Wurst, Kolonialwaaren-, so ist es auch hier: für das Geld, das da verbrannt wird, gesellschaftlicher Verderbniß. Posamenten- und Kleiderläden, heute, wo es für die wohl­tönnte man manchen vom Hungertode erretten: jetzt ist Es mag eingewendet werden, daß dieser Zustand fituirte Hausfrau nichts zu backen, zu buttern, zu schlachten, doch die Noth so groß, und essen und trinken muß doch immer bestanden hat. Ich behaupte im Gegentheil, daß zu wursten, zu spinnen, zu weben und zu schneidern giebt, jeder. er erst in den leßten Jahren hauptsächlich aufgekommen und wo das Bischen, was von häuslicher Produktion übrig „ Verstehst Du denn das nicht, Mütterchen? sagte der und daß er folgenden Ursachen zuzuschreiben ist. Früher geblieben ist, von Köchinnen, Stubenmädchen, Wäscherinnen, Soldat ärgerlich, denn er wußte auf diese Argumente konnte ein Mann aus der Mittelklasse heirathen, auch wenn Blätterinnen und Schneiderinnen besorgt wird, heute, wo nichts mehr zu antworten. fein Einkommen klein war, weil er Aussicht hatte, daß er die höhere Tochter" j'aime" und" yes", Kunstgeschichte " Was ist hier viel zu verstehen? Wer hungrig ist, selbstständig oder Theilhaber an der Firma werden würde, und Etüden, Mythologie und Komplimentirbuch zu studiren der wird's schon begreifen." für die er arbeitete. Heute nimmt aber die Zahl der hat- heute ist die Hausfrau" in wirthschaftlicher Hin­Firmen beständig ab; das Geschäft konzentrirt sich in immer ficht ziemlich überflüssig, und dies am meisten in der wohl­1) Wir geben diese Stizze wieder, um unseren Lesern zu weniger Händen. Die Zahl der Prinzipale wird geringer, habenden Welt. Kein Wunder, daß das Kapitalistenweib zeigen, wie in Rußland auch die Form der Erzählung und des Dialogs zur oppofitionellen Agitation benügt wird. Den Inhalt die der Angestellten größer. Nicht nur wird die Möglich- feinen Sinn und seine Thätigkeit auf Ueberflüssiges richtet. und die Tendenz haben wir natürlich nicht zu vertreten. D. Red. keit des Aufsteigens für diese vermindert, sondern auch ihre Der Köchin die Ausgaben nachrechnen und das Kinder­

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