zur berliner i)üllis-(Erilnine.
9.
Sonnabend, den 28. Februar 1891.
V. Jahrgang
Gin Herr ans gutem Hause. Von P. I. Börangcr. Uebersetzl von Rubens Aufs neue soll mein Haus sich heben. Mein scl'ger Valcr»ar Baron . Ich bin sein Bastard und bin eben Als solcher meines Vaters Sohn. Führ' ich euch durch der Vorzeit Bahnen, Soll niemand mich der Lüge zeihn. Js stamm' direkt von meinen Ahnen,' Gott laß die Edlen selig sein. Die Mutter, die ich nie vergesse, War Sängerin zuerst, darnach Erhob sie sich zur Baronesse, Und ward zur Gräfin allgemach, Zuletzt Marquise; denn zu täuschen Und groß zu thiin verstand sie fein. Gott lasse sie bei meinen keuschen Großmüttern allen selig sein. Mein edler Vater— billig tritt er Vor allen andern aus im Reihn— Trieb Industrie, der edle Riller, Und niemand dürft' ihn drum vcrschrcin; Ließ Kreuz und Lrdensbänder schauen, Und wahrte stets den guten Schein. Er lebt' aus Kosten schöner Frauen, Gott laß den Edlen selig sein! Mein Großpapa hat, tief versunken In Schulden, sich auss Land gemacht; Dort saß der Edelmann betrunken Bei seinem Pfarrer manche Nacht. Die leeren Krüge schlug in Scherben Er aus dem Kops dem Bäuerlein. Uns hinterließ er nichts zu erben, Gott laß den Edlen selig sein! Der Graf, mein Urahn, war versessen Aufs Jagen und er traf sein Ziel. Ließ später sein Gewehr zerfressen Vom Rost und legte sich auss Spiel. Das Glück war ihm nicht stets gewogen, Die Münzen flogen, groß und klein. Sie haben nackt ihn ausgezogen, Gott laß den Edlen selig sein! Mein Ururahn, Fürst von Geblüte, Regierte trefflich, wie es heißt, Und war zuweilen voller Güte, Besonder« wenn er gut gespeist. Die Bauern kamen kaum zu Odem, Die Steuern drückten ungemein; Zuletzt verkaust' er Grund und Boden. Gott laß den Edlen selig sein! Jedoch wozu der alte Kutter? Ich selber, seh' ich recht mich«n, Ich gelte wohl, was Vater, Mutter, Was Ahn, Urahn und Ururahn; So muß mein Recht doch endlich siegen. Von Adel bin ich, mein Gebein Soll einst im Chor der Kirche liegen. Gott laß dereinst mich selig sein.
L e t t k u g e l. Von Guy de Mau passant.(Nachdr. verboten.) (Schluß.) Loiseau traf wieder den Nagel auf den Kopf, indem " erklärte: »Es ist nur schade, daß es hier kein Pianoforte i'ebt; sonst könnten wir gleiey eine Quadrille tanzen." Cormudet jedoch hatte weder ein Wort gesprochen, 'och irgend eine Bewegung gemacht; er schien sogar in lehr ernste Gedanken versunken zu sein und zupfte zu- eilen wütend an seinem großen Barte, als wollte er en selben noch länger machen. Endlich gegen Mitternacht, f*s die Gesellschaft sich allmählig trennte, trat Loiseau ishwankend auf ihn zu, klopfte ihm auf den Bauch und immmelte: „Sie sind ja heute Abend recht verstimmt, Bürger; ürum sagen Sie gar nichts?" t... Da erhob Cormudet plötzlich den Kopf und, die Ge- leUschost niü einem schrecklichen funkelnden Blicke durch- ll�gend, rief er: ,„Ich erkläre hirmit Ihnen Allen, daß Sie mir so- kn eine bittere Schmach bereitet haben!" Dann stand r auf und ging nach der Thür, wo er nochmals wieder- holte:„Ja wohl, eine Schmach!" und verschwand. « Zuerst starrten alle einander verwundert an, und oheau war ganz verblüfft; allein bald hatte er seine vüffung wieder gewonnen, und schließlich wollte er sich or Lachen fast wälzen, indem er wiederholt ausrief: „Ja, die Trauben sind noch sauer, Alter, sie sind uoch sauer." r Da man den Sinn dieser Worte nicht verstand, er- i hue er die„Geheimnisse des Korridors," was eine un- andige Heiterkeit hervorrief. Die Damen amüsierten sich 'e närrisch, während dem Grafen und Herren Carrs- kfa",. Oor Lachen die Thränen in die Augen traten, schien ihnen fast unglaublich. „Wie! sind Sie ihrer Sache sicher? Er wollte..." r t"�enn ich Ihnen sage, daß ich's mit eigenen Augen Althen habe." „Und sie hat sich geweigert?..."
„Weil der Preuße im Nebenzimmer war'" „Nicht möglich!" „Ich schwöre es Ihnen." Der Graf konnte vor Lachen kein Wort sagen, und der Fabrikant hielt sich mit beiden Händen den Bauch Loiseau fuhr fort: „Nun, und jetzt begreifen Sie wohl, warum ihm heute Abend die Sache nicht spaßhaft vorkam." Schließlich gingen auch diese drei, hinauf, halb kran vor Lachen. Oben trennte man sich. Aber Frau Loiseau, als sie mit ihrem Alaune zu Bette ging, bemerkte, daß das „kleine schnippische Ding," die Carr« Lamadon, den gan zen Abend gelacht habe, und fügte hinzu: „Weißt Du, wenn die Frauen nur eine Uniform sehen, ob dann ein Franzose oder ein Preuße darin steckt das ist ihnen gleich. H.rrgott! es ist doch zu traurig." Die ganze Nacht hindurch aber war auf dem sinstern Korridor ein leises Geräusch zu vernehmen, ähnlich wie Athemzüge, bald wieder, als ob ein paar nackte Füße über den Boden glitten oder als ob ein Gegenstand leise knarrte. Sicherlich schlief man erst sehr spät ein, denn noch lange sah man Licht unter den Thüren hervor- schimmern. Ja, der Champagner bringt eben solche Wirkungen hervor; er stört, wie man sagt, den Schlaf... Am nächsten Morgen warf die reine Wintersonne ihre blendenden Strahlen auf das glitzernde Schneefeld. Der Wagen war endlich angespannt und wartete vor der Thür, während eine Schaar weißer Tauben in ihrem dicken Federkleid und mit ihren zarten roten Augen stolz zwischen den Hufen der sechs Pferde umherspazierten und in dem rauchenden Koth ihre Nahrung suchten. Der Kutscher , in seinen Schafpelz gehüllt, brannte sich auf dem Bock seine Pfeife an, und alle Reisenden, deren Gesichter sämmtlich vor Freude strahlten, ließen sich schnell noch einigen Proviant für den Rest der Reise ein- packen. Man wartete nur noch auf Fettkugel, die denn auch endlich erschien. Etwas verwirrt und beschämt ging sie zögernd auf ihre Reisegefährten los, melche sich sämmtlich wegwandten, als ob sie sie gar nicht bemerkt hätten. Der Graf bot mit würdiger Miene seine Frau den Arm, um sie von dieser unreinen Berührung fernzuhalten. Verblüfft blieb die fette Dirne stehen; schließlich faßte sie Much und grüßte die Frau des Fabrikbesitzers mit einem bescheiden gemurmelten:„Guten Tag, Madame." Die andere nickte nur verächtlich mit dem Kopfe, wobei sie ihr einen ent rüsteten Blick zuwarf. Jedermann schien mit seinen An gelegenheiten beschäftigt, und man hielt sich von ihr fern, gerade als ob sie in ihren Kleidern das Gift einer an steckenden Krankheit trüge. Hierauf eilte man nach dem Wagen, wo sie ganz allein zuletzt anlangte und schwei- gend denselben Platz einnahm, auf welchem sie während des ersten Theils der Fahrt gesessen hatte Man schien sie weder zu sehen, noch zu kennen; aber Frau Loiseau, welche sie von weitem mit verächtlichen Blicken betrachtete, sagte leise zu ihrem Manne: „Gott sei Dank, daß ich nicht neben ihr sitze." Jetzt spürte man einen Ruck im Wagen; die Fahrt begann, Anfangs wurde kein Wort gesprochen, und Fett- kugel wagte die Augen garnicht auszuschlagen. Einer- seits empfand sie einen bittern Unwillen gegen alle ihre Nachbarn, anderseits fühlte sie sich erniedrigt, insofern sie nachgiebig gewesen und jetzt von den Küssen jenes Preußen besudelt war, dessen Armen man sie erst durch allerlei Ränke überliefert hatte. Bald aber brach die Gräfin dies peinliche Schweigen, indem sie sich an Frau Carre-Lamodoil wandte und dieselbe frug: „Sie kennen doch, glaube ich, Frau von Etrelles?" „Jawohl, sie zählt zn meinen Freundinnen." „Es ist doch eine reizende Frau, nicht wahr?" „Entzückend! Eine wahre Musterdame, übrigens hochgebildet und Küustlerin durch und durch; sie singt bezaubernd und ihre Zeichnungen sind jedes Meisters würdig." Der Fabrikbesitzer plauderte mit dem Grafen, und mitten in dem klirrenden Lärm der Fensterscheiben hörte mau zuweilen ein Wort: Coupon— Wechsel— Prima— Sicht." Loiseau, welcher aus dem Wirthshause das alte Spiel Karten hatte mitgehen heißen, das bereits fünf Jahre in Gebrauch und infolge dessen ganz fettig war, begann mit seine Frau eine Partie Mariage . Die frommen Schwestern nahmen den Rosenkranz aus ihrem Gürtel, bekreuzten sich zusammen, und plötzlich begannen ihre Lippen lebhaft zu wackeln, ein Oremus nach dem andern ableiernd, und von Zeit zu Zeit küßten sie eine Medaille, bekreuzten sich von neuem und begannen hierauf wieder ihr hastiges unterbrochenes Gemurmel. Cormudet saß unbeweglich und sinnend da. Nachdem man drei Stunden gefahren war, raffte Loiseau seine Karten zusammen und sagte: „Jetzt bekomme ich aber Appetit." Da zog s.ine Frau ein zusammengeschnürtes Packet hervor, aus welchem sie ein Stück kalten Kalbsbraten
nahm. Sie zerschnitt dasselbe sauber in dünne Scheiben und beide begannen zu essen. „Wir möchten dasselbe thun," sagte die Gräfin. Man willigte ein, und so packte sie den Proviant für sich und ihren Mann und das Fabrikbesitzer-Ehepaar aus. Es war eines jener langen Gefäße, dessen Deckel mit einem Hasen aus Steingut verziert ist, um anzudeuten, daß das Gefäß für eine Hasenpastete bestimmt ist, eine leckere Fleischspeise, bedeckt mit einer weißen Fettschicht und mit andern feiugehackteu Fleischsvrten durchmischt. Die beiden frommenSchwestern enthüllten ein Stück Knoblauchwurst, und Cormudet, mit beiden Händen zu gleicher Zeit in die weiten Taschen seines Sackpaletots fahrend, zog aus der einen vier hart gesottene Eier und aus der andern ein Stück Brot hervor. Er löste die Schale los, warf dieselbe vor sich auf den Boden und begann hiernach in die Eier einzubeißen, wobei verschiedene Brocke» Dotter auf seinen großen Bart herabfielen und darin wie Sternlein erschienen. Fettkugel hatte in der Eile an nichts denken können und schaute verzweifelt, vor Wut fast erstickend, allen den Leuten zu, welche ruhig speisten. Zuerst ergriff sie eine solche Aufregung, daß sie jenen beinahe mit einer Flut von Schmähungen ihr Unrecht ins Gesicht geschrieen hätte; allein sie konnte nicht sprechen, die Aufregung lähmte ihr die Zunge. Niemand blickte sie an, niemand dachte an sie. Sie fühlte sich jetzt wie ertränkt in der Verachtung dieser ehrenhaft sein wollenden Hallunken welche sie erst geopfert und dann wie einen unsaubern unnützen Gegenstand bei Seite geworfen hatten. Hierauf dachte sie an ihren großen Korb, welcher mit allerhand Leckerbissen gefüllt gewesen war und den jene, vom Hunger gepeinigt, geleert hatten, au ihre beiden Brathühner, an ihre Pasteten, Birnen und die vier Flaschen Bordeaux ; darüber steigerte sich ihre Entrüstung bis zum Weinen. Sie gab sich zwar alle Mühe, ihr Schluchzen zu unterdrücken, allein schon wurden ihre Augenwimpern feucht, und bald rollten zwei dicke Thränen langsam über ihre Wangen herab. Andere folgten ihnen schneller, herabstießeud wie die von einem Felsen rieseluden Wassertropfen und in regelmäßigen Zwischen- räumen auf ihren schwellenden Busen träufelnd. Dabei blieb sie mit festen Blicken und ernsten bleichen Zügen aufrecht sitzen, in der Hoffnung, man werde sie nicht be- merken. Allein der Gräfin war es nicht entgangen, und sie setzte durch einen Wink ihren Mann in Kenntnis. Die- ser zuckte mit den Achseln, als wollte er sagen:„Nun, das ist nicht meine Schuld." Frau Loiseau zeigte ein verstohlenes triumphierendes Lächeln und murmelte: „Aha, sie weint über ihre Schande." Die beiden frommen Schwestern hatten den Rest ihrer Wurst in ein Papier gewickelt und wieder ange- fangen zu beten. Cormudet, welcher seine Eier verdaute, streckte seine laugen Beine auf die gegenüber befindliche Bank, lehnte sich mit gekreuzten Armen zurück, lächelte wie ein Mann, der einen guten Witz gefunden hat, und begann die Marseillaise zu pfeifen. Aller Gesichter verfinsterten sich dabei; diese Volks- melodie schien seinen Nachbarn sicher nicht zu gefallen. Sie wurden nervös und ärgerlich, gleich als wollten sie heulen wie Hunde, die Musik hören. Er bemerkte dies zwar, ließ sich aber durchaus nicht stören und trällerte zuweilen sogar die Worte vor sich hin: Arnour sacre de la patrie! Die Fahrt ging jetzt schneller, da der Schnee fester war; und bis nach Dieppe , während der langen Stunden der Reise, auf den holprigen Stellen des Weges, während der hereinbrechenden Nacht und schließlich trotz der tiefen Finsterniß im Wagen fuhr Cormudet hartnäckig fort, in einförmiger Weise seine Rächermelodie zu singen, die er- müdeten nnd verzweifelten Gefährden zwingend, dem Ge- sauge von Anfang bis zu Ende zu folgen und sich jedes Wort desselben ins Gedächtniß einzuprägen. Fettkugel aber weinte immer noch, und zuweilen, wenn der Säuger zwischen zwei Strophen eine Pause machte, hörte mau in der Finsterniß einen schluchzenden Ton, den die Dirne nicht hatte unterdrücken können.
Der russtsche Markt» Eint weltwirthschaftlicht Umschau. III. Von 1873 bis 1875 bemühte sich unsere kleine Reformergruppe, aus dem freihändlerisch-desorganisirten Wirthschaftssystem heraus zu kommen durch eine Politik, Me ich später im Wiener„Vaterland" als jene des sozialen Schutzzolles" und schon im„Emanzipations- ampf" als die des„sozialen Königthums" bezeichnet habe, bestimmt, das nationale Einkommen von Kapital und Arbeit gleichmäßig zu heben. Dagegen war die Strömung siegreich, welche auf Hebung aller Renten durch den allgemeinen Schutzzoll hinauslief. Da sich die Arbeiter eine solche Politik nicht freiwillig hätten ge- üllen lassen, mußten sie ihrer Freiheiten durch das Sozialistengesetz beraubt werden. Nun war ihre Koalitions-