Aerliner
Sorial-Poiitisches Wochenblatt.
Gefahren für die Industrie. Gewerbe inspektoren in Oesterreich.   Das Bureau für allgemeine Statistik Frankreichs.   Gegen leichtsinnige Streiks. Die militärischen Auto ritäten. Bestimmungen des Gewerbeschieds gerichts Entwurfes der Regierung.   Agrarier und Volksschule. Ueberall und nirgends. Gedicht von F Dingelstedt. Sozialistischer Spaziergang 1 Zur Lage der kgl. preußischen Eisenbahn Arbeiter I. Ein Berzweiflungsschrei des kleineu Handels-»nd Gewerbestandes II. Jedem der volle Ertrag seiner Arbeit» Die Tienstbotenfrage. Ueber die technischen Um wälzungen in der Landwirthschaft.
Zur Aeachtung! Vom R. Juli ab befindet sich uiisere Redaktion und Expedition am EMtth-Ustt 55, und bitten wir, alle Zuschriften und Bestellungen dorthin zu richten. Der Derlag d. Serlmer Dolks-Tribüne.
Gefahren für dieIndustrie." (Zu den Verhandlungen der Arbeitcrschutz-Kommissiou.) §§ Unsere Bourgeoisie spricht eine eigene Sprache. Und nicht blos die unsrige, sondern die aller Länder, die internationale Bourgeoisie. Wenn der heilige Geist ihres Klasseninteresses auf sie herabsährt, so erlangt sie die Fähigkeil in fremden Zungen ju reden, das heißt in anderen Zungen, als sie von ge- wöhnlichen Sterblichen verstanden werden. Der Geldsack ebenso wie die Liebe sprechen ja eine Weltsprache; aber während diese von allen Menschen und Menschenrassen ohne Unterschied verstanden wird, so jene nur von bestimmten Klassen, und zwar von den kapita­ listischen  . Indessen ist das von den letzteren gesprochene Bolapük ebenio instinktmäßig, um nicht zu sagen angeboren. Der englische, der französische, der deutsche Bourgeois, der sich gestern pathetisch für dieWohlfahrt der Nation" ins Zeug warf, heute predigt er gegen denUmsturz der Gesellschaft", morgen gegen die angedrohteSchädigung der Industrie", und so fort. Als tiesdenkender Philosoph bewegt er sich bei seinen Reden stets in abstrakten Kollek- tivbegriffcn. Aber das Konkrete, was er in Wirklichkeit darunter versteht, ist nicht dasselbe, was gewöhnliche Sterb- liche gemeinhin darunter zu verstehen pflegen, sondern etwas total anderes. Er spricht von der Nation, aber er meint nur einen geringen Bruchthcil der Nation, nämlich die nationale resp. nationalliberale Bourgeoisie. Wenn der englische Bourgeois von der society, der französische von der societe, der deutsche von der Gesellschaft spricht, so meint er damit keiileswegs die ganze, große, bunt- gemischte Gesellschaft, denPlebs" mit eingeschlossen, son­dern nur die oberen Zehntausend, die sogenanntegute" Gesellschaft. Und wenn er die Interessen derIndustrie" vertheidigl, so meint er mit der Industrie in der Thal nicht diejenigen, welche sie ausüben, welche� ihre ganze Lebenskraft für sie in die Schanze schlagen müssen, sondern die großkapitalistische» Industriellen, welche ruhig ihre Hände in den Schooß lege» können, ohne daß der Gang des Räderwerks der Industrie auch nur im Geringsten sich verlangsamen oder gar stocken würde. Und diese Beispiele könnten wir beliebig vermehren. Man sieht, die Bourgeoisie spricht eine absonderliche Sprache. Sie spricht einen Jargon, welchen ihr die In- teressen ihrer Klasse eingeben. Indem sie in geschickter
Weise sich mit der Gesellschaft, mit der Industrie, mit dem Staate und mit hundert anderen Begriffen identifizirt, die alles andere in Wirklichkeit vorstellen, nur nicht die Bourgeoisie, so weiß sie es klüglich dahin zu bringen, daß alles, was angeblich im Namen und Interesse der Gesell schaft 2C. geschieht, allein für sie geschieht. Man sagt, die Heuchelei sei ein Kompliment an die Tugend. Wenn die Bourgeoisie alles ausdrücklich aber nur scheinbar im Interesse der ganzen Gesellschaft thut, so giebt sie damit indirekt zu, daß sie sich durch ihre moralische Ueberzeugung für verpflichtet hält, dasselbe auch wirklich wahrzunehmen. Sie giebt damit ferner zu, daß, diese Verpflichtung zu halten, dem Geist der Zeit, dem Interesse der Gesammtheit entspricht. Hält sie dennoch diese Verpflichtung nicht, weil sie dieselbe nicht halten kann, so gerathen ihre Hand lungen mit ihrer Denkungsweise in den bedenklichsten Widerspruch. Sie beweist damit nur, daß sie aus dem Rahmen ihrer Klasse nicht heraus kann, daher aber auch unmöglich beanspruchen darf, im Namen der ganzen Ge sellschaft zu sprechen. Sie beweist endlich damit, daß sie sich indirekt gezwungen sieht einzugestehen, daß sie Ver pflichtungen nicht erfüllen kann, welche sie andererseits als bestehend anerkennen muß, und daß sie somit die führende Rolle in der Gesellscpaji an eine Klasse abzugeben hat welche im Stande ist, die sür jene unausführbare Aufgabe zu lösen. Dies ist die logische Konsequenz des oben Gesagten Aber wie schon gesagt, die Bourgeoisie kann nicht aus dem ibr gesteckten Rahmen heraus. Sic spielt mit Bewußtsein ihre heuchlerische Rolle, bis sie ausgespielt ist. Bis dahin gehen die Bourgeois wie die römischen Auguren äugen- verdrehend aneinander vorüber, schwörend, daß sie sich selbstlos für das Wohl aller aufopserten, während der krasse Hohn um ihre Mundwinkel zuckt. Bei den Verhandlungen der Arbeiterschutz-Kommission trat soeben ein solches Angurenpaar auf, welches seine Rolle als Priester des heiligen Mehrwerths nach besten Kräften spielte. Es waren dies der kostbare nordrhcinische Jndustriekönig von Neunkirchen  , Freiherr von Stumm  , vulgo König Stumm genannt, und der südrheinische Kom- merzienrath Dr. Klemm, Direktor der Badischen   Anilin- und Sodafabrik zu Ludwigshafen  . Nach den wohl allen noch gut im Gedächtniß hasten- den Antezedentien des Freiherr» von Stumm im Reichs- tage war der Gedanke einer Abordnung desselben in die Arbeiterschutz-Kommission allein schon unbezahlbar. Daß er wirklich Mitglied der Kommission wurde, dafür sind wir der sreikonseroaliven Partei zu aufrichtigem Danke verpflichtet. Denn Freiherr von Stumm ist zwar ein wackerer und streitbarer Priester des Kapitalismus, aber ein ungeschickter Augur. Einen ungeschickteren hätten wir uns in der Thal schwerlich wünschen können. Bei seinem Auftreten hört man das kapiialistische Klasseninteresse immer gar zu deutlich soufflircn, und Offenheit ist uns in solchen Dingen niemals unerwünscht. Bei den Verhandlungen der Arbeiterschutz-Kommission handelte es sich bisher vornehmlich um die gesetzliche Fixirung der allgemeinen Sonntagsruhe. Die Herren Syimm und Genossen hätten gegenüber der Regierungs  - vorläge und der Zusammensetzung der Kommission schwer­lich die Annahme des Paragraphen, welcher die Sonntags- ruhe zum Gesetz erhebt, verhindern können. Bekanntlich wurde denn auch eine wöchentliche dreißigstündige Ruhe- pause beschlossen. Indessen war mit diesem Beschlüsse noch nicht aller Tage Abend. Die Herren Slunim und Klemm wußten zu gut, daß jedwede Beschränkung in der Arbeitszeil eine Beschränkung der bisherigen Ausbeutungsfreiheit, mithin also zunächst auch eine» Kapitalgewinnausfall bedeute, wenn derselbe auch nach und nach aus anderen Gründen wieder weit gemacht werden konnte. Es galt daher, sich auf der einen Seite als im höchsten Grade arbeiterfreundlich zu erweisen, andererseits aber die gesürchteten Folgen der gemachten Konzession durch möglichst weitgehende Ausnahmebestim-
mungen zu paralysiren. Und im Schmieden von UuS- nahmeparagraphen sind die Herren ja Meister. Daß gewisse Ausnahmen heute unumgänglich find, kann ohne weiteres zugegeben werden. Indessen dürfte» dieselben, wenn anders die sogenannte Arbeitsruhe nicht zum Spott werden soll, nicht soweit gehen, daß dieselbe» vollkommen der Willkür der Unternehmer anheimgestellt sind, und daß jede Kontrolle ihrer praktischen Ausführung verunmöglicht wird. Die Regierungsvorlage war in dieser Beziehung gegen- über dem Unternehmerinteresse zartfühlend genug. Dieselbe stellte nämlich die Gewährung der Entbindung von de» gesetzlichen Bestimmungen allein in das Ermessen de» Bundes raths. Hiermit konnten Stumm und Genosse» wahrhaftig zufrieden sein, denn daß sich diese Körperschaft gegen das Unternehmerthum unempfindlich zeigen würde, war auf keinen Fall anzunehmen. Dagegen hatte jeder, der die Sonntagsruhe nicht allein auf dem Papier stehe» sehen wollte, allen Grund, einen solchen Passus mit Miß- trauen zu betrachten. Es wurden daher mehrere Zusatzanträge gestellt. Der Freisinnige Dr. Krause beantragte ein Amendement, durch welches den Konzessionen des Bundesraths gewisse Schranken auferlegt wurden, und die Abgeordneten Schmidt und Bebel ein solches, nach welchem die Einwilligung des Reichstage» zu den Bundesrathsverordnungen, oder doch wenigsten» seine Kenntnißnahme derselben erforderlich sein sollte. Mit diesen Anträgen war dem Belieben des Bunde»- raths zweifellos ein sehr loser Riegel vorgeschoben. Länger aber konnten die Herren Stumm und Klemm den in ihre« Herzen aufgespeicherten Groll gegen die Vorlage wie gege» die Zusatzanträge nicht zurückdämmen, und so brach der- selbe denn mit aller Macht hervor. Denn eine Feststellung der Befugnisse des Bundesraths war ein dicker Strich durch ihre Rechnung; dieselbe konnte alles verderben, und ihre einzige Hoffnung war ja gerade dasErmessen des Bundes- raths." Aus Stumms Philippika gegen die Zusätze konnte man deutlich das schmerzliche Bedauern heraushören, daß er der Regierungsvorlage im Großen und Ganzen keine Opposition habe entgegensetzen können. Ja, er gab da» direkte Zugeständniß, daß seine Freundschaft mit der Vor- läge nur eine erzwungene sei und scheute sich nicht, ihr zuletzt noch einen derben Fußtritt zu versetzen, indem er sagte, daß die Anträge von Schmidt und Bebel nur ge- eignet seien, die ohnehin durch dieses Gesetz beun- ruh igteIndustrie" nur noch mehr zu beunruhigen. Der Herr Kommerzienrath Klemm sekundirte ihm, indem er lamentirend erklärte, daß durch die Anträge ver- schiedcneIndustrien" aufs Schwerste gefährdet werden würden. Die arbeiterfrcundliche Haltung des Zentrums zeigte sich bei der Abstimmung über diesen wichtigen Punkt im hellsten Glänze. In seiner Macht lag es die Anträge der Genannten durchzubringen. Nichtsdestoweniger fielen sie, und es blieb nichts übrig als ein Fetzchen von dem Antrag Bebel, wonach die platonische Kenntnißnahme der Bundesrathsbeschlüsse durch den Reichstag   stattzufinden hat. Durch diesen Erfolg schwoll den Herren Stumm und Klemm der Kamm, so daß der letztere bei einer späteren Gelegenheit sogar soweit ging, einen Antrag zu stellen, durch welchen den Unternehmern das Recht eingeräumt wurde, in bestimmten Fällen eigenmächtig die gesetzliche» Bestimmungen hinlenanzusetzen, hinterher jedoch die Genehmigung einzuholen! Risurn leneatis, arnici! Unterdrückt das Hohnge­lächter, mit welchem ihr solche Arbeiterfreundlichkeit beant- warten müßtet, denn der Handelsminister v. Berlepsch �and diesen Antrag sympathisch. Zum Glück wurde derselbe abgelehnt. Aber wer die Berathungen der Kommission mit aufmerksamen Blick ver- folgte, hat den unverwischbaren Eindruck, daß der sich bei jenen abspielende Kampf um Konzessionen und Kon- zessiönchen ein gelinde gesagt wenig anziehender sei.