Berliner Social- Politisches Wochenblatt. Die Militärvorlage.— Das allgemeine Wahlrecht.— Zu den Rufs enverhaftungen in Paris. — Die Sozialdemokratie und die geistigen Arbeiter.— Die Erklärung des Streikens für freiwilligen Müßiggang. — Pernichtende Ur- theile über die Schutzzollpolitik.— Die Kauf- leute und die gesetzliche Sonntagsruhe.— Webcrelend. Sozialistischer Spaziergang IT.— Die Literatur als Waare.— Sozialistische Philo sophie. — Zur Lage der kgl. preußischen Eisen- bahn-Arbeiter II.— Die heutigen Streiks und die Organisation. Die VoKabonnenten unseres Dlattes erinnern wir daran, ohne Säumen und vor Monatsschluß ihr gpf Abonnement zn erneuern,"�5%% das sonst von der Post als erloschen betrachtet wird. Post-Zeitnngskatalog für 1890 Nr. 893. Preis pro Vierteljahr Mk. 1,30(bei Selbstabholung am Postschalter.) Durch Briefträger fr. inö Haus Mark 1,65 pro Bicrtclj. Erst nach dem Monatsschluß eingegangene Bestellungen sind mit unnützen Kosten und Arbeits- und Zeltvcrgeudungcn verbunden _ ganz abgesehen davon, daß eine Nachlieferung der bereits er- schienenen Nummern Vsi gar nicht mehr erfolgen kann. Die Militärvorlage. Die Militärvorlage der Regierung ist am Montag T.'bcnd in der Kommission des Reichstages mit 16 gegen 12 Stimmen angenommen worden. Dagegen stimmten Freisinn, Volkspartei und Sozialdemokraten(Liebknecht, Meister, Schippel), sowie ein Theil des Zentrums. Die letzterwähnte Thatsachc ist um so auffälliger, als der Abg. Windlhorst wochenlang alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um seiner Partei nach außen hin den Schein der Einmüthigkeit zu wahren. Männer wie der Militär- «nthusiast Frhr. v. Huene auf der einen und Dr. Orlerer und Dr. Lieber auf der anderen Seite sind schwer zu- sammenzuschirren. Stand für jenen die Rothwendigkeit der Heeresverstärkung von vornherein und ohne Vorbehalt fest, so wollten diese ihre Bedenken nur dann fallen laffen, wenn mit der steigenden Belastung der Bevölkerung durch die vermehrte Heranziehung zum Kriegsdienst Zug um Zug «mc Entlastung durch kürzere Dienstzeil einträte, und wenn das ungeheure Machtmittel, das in der Armee der Regierung zu beliebigem Gebrauche anvertraut ist, einer stärkeren Einflußnahme der Volsvertretung unterworfen würde, indem an Stelle der siebenjährigen Festlegung der Friedenspräsenz die regelmäßige einjährige Bewilligung eingeführt werden solle. Beide Forderungen scheinen uns unter den herrichen- den Verhältnissen recht harmloser Art zu fem. Die zweijährige Dienstzeit bedeutet bei gleicher Friedens- stärke des Heeres durchaus nicht eine Ermäßigung der Ge- sammtlast, die auf der deutschen Bevölkerung— in den persönlichen Opfern des Dienstes und der finanziellen der Armeekosten— ruht. Sie führt vielmehr zu weiter nichts, als daß mehr Rekruten jährlich eingestellt werden, die dann allerdings eine kürzere Zeit der fürsorglichen Obhut des Unteroffiziers unterliegen. Um die bisherige Friedens- präsenz von 468000 Mann zu erhalten, werden jetzt— wo drei Jahrgänge in den Kasernen sich anhäufen— jährlich etwa 170000 Rekruten eingestellt. Wenn die Militärverwaltung nur zwei Jahrgänge zur Verfügung hätte, so würde sie, um immer 468 000 Mann in den preußischen„Volksbildungsanstalten" zu halten, jährlich etwa 240 000 Männer aus dem bürgerlichen Beruf heraus- reißen müssen. Wir getrauen uns nicht zu sagen, was schlimmer wäre hinsichtlich ver persönlichen Belastung und Belästigung des Volkes;»ie Finanzen des Reiches würden jedenfalls dadurch keine Verbesserung, sondern eher eine Verschlechterung erfahren. Den Werth der Bewilligung auf nur ein Jahr, d.h. also der Abschaffung des Scpteiinats, wollen wir durchaus nicht herabsetzen. Aber es gehört ein gut Stück parla- mentarischer und politischer Ideologie dazu, das konstitu- tionelle Recht, alljährlich über etwas reden zu dürfen, zu verwechseln mit der thatsächlichen Macht, jährlich etwas in Wirklichkeit ändern zu können. So wenig wie der Militarismus der kontinentalen Staaten in einzelnen über- mächtigen Individuen seinen Ursprung nahm, so wenig verdankt er seine heutige, alles überschattende und über- wuchernde Größe künstlichen Majoritäten, mit denen er beliebig verschwinden könnte. Nicht zufällige Majoriläten haben ihn geschaffen, sondern er hat Majoritäten zer- trümmcrt und neu erstehen lassen, und so wird er auch in Zukunft mit der unwiderstehlichen Kraft eines Verhäng- nisses wirken und trotz einjähriger Bewilligungen derselbe bleiben, bis auch er wie alles Irdische mir seiner äußeren Entfaltung einer inneren Umbildung und schließlichen Zer- setzung anheimfällt.— Die einjährige Bewilligung bedeutet für uns also vorläufig nur: mehr hohles parlamentarisches Geschwätz und leeres Prolestircn und— mehr Schacher- geschäsle für die Leute, welche die Fähigkeit haben, sich jedesmal im Brillantfeuer parlamentarischer Unentbehrlich- keil erscheinen und entsprechend abfinden zu lassen. Doch das nebenbei. Jedenfalls stehen sich die bürgerlichen Militärenthusi- asten mit ihrem Bewilligungseifer und die Militärreformer mit ihrer zweijährigen Dienstzeit und einjährigen Bcwilli- gung als schier unversöhnliche Gegner gegenüber— und wenn sie in einer Partei, wie im Zentrum, aneinander- stoßen, so bedarf es jedenfalls einer großen diplomatischen Kunst, sie nicht gegen einander sondern miteinander arbeiten zu lassen. Der Abg. Windlhorst versuchte dies dadurch zu er- reichen, daß er zwar die Bewilligung der neuen Verstärkung nicht grundsätzlich ablehnte, aber ihr eine Resolution mit auf den Weg gab, welche die„Erwartung" aussprach: die Regierung werde von den im Reichslage und in der Kommission angedeuteten weiteren großen Zukunftsplänen absehen, einjährige Bewilligungsfristen einführen, und nach einem Uebergangsstadium zur zweijährigen Dienstzeit über- gehen.') Die Militärenthusiasten konnte» sich— so rechnete Herr Windlhorst— für die, an sich ja ganz unoerbind- ') Die Windthorstsche Resolution beantragt: 1.„Die Erwartung auszusprechen, daß die verbündeten Re- gierungcn Abstand nehmen werden von der Verfolgung von Plänen, durch welche die Heranziehung aller wehrfähigen Mann- schaften zum aktiven Dienst durchgeführt werden soll, indem da- durch dem Deutschen Reiche geradezu unerschwingliche Kosten er- wachsen müßten." 2.„Die Erwartung auszusprechen, daß die verbündeten Re- gicrungen in eine etwaige weitere Vorlage behufs Abänderung des Gesetze-« über die Fried enspräsenzstärke des Heeres unter Auf- Hebung der Fristbestimmung des Septennats das Elatsjahr als Bewilligungsfrist aufnehmen werden, während der Reichstag es sich vorbehält, auch bei sonstiger sich ergebender geeigneter Gelegen- heit die Durchführung dieser Acndemng der Frist zur Geltung zu bringen." 3. Die verbündeten Regierungen zu ersuchen, eine baldige Herabminderung der thatsächlichen Präsenzzeit bei der aktiven Armee, sei es durch die thatsächliche Verlängerung der Re- krutenvakanz, sei es durch Vermehrung der Dispositionsbeurlaubungen eintreten zu lassen." 4.„Die verbündeten Regierungen zu ersuchen, die Ein- führung der gesetzlichen zweijährigen Dienstzeit für die Fußtruppen in ernstliche Erwägung zu ziehen.' lichen Resolutionen aussprechen und die Widerstrebende» wiederum für die Regierungsforderungen, weil ja— s« stand es auf dem Papier — alsdann in Zukunft die er- wähnten Kompensationen„zu erwarten" waren. Die Windthorst'sche Berechnung glückte nur zum Theil, es haben die Zentrumsmitglieder Orterer und Wildegger aus Bayern , Gröber aus Würtcmberg und Dr. Lieber au« Nassau gegen die Borlage trotz der begleitenden Reso- lutionen gestimmt, d. h. also 4 von 10 ultramontane» Kommissionsmitgliedern. Am Dienstag werden wahrscheinlich die Plenarver- Handlungen über die Vorlage wieder beginnen und es wird sich dann zeigen, ob die Opposition der erwähnten Herreu von Einfluß und Dauer ist. Beides ist uns höchst un- wahrscheinlich und so wird die Regierung die 18 000 Soldaten für ihre Machtvermchrung und die Resolutionen für— den Papierkorb haben. Das allgemeine Mahlrecht. X Seit Wochen notirt die oppositionelle bürgerliche wie Arbeiterpresse sorgsam alle die Wuthausbrüche, der über das Resultat des 20. Februar entrüsteten Kartell- blätter gegen das allgemeine Wahlrecht. Und dies La- mcnto ist vom Standpunkt der bürgerlichen Parteien sicher berechtigt. Die Augcnblickspolitik des Fürsten Bismarck, der unsere Bourgeoisie als der höchsten und genialsten Leistung das Jahrhundert so lange zugejubelt hatte, fängt jetzt allmählich an, ihre unheimliche Seite hervorzukehren. Die reaktionären Kreise merken, daß der„eiserne" Kanzler die Kuren in der Methode des Doktor Eisenbart zu sehr geliebt. Die„Realpolitik" entpuppt sich jetzt in ihrer ganzen Unrcellität, als das nervöse um alle tiefere Zu- kunftsorge unbekümmerte Haschen nach dem Erfolg de« Tages. Bismarck hatte nach echter Diplomatenart kein Ohr für die leisen, tief im Schooße der Gesellschaft wirkenden Kräfte. Seine Reden gegen die Sozialdemokratie, neben denen die Ausführungen eines Schulze-Delitzsch noch immer als glänzende Geistesprodukee erscheinen, bieten den un- widerleglichsten Beweis für seinen Mangel an historischei» Sinn. Und nur diese gänzliche Berständnißlosigkeit des „großen Staatsmannes" erklärt es, daß er, der begeisterte Vcrtheidigor von Krone und Kapital, zum Schöpfer des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes wurde. Die bürgerliche Opposition, die unter der Herrschaft des preußischen Dreiklassenwahlsvstems sich gegen das Regiment Bismarcks erhoben hatte, diese Opposition, deren behäbigen zahmen Hausthiercharakter jede entschlossene Regierung verlachen konnte, erregte den„gegen Druckerschwärze gefeiten" Staatsmann derart, daß er, um sie z» brechen, sich an die dunklen, mit dem hohlwangigen Elend ringenden Massen des Volkes wandte. Da war Cäsar ein besserer Menschenkenner: Laßt wohlbeleibte Männer um mich sein, Mit glatten Köpfen und die Nachts gut schlafen. Der Cassius dort hat einen hohlen Blick, Er denkt zu viel, die Leute sind gefährlich. Doch was brauchte sich Bismarck um solche Dinge zu bekümmern! Er schätzte den Proletarier nach dem Maßstab seines pommcrschen Bauern ab, er kannte nur die äußere Knechtsgestalt, nicht den inneren Freiheitsdrang der Armuth. Er glaubte, Volksschule, Tagelöhnerschaft und dreijährige Dienstzeit wären genug der Dressur, um jeden Tropfen revolutionären Giftes aus diesen hungrigen Leibern zu vertreiben. Und nun? Wie stimmt die Rechnung? Da« Gejammer der Bismärcker über das von ihrem Meister eingeführte allgemeine Wahlrecht zeigt am besten, wohin die Genialität des großen Staatsmannes geführt hat. Nicht
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4 (21.6.1890) 25
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