Vkrliner Sozial-Politisches Wochenblatt. Ans der Mache.— Der Konlangismus «nd die Revolution. — Das Ende der Religio» — Mas zahlen wir an indirekten Stenern?— Mie das heilige Gigcnthnm entsteht.— Die Folge« der Mac KinleybiU.— Literarisches Gedicht.— Novelle.— Der russische Markt. II.— Moralische Flausen.— Der sittliche Staat.— Reichstag. Aus der Mache. -se- Im Lande der so zart betrommelfellten Obotriten thut nach der Mecklenburger Schulzeitnng ein 79 Jahre alter Lehrer bei 650 Mark Gehalt noch immer Dienst eine Pension giebt es nämlich nicht. Ein anderer Lehrer bezieht jährlich die ungeheuere Sumnie von 240 Mark Es ist was Großes um den Edelmuth und die Groß- Herzigkeit unserer ritterbürtigen„Edelsten"! Für sich und ihre Herren Söhne mit nnd ohne Säbel beanspruchen sie ein„standesgemäßes" Einkommen und liegen dem Staate beständig in den Ohren, dasselbe im Hinblick auf die schweren Zeiten mehr zu verzuckern und zu verschnapsen siir die Bediensteten natürlich genügt ei» Almosen. Wohl thaten still und rein gegeben.. u. s. w. in den schönen Flötentönen der Kindersibel.— — Bismarck hat mit der Stadtverwaltung zu Rom einen Bertrag geschlossen, betreffs Lieferung von Eichen- klötzen, die zur Pflasterung des Kapitals verwandt werden. „Der Riese des Jahrhunderts" hat es seit jeher gut verstanden, das Geschäft nicht unter der Politik leiden zu laffen. Solange er die Sozialisten geheimbündelte, lieferte er dem Reiche Telegraphenstangen, dafür wahr- fcheiulich hat ihm das Hanpttelegraphcnamt zu Berlin neulich Revanche gegeben. Besagtes Amt zensurirte nämlich vor einigen Tagen alle von hier an auswärtige Blätter aufgegebenen Depeschen, und entfernte aus den- selben Alles, was gegen den Exkanzler gerichtet war. Die Sache wird im Parlament ein interessantes Nachspiel haben. O Mann von Blut und Eisen, wie weit ist es mit Dir gekommen! Früher pflastertest Du die Straßen der Geschichte mit Menschenschädeln und heute handelst Du mit Eichenstockerln! — Der Typus Bismarck ist aus dem politischen Leben aller Länder verschwunden, und nimmer zu schauen vergönnt sind dem heranwachsenden Geschlecht die untade- ligen Wasserstiefel. Doch Geduld, und wenn das Herz auch bricht. Im Lande Schwaben ist ein neuer Bismarck erstanden, Kleinbismarck, ein Bismarck in der Westen- lasche sozusagen. Minister von Schmidt nennt er sich, und eine Deputation der getreuen Stadt Stuttegart hat er angeschnauzt, daß es schon der helle Jammer war und die Abgesandten, treufeste nationalliberale Mannesseelen, eine öffentliche Beruhigung losließen, es sei nicht einmal org gewesen. Hier wird nicht debattirt, sagte der Minister. Und hat er nicht Recht, der Herr Minister? schweig', zahle und gehorche, deutscher Reichsbürger, auf daß du lange lebest und es dir wohlgehe alle deine Tage.— — Graf Kleist von Loß ist aus dem Gefängniß von -plötzensee wegen„geschwächter Gesundheit", ohne Kaution, entlassen werden. Der edle Herr hat die ersten Tage leiner Ferien dazu bcnützt, in Berlin die theuersten Lokale zu besuchen und seine Geliebte und seinen Bedienten Windel- weich zu prügeln. Und wenn man Boxer-Karl auch jetzt wieder veranlassen sollte, an seine Rittergüter hinter eiser- neu Gardinen zu denken. Aborte reinigen, wie es vor UM so mancher politische Gefangener gethan hat, wird kr in der Bastille am Plvtzensee nicht.— — In Pennsylvanien in Nordamerika streiken gegen luOOO Kohlengräber. Durch die Mac-Kinley Bill wurden alle Bedarfsartikel vcrthenert, die Kohlenbarone sind wollten wirklich die Löhne herabsetzen. zu bedauern. Zuerst Die Unternehmer lassen sie Gesetze machen, welche die von ihren Arbeitern erzeugten Artikel vertheuern, nnd dann möchten sie diesen hinterher noch am Lohn abzwacken, um nur leben zu können. Die Arbeiter sind freilich dumm, die sehen das nicht ein. Sollten sie nicht mit Freuden bereit sein, denjenigen, die ihnen als„Arbeitgeber" erst das Leben ermöglichen, auch einmal eine Gefälligkeit zu erweisen?— — Aus Rußland wollen im Frühjahr eine Menge Feinschmecker auswandern. Sie erklären, in ihrem Vater- lande nicht mehr leben zu wollen, weil man ihnen jeden Lebensgenuß vergälle. Und das hat mit ihrer seinen Nase die russische Polizei gethan. Sie hat nämlich herausgebracht, daß in den nach Rußland eingehenden Sardinenbüchscn gar häufig statt unschuldiger Fischlein nihilistische Proklamationen und Flugschriften sich be- fänden, und hat verordnet, daß alle fremden Sardinen- büchsen an der Grenze geöffnet werden müssen. Welcher Sachverständige ißt aber eine Sardine, die einige Tage der Luft ausgesetzt war. Das thut höchstens ein Maurer, wenn er sich zu viel iu„Champagner" übernommen. Es ist wirklich gar nicht schön von diesen Nihilisten. Nicht einmal die Sardine in der Büchse schonen sie. Hätten sie sich bei ihrem Schmuggel nicht auch mit Kartoffel- fässern behelfen können?!— — Nun singet ein Lied im Posaunenton, Alles, was sich zu den„Wadelstrümpflern" rechnet. Das„Berliner Tageblatt" verkündet es in Jubelhymne», die„Frei- sinnigen" werden nicht mehr unter die Reichsfeinde ge- rechnet: Engen Richter soll Bismarck werden. — Unter den Konservativen ist ein Zwiespalt aus- gebrochen. Junker I und Junker la ergehen sich in weit- schichtigen Deklamationen, wer von ihnen besser geeignet sei, eine Stütze der Regierung zu bilden. Die„Nord deutsche Allgemeine Zeitung" meint, die alte Raketenkiste habe nicht post festum zu kritisiren; die„Kölnische Zei tung" will ihren ehemaligen Brotgeber nur dann hinter dem Staatswagen einherpoltern lassen, wenn Gefahr im Verzuge sei, oder wenn, wie der Schulmeister sagte, als ihm die Anderen zu schnell aus der gemeinsamen Schüssel aßen: Periculum in mora ist. Sonst aber ist Alldeutsch- land ruhig. — Der englische Herzog von Bedford, der sich als Narr selbst erschoß, hatte in seinem Testament angeordnet, daß nach seinem Tode alle seine Personaleffekten, Leib- wüsche, Kleider, Regenschirme, Stöcke u. s. w. verbrannt werden sollten. Die Erben sind seinem Befehle nach- gekommen und haben so dem Arbeiter ein Beispiel ge- geben, wie der übersatte Besitz Werthe zu schaffen versteht. — Im lieben Deutschland liegt ein Land und das heißt Greiz . Und wenn Regenwetter ist, so kommt der ehrsame Wanderer, der zwei nur halbwegs ausgewachsene „Unterthanen" sein eigen nennt, in Gefahr, die halbe Landesmark an seinen Stiefelsohlen mit in die Fremde zu führen. Man sagt gewöhnlich, die Großmacht Greiz sei etwas hinter der Weltgeschichte zurückgeblieben. Nun, seit voriger Woche marschirt sie mit an der Spitze der Zivilisation: Sie hat angefangen zu konfisziren. Das Inglück ist dem in den letzten Jahren so bismarckfromm gewordenen„Kladderadatsch" widerfahren. Wir bedauern aufrichtig aus tiefster Seele! — Die bürgerlichen Blätter berichten, daß in Berlin in letzter Zeit die Kindsmorde in ungeheurer Zahl zu- genommen haben. Was ist der Grund dieser Erschei- nung? Ist es vielleicht der allgemeine Wohlstand, der in den Schichten herrscht, aus welchen sich die abgefaßten Kindesmörderinnen zumeist rekrutiren? Die Roth, die chreiendste Roth ist es, welche eines der stärksten Gefühle, die Mutterliebe zum Schweigen bringt. Vielleicht irren wir uns aber. Herr von Forckenbeck behauptet, es giebt keinen Nothstand, und gescheidter wie das Stadtoberhaupt können wir ja auch nicht sein. Aber das wissen wir, bürgerliche Mädchen brauchen ihre Kinder nicht umzu- bringen. Ein Blick in den Jnseratentheil der bürgerlichen Zeitung genügt. — Noch ist die Revolution in Chile nicht zum Ab- schluß gelangt, die Aufständischen gewinnen von Tag zu Tag mehr Terrain und Zulauf und schon ist wieder eine Bewegung in Bolivia im Gange. Welch schauerlich- schönes Gefühl für den zeitunglesenden Spießbürger, wenn weit hinten in Amerika die Völker aufeinanderschlagen. Wenn, und in Amerika . — Ein Polizeilieutenant antwortete unlängst auf die Frage des Gerichtsvorsitzenden, ob er den Angeklagten — er hatte ihn mit dem Degen über den Kopf gehauen — habe treffen wollen:„Hoffentlich wird der Hieb vrdent- lich gesessen haben." Schade, daß das Sozialistengesetz abgelaufen; den Mann hätte man mit bestem Erfolge gegen Sozialdemokraten verwenden können. Putt- kamer'sche Kanonen würden da überflüssig sein. — Die Studirenden am Kunstgewerbe-Museum haben in der letzten Woche einen„Lumpenball" abgehalten. Die jungen Herren setzten eine Ehre darein, wer von ihnen als herabgekommenster, naturgetreuester;,Lump" erscheinen würde. Ihren Zweck haben sie nun voll nnd ganz er- reicht, wie die Zeitungen berichten:„Nicht zum Unter- scheiden." Der einfachste Arbeiter freilich würde sich eines solchen Gebahrens schämen. Jndeß, die jungen Söhne sind wenigstens aufrichtiger als die alten reichen Väter. Jeder muß sich selbst am besten kennen. — X Der Hohenzollernbarde Ernst von Wildenbruch hat den rothen Adlerorden vierter Klasse für ein Stück: „Der neue Herr", eine unverschämte Lobhudelung des sogenannten großen Kurftirsten, bekommen. Für die Kunst ist das viel, für die Loyalität wenig! Das ist das Demokratische der Zeit: Nachtwächter, Assessoren, Dichter gleichen Sich vor dem Forum der Unsterblichkeit Bald durch das— allgemeine Ehrenzeichen. — Die französischen Marxisten werden nach einem Aufruf in ihrem Organ, dem„Sozialiste", den zwanzig- jährigen Geburtstag der Kommune durch ein Festessen mit Tanz seiern, ä Kouvert 3 Frks. 50 Cts. Jeder nach seinem Geschmack. Wenn man den Rothwein schlürft, wird man an das Blut der Märtyrer denken, bei den Suppenklößen an die Kugeln, welche ihre Brust durch- bohrt haben, und nach der Marseillaise und dem Qa ira wird man das�Tanzbein schwingen. Der Ko«langismusl.«nd�die Revolution.� Von Mac-Arle. [IT.(Schluß.) %Derg27. Januar 1889. Die Radikalen und Opportunisten lebten indessen in dem Glauben, daß sie ihren Einfluß auf das Pariser Proletariat noch nicht verloren hätten. In einer Anzahl Provinzen hatte Boulanger allerdings erdrückende Ma- joritäten erhalten, aber in Paris hatte er ihnen noch nicht die Stirn geboten. Sie bezweifelten noch immer, daß die Massen seine Stärke bildeten und glaubten nicht an seine Kandidatur in Paris . Nun starb im No- vember 1888 der Pariser Deputirte Ude, sein Sitz wurde frei und eine neue Wahl war nothwendig. Boulanger konnte sich vor der Herausforderung nicht zurückziehen, er legte sein Mandat als Deputirter des Nordens nieder und ließ sich für den erledigten Sitz der Seine aufstellen. Der Wahlkampf zwischen beiden Parteien wüthete mit äußerster Heftigkeit. Die Regierung sparte weder Geld noch Anstrengungen um den Sieg auf ihre Seite zu ziehen, die Boulangisten blieben an Thätigkeit und Opfern nicht hinter ihr zurück. Die Geldquelle, welche dem Boulangismus unauf- hörlich floß und welche für derartige Anstrengungen auch nothwendig war, schien fast unerschöpflich zu sein. Dem Eingeweihten mußte das zu denken geben, aber dem Volk lag das zu weit, um sich Gedanken darüber zu machen. Es hatte nur das eine vor Augen: eine junge, kühne
Ausgabe
5 (21.2.1891) 8
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