Damit wäre die eine Organisationsschwierigkeit der Vereine mit zerstreut wohnenden Mitgliedern gehoben. Es bleibt eine andere, größere Schwierigkeit. Wird ein solcher Verein, der seine Mitglieder über viele Orte, über ganz Deutschland , erstreckt, sehr groß. und besitzen die Mitglieder wenig Geldmittel, sind sie mit geringer Ausnahme arm, so ist es nicht möglich, daß alle Mitglieder zu den Vereinsversammlungen, selbst wenn diese nur alle Jahre einmal stattfinden, erscheinen. Die Kosten werden dazu zu groß für die einzelnen Mitglieder. fix Wo dieser Umstand nicht mitspielt, wo unter den Mitgliedern überall eine größere Anzahl von Personen vorhanden ist, die eine Ausgabe von 100 und mehr Mark ohne Beschwerde leisten können, und wo diese Per- sonen zugleich das volle Vertrauen der übrigen Vereins- Mitglieder an ihrem Wohnorte besitzen, wo also eine Wahl nicht erforderlich erscheint, um die Gesammtheit der Mitglieder eines Ortes zu vertreten, da macht sich die Sache ziemlich einfach. Man beruft die Vereinssamm- lung als Wanderversammlung nach einem beliebigen Orte. Vou den Mitgliedern erscheint wer kann und will; es ist höchstens eine ganz private Verständigung darüber an einzelnen Orten nöthig.„Wirst Du reisen?"„Du auch?"„Es wäre gut, wenn der und der noch mit- käme!" In solcher Form ist die Sache erledigt. Wirklich hat so der ehemalige sehr große„Ratio- Halver ein" seine Mitgliederversammlungen abgehalten, freilich wurden diesem Vereine auch von Preußen aus keine Hindernisse bereitet. Der Verein„Deutsche Volkspartei" hält noch heut seine Generalversammlungen in dieser Form ab. Es findet weder Abordnung noch Wahl statt. Stimmberechtigt ist jedes erscheinende Mitglied. Damit aber die Lokalansicht eines Ortes nicht zu sehr vorwiegen kann, ist im Statute bestimmt: üfc „Wird seitens eines Mitgliedes vor einer Abstim- mung die Zahl der stimmberechtigten aus einem Orte anwesenden Parteimitglieder als im Verhältniß zu den übrigen anwesenden stimmberechtigten Mitgliedern zu hoch beanstandet, so haben sich dieselben über die Stimmführung in der Weise zu verständigen, daß auf je 10 Mitglieder des betreffenden Ortes, für welche Mitgliederbeitrag bezahlt ist, eine Stimme entfällt." Damit ist für die Kreise, aus welchen der„Deutsche Volksverein" seine Mitglieder zieht, die Sache gut und zweckmäßig geregelt. Diese Form ist aber für unsere Kreise unbrauchbar und undurchsührbar. Wollen die Mitglieder eines Ortes, die einer ähn- lichen von uns zu gründenden politischen Organisation angehören, auf der Mitgliederversammlung vertreten sein, so müssen sie gemeinsam die Kosten der Vertretung auf- bringen und in Folge dessen die Vertretung wühlen. Das erstere, das Aufbringen der Kosten, ließe sich allenfalls noch so bewirken, daß dazu eine besondere Steuer der einzelnen Mitglieder a« den Hauptverein bezahlt wird, die Bezeichnung der Mitglieder aber, welche nun zur Versammlung als Vertreter reisen sollen, wird bei einigermaßen bedeutenderer Zahl der Mitglieder an einem Orte nicht möglich sein, ohne„gemeinsam an die Oeffentlichkeit hervorzutreten," man wird eben eine Versammlung der Vereinsmitglieder berufen müssen. Das genügt, um für den betreffenden Ort eine eigene Vereinsthätigkeit festzustellen, und damit ist die Sache aus, nun schnappt die Falle des§ 8 zu. Wir machen hierbei nochmals daraus aufmersam, daß zur Feststellung der Thatsache des Bestehens eines Vereines durchaus weder Statuten noch förmlich gewählter Vorstand erforderlich ist, daß es nur darauf ankommt, daß Personen sich zur Erreichung eines Zweckes unter einer Leitung, die hier in der Person des Einberufers »der Leiters der Versammlung gefunden werden dürfte, Kr längere Dauer vereinigt haben. Diese Vereinigung würde in der Zahlung dauernder Beiträge ohne Zweifel zefunden werden. tier liegt, unseres Erachtens, für uns eine nicht erwältigende Schierigkeit. Die Bildung eines Vereins zu politischem Zwecke, der sich über mehrere Orte erstreckt, erscheint uns für unsere Verhältnisse un- möglich. Man möge es versuchen, die Erfahrungen werden sprechen. Unserer Meinung nach geht es nicht anders, als in der Weise, in welcher eine andere große Partei der Oppo- fstion auch organistrt ist. Man bildet Vereine an den einzelnen Orten zur Austlärung, und gründet eine thätige, möglichst zu fördernde Presse. Die Vereine haben als politische Vereine keine andere Verbindung mit einander als durch die Presse. Der Parteitag wird beschickt durch Vertreter, die in öffentlichen Versammlungen ohne Kontrolle der Be- theiligung gewählt werden. Der Parteitag wählt einen„weiteren Ausschuß", der aus seiner Mitte wieder den engeren Ausschuß, die eigentliche Geschäft sleituug einsetzt. Der Ausschuß wäre dann nach der leitenden Rechts- anslegung ein Verein, die Geschäftsleitung aber nur eine Kommission des Vereines, mit dem sie an demselben Orte ihren Sitz hat. Die Funktionen beider Körperschaften können durch den Parteitag beliebig ge- regelt werden. An den einzelnen Orten werden in öffentlichen Versammlungen für die geschäftliche Leitung am Orte Kommissionen gewählt, die in ihren Versammlungen nicht nöthig haben, politische Gegenstände zu erörtern.
Sie sorgen für Einrichtung von Geldsammlungen u. s. w. Zur Herausgabe und Verbreitung der politischen Blätter bilden sich besondere Kommissionen, die, wenn sie auf den Inhalt der Blätter Einfluß üben, denselben also in ihrem Kreise erörtern, nicht mit anderen Vereinen oder Kommissionen ähnlichen Zweckes in Verbindung treten dürfen, dies aber, wenn sie nur die Verwaltung und Verbreitung besorgen, ohne Befürchtung thun dürfen. Wir sehen keinen anderen brauchbaren Weg, in Preußen für Arbeiterkreise cine zweckentsprechende Orga- nisation zu schaffen. Selbst diese wird einer Anfechtung ausgesetzt sein. Man wird von Seiten der Polizei und der Staatsanwaltschaft fortwährend versuchen, die öffent- lichen Versammlungen in Beziehung zu den etwa am Orte bestehenden politischen Vereinen zu bringen und es wird viel Achtsamkeit und Ueberlegung dazu gehören, dies zu verhindern. Der Kampf gegen uns ist bis heut hauptsächlich ein Kampf gegen die Organisation gewesen. Der Kampf gegen unsere Lehren und Meinungen ist diesem Kampfe gegenüber weit zurückgetreten. Es wird auch ferner so bleiben, es wird ferner der Kampf gegen die Organi- sationen noch viel mehr in den Vordergrund treten, da das Sozialistengesetz, welches die Polizei gegen Meinungen ausbot, sich besonders in dieser Richtung als gänzlich machtlos gezeigt hat und vom gemeinen Recht nicht gut übertroffen werden kann. Der fortwährende große und kleine, versteckte und offene Krieg gegen unsere Organi- sationen, gegen die Form, in der wir unsere Zusammen- geHörigkeit bethätigen, hat aber auch die Gesetzeskenntniß in unseren Kreisen verbreitet, so daß wir wohl annehmen können, in der Mehrzahl aller Orte seien schon heute genug befähigte Personen zu finden, um die für uns nothwendige, etwas künstliche und zusammengesetzte Orga- nisation durchführen zu können. Es wird ja manche Opfer wieder kosten, mancher, der nicht hören will, wird fühlen müssen, aber zuletzt wird es doch gelingen, eine politische Organisation unserer Partei herzustellen, wie es uns mit einzelnen gewerkschaftlichen Organisationen gelungen ist, die dem preußischen Vereinsgesetze gegenüber unangreifbar sind. Gustav Keßler. Deutsche Warte. J. T. Jüngst schlief ich. Das thue ich nun a.ler- dings fast in jeder Nacht und manchmal auch am Tage, es wäre also garnicht nöthig, daß ich mit dieser höchst gleichgiltigen Erklärung die Spalten dieser Zeitung fülle. Und doch geschah mit mir etwas Besonderes. War es infolge der Lektüre der„Rationalzeitung", ich weiß es nicht, jedenfalls träumte ich. Und im Traume wurde ich in ein Gemach versetzt, deffen Eleganz das gefüllte Portemvr naic des Besitzers, ebenso bewies wie die Weinflasche auf dem Tisch zeigte, daß der Inhaber dieser Wohnung den Bestrebungen des Antialkoholismus nicht sehr zugänglich war. An dem Tisch standen zwei Herren, die eine eifrige Unterhaltung führten, bei der allerdings der eine mehr durch Schweigen glänzte. Der andere aber, ein kurzer, dicker Herr, trug die Koste« der Unterhaltung in geradezu glänzender Weise. Seine Bartkottelettes wackelten, die kleinen Aeuglein blinzelten vor Vergnügen, als er im Tone eines ganz gewiegten Kaufmannes seine Lehren dem jüngeren Freund zum Besten gab. „Sie wollen ihr Kapital anlegen, junger Freund. und ich soll Ihnen Rathschläge geben. Gut, Kohlen- Aktien sind nicht besonders.— Brauereien sind sehr schwer zu erlangen.— Ich würde Ihnen zu etwas anderem rathen." Der jüngere erblickte gespannt auf. „Sie wollen Geld machen, viel Geld, das ist be- greiflich. Also gründen Sic eine Zeitung." „Eine Zeitung?" Ja, aber eine ganz besondere. Das ist bei dem großen Lesebedürfniß unserer Zeit noch ein ganz lukratives Geschäft. Die Abonnenten, die Annoncen— das Nebeneinkommen k. Wenn Sie die Sache richtig anfangen, können Sie sich in wenigen Jahren ein ganz hübsches Vermögen erwerben. ,,Ja, ich habe ja gar keine politische Ueberzeugung," erwiderte zögernd der Angeredete. „Da ist ja der erste Schritt zum Erfolg. — Politische Ueberzeugung, Ueberzeugungstreue— Pah! Alter Schwindel! Sie wollen Geld verdienen, schnell— also wozu mit einem so undankbaren Artikel handeln? Die Zeitung, die Sie gründen wollen, darf überhaupt keine politische Farbe haben. Sehen Sie, wenn Sie einer bestimmten Partei dienen, so haben Sie nur auf einen bestimmten Leserkreis zu rechnen. Und außerdem haben Sic alle Anhänger der andern Parteien zu Gegnern. Ihr Leserkreis verringert sich also und das bringt doch nichts ein. Und dann politische Ueberzeugung! Das bringt nur Unannehmlichkeiten, Aufregung. Wer kann immer im voraus wissen, welche Partei vou oben her begünstigt wird und weiß man das nicht, dann macht man Fehler über Fehler. Nein, das geht durchaus nicht." „Also eine unpolitische Zeitung?" „Fehlgeschossen. Sie müssen in vornehmer Weise alles Parteiwesen verachten, sich über die Parteien stellen. Dann können Sie zu gleicher Zeit konservativ und sozialdemokratisch, antisemitisch und freisinnig sein. Dann loben Sie heute die berechtigten Bestrebungen der Arbeiter und morgen die Polizei, die uns Schutz giebt
vor den revolutionären Umsturzbestrebungen. Heute bringen Sie einen großen Artikel über Stöcker und morgen preisen Sie die Verdienste von Virchow. Heute loben Sie die Zivilisation Frankreichs , morgen liebäugeln Sie mit Rußland . Jede Partei hat ihr Gutes und Sie loben alle. Dann kann Sie niemand angreifen und jeder wird Ihre Objektivität in den.Himmel heben. Wozu brauchen Sie Parteimenschen? Sie brauchen doch Leser, Abonnenten, Annonzen. Wozu die Leute vor den Kopf stoßen, ihnen unangenehme Wahrheiten sagen? Wollen Sie unsere Zustände bessern? Lächerlich. Das bringt doch nichts ein. Und darauf kommt's doch an. Aber Sie müssen es klug anfangen." „Ich verstehe.— wir schreiben: wir wollen aus politische Kannegießereien und leeres Partei- gezänk verzichten, wir wollen unser deutsches Volk vor den entsittlichenden Trieben des Bürgerzwistes bewahren." „Sehr richtig, sehr gut. Moral und Sittlichkeit sind sehr hübsche Worte, die sich gut verwenden lassen. — Vor allem ein großer Titel, patriotisch, der zieht bei der großen Menge, besonders bei unserem gebildeten, zahlenden Bürgerthum noch immer. Wie heißt doch der Spruch?„Man muß auf höherer Warte stehen, als auf der Zinne der Partei." Sehr gut, Warte ist sehr gut. Also nennen wir die Zeitung„Deutsche Warte", nicht wahr, das klingt.— Und dann ein Wahlspruch, natürlich lateinisch. Wir gehören doch zum gebildeten Bürgerthum, wir müssen doch zeigen, daß wir die Tertia besucht haben. Und die Leser freuen sich immer, wenn man ihnen zumuthet, daß sie lateinisch verstehen. Die Konser - vativen wollen die Autorität, die Demokraten Freiheit. Gut, wir kämpfen für beides. Also unser Wahlspruch heißt: Imperium et libertas.*) „Aber diese Forderungen schließen sich doch gegen- seitig aus." „Das ist ja eben das Schöne. Da bekommen wir konservative und liberale Abonnenten. Von beiden Seiten diejenigen, die keine feste politische Ueberzeugung haben. Und das sind die Meisten." „Wie nehmen wir denn aber zu einer bestimmten Frage Stellung, z. B.. wie behandeln wir die soziale Frage?" „Ganz einfach. Wir sagen: JndidualismuS und Sozialismus ,treiten jetzt miteinander. Das ist falsch. Diese beiden scheiirbar gegenüber- stehenden, aber sich ergänzenden sozialen Kräfte im wirthschaftlichen Leben zu har- monischeni Zusammenwirken vereinigen — das gilt uns als Ziel." „Aber das ist ja unmöglich." „Schadet nichts, wir schreiben, dies ist eine Aufgabe, des Schweißes der Edlen werth. Dann ist der Artikel geschrieben, die Zeitung gefüllt, was wollen Sie mehr?" „Wie ist denn unsere Haltung in künstlerischen Fragen?" „Nichts leichter als das. Wir engagiren einen bekannten Kunstreferenten. Und wenn unser Kritiker eine bestimmte Meinung hat, dann drucken wir sämmt- liehe anderen Kritiken ebenfalls ad. Erstens füllt das unser Blatt und dann sind wir ganz objektiv. So machen wir es überhaupt immer. Aus der einen Seite berichten wir über die Lage der schlesischen Weber und auf der andern über die Dividenden der Aktiengesellschaft Das eine erfreut das Herz unserer Abonnenten und das andere beruhigt ihr Gewiffen. Mehr können sie doch nicht verlangen." „Wie stellen wir uns zur auswärtigen Politik?" „Wie in allen andern Fragen. Wir treten: jederzeit für Deutschlands Ehre ein; werden jedoch völlerverhetzende Aeußerungen vermeiden und vor allem die friedlichen Beziehungen zum Ausland pflegen." „Also mit einem Wort, wir gründen einen Lokal- Awzeiger für die gebildeten Stände." „Sehr richtig, der Lokalanzeiger hat erreicht, was er wollte. Ich wünschte, wir wären erst so weit. Das wollen wir erstreben, das sei unsere Forderung, unser Programm, und so trinke ich denn auf den hundert- tausendsten Abonnenten, auf die hunderttausendste Annonce. Prosit." Die Gläser klangen. Ich erwachte. Es war Tag. Meine Augen fielen auf die Probenummer der „Deutschen Warte". Mein Gott, dastand es ja Wort für Wort alles im Programme, wie ich es geträumt hatte. Es lebe die neue Zeitung! Es lebe die Harmonie! Hausindustrielles Glend. Die elende Lage der schlesischen Lohnweber ist be- kannt genug; erst kürzlich hat eine amtliche Erhebung die alte, betrübende Erfahrung bestätigt, daß diese Gruppe der Heimarbeiter zu den schichtest situirten der deutschen Hausindustriellen gehören. Aber man darf nicht meinen, daß es den Hausindustriellen in den übrigen textil- gewerblichen Branchen etwa besser gehe, G. Lange macht in seiner Arbeit über die Haus- industrie Schlesiens, die der„Verein für Sozialpolitik" veröffentlicht hat, eine Reihe von Mittheilungen, die zur Kennzeichnung der in jenen Bezirken herrschenden Miß- stände gar sehr beitragen. Das Filetnähen z. B.. das bei seiner Einführung; täglich einen Arbeitsverdienst von„mehr als einer Mark" *) Herrschasl und Freiheit.