Beiblatt zur Berliner Volks- Tribüne.
Nr. 19.
Der Schrei der Plage.
Aus dem Englischen des W. Moeriß.
Jeh hörte sie sagen: Laß hoffen und klagen, Es wird doch immer dasselbe sein!
So heute wie morgen bringt Kummer und Sorgen, Bringt endlose Sorgen und trostlose Pein!
Als die Welt noch junger, in Qual und Hunger,
Die Hoffnung, sie stählte uns Herz und Arm, Da führten Gelehrte, in Worten bewährte, Uns gegen das Unrecht und gegen den Harm.
Lies in den Geschichten und Ruhmesgedichten Die Namen der Großen, wie sich's gebührt, Dann sieh, wie wir werben und langsam versterben, Inmitten der Freiheit, zu der sie geführt!
Wo geschwind und geschwinder der eiserne Schinder, Den wir geschaffen, das Werkzeug treibt;"
Heißt uns Schätze ergründen und Kurzweil erfinden Für And're, daß uns nichts übrig bleibt.
In elenden Höhlen versumpfend wir gröhlen, Was wissen wir, ob die Welt ist schön!
Wir müssen uns scheu'n, unsrer Brut uns zu freu'n, Sie wird, gleich uns, ja zu Grunde geh'n.
Kein Gott läßt sich rühren; wer soll uns nun führen
Heraus aus der Hölle, die uns umloht? Wir sehen Lügner, Betrogne, Betrüger, Die Großen sind klein und die Weisen todt.
Jch hörte sie sagen: Laß hoffen und klagen, Die scheerende Klinge verschont nicht das Schaf; Sind wir denn nicht stärker, als unsre Kerker, Sobald die Erkenntniß uns schüttelt im Schlaf? Komm', uns zu verbinden, eh' Stunden entschwinden, Und Rettung liegt nur in mir und in dir! Die Hoffnung belebt uns und Licht umschwebt uns, In fiegender Klarheit marschiren mir!
Laß kältere Herzen nur lachen und scherzen Mit flüchtiger Lust, von der Furcht vergällt; Indeß wir erglühend und Leben versprühend Dem Kampf uns weih'n für die neue Welt!
Komm', uns zu verbinden, die Stunden entschwinden, Die Sache fliegt über den Erdenball! Die Welt erzittert, von ihr erschüttert, Und Freude nur bringt sie für uns all!
A. Scheu.
Die papierne Passion.
Schluß.
... Er hat zujeschlossen!!"" " Schlagt doch de Dhüre in!!"" " Schlagt den Hund dot!!""
Hil- fe!!!... Hiil- fee!!!""
Endlich hat Mutter Abendroth'n das Fenster aufbekommen. Die eiskalte Luft pfeift in die warme, dunstige Küche. Die Schläge unten sind jetzt ganz deutlich zu hören. Die Weiber freischen, unten vor einer Parterrewohnung hat sich ein dicker Menschenknäuel angesammelt. Der ganze Hof tost.
" Holt doch den Schußmann!!- Holt doch den Schußmann!! Der versoffne Hund schlächt ja die arme Frau doot!!!"
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Mutter Abendroth'n schreit. Sie hat sich weit zum Fenster hinausgebogen. Wally liegt über sie weg.
Sonnabend, den 9. Mai 1891.
Eine schnarrende, durchdringende Stimme. Jm Thorweg funkelt eine Helmspitze.
Einige
" Der Schuhmann!! Der Schuhmann!!"" Alle Leute auf dem Hofe umringen ihn schreiend. kommen wieder aus der Hausthür. Sie berichten Etwas. Wieder Schreien, Fluchen, Weinen.
Eine Frau sieht zu der Parterrewohnung heraus. " Der Schweinehund hat die arme Frau zu Schanden geschlagen!!!""
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V. Jahrgang.
Olle Kopelke kneift sich aus dem Kreuze einen Fidibus. Er zündet ihn über der Lampe an und setzt damit seine Zigarre wieder in Brand. Herr Haase dreht stumpfsinnig die beiden Jünger von Emmaus zwischen den Fingern umher. Hinten in der Fabrik werden jetzt die Dämpfe losgelassen. Zuweilen klirren von dem Stöhnen und Stampfen der Maschinen leise die Fensterscheiben.
Sehn Se, werter, junger Herr? Is det nich
Jetzt: ein lautes Poltern und Krachen. Ein schwarzer sonderbar? Schließlich kann Eener aus so wat' n SpielMenschentnäuel wälzt sich zur Hausthür heraus. In seiner Mitte zeich machen! Aber, wissen Se? Dabei hätt'n se mir taumelt ein Mann, den sie vorwärts zerren. doch mal beinah eklig drum verhau'n! Sehn Se! Ick meen' man! Wenn eener so nimmt: schließlich is det doch' ne puzije Welt!"
" Hund, verdammter!!""
Todtschlagen müßten sie den Hund!!!"" Tofend wogte die ganze Maffe zum Thorweg hinaus. In
der Mitte die blanke, funkelnde Helmspitze.
Endlich ist der Hof wieder leer. Alles ist wieder still. Nur
ein paar Weiber stehen vor dem Budikerkeller und schwatzen. Ganz deutlich sind wieder die Ziehharmonika und dazwischen die Billardkugeln zu hören. In der Parterrewohnung gehen ein paar Leute hin und her. Ein Fenster nach dem andern wird wieder zugeschlagen. Auf dem zertrampelten Schnee liegen breite,
Er hat sich behaglich auf seinem Stuhl zurückgelehnt und blinzelt Herrn Haase gemüthlich durch den Bigarrenqualm_an. „ Na, Kind? Nu kannste mir mal noch so'n Puffert rieberlangen!"
gelbe Lichtstreifen von den hellen Hoffenstern und die rothen, un- Warum geht Rußland auf Eroberungen aus?
stäten Reflere der großen Laterne. Das Stampfen, Dröhnen und Quitschen der Maschinen, und, von den Hinterhäusern her, noch immer, melodisch, das Tenorhorn.
„ Ach, Mutter! Mach de Klappe zu, weeßte! Et
zieht!" Olle Kopelfe schüttelt sich. Er hat sich schon lange wieder an den Tisch gesetzt. " Fleich! Fleich!" Mutter Abendroth'n hat sich schon wieder hinausgebogen. Sie ruft auf den Hof hinaus. Sie spricht mit Jemand. „ Na, denken Se bloß! So'n Schweinehund!" " Hab'n Se de Papiere, junger Herr?" „ Hier!... Bitte, Herr Bitte, Herr.. Ko- pelfe.. Herr Haase kann kaum sprechen. Er zittert noch am ganzen " O, ick sag' Ihn'n! Wat jloob'n Se?! Mit det Beil is er uf ihr losjejangen! Det Blut is der armen Frau man immer so von'n Kopp runterjeloofen!" " Wat sagen Se man blos?!"
Körper.
"
" Ja, wissen Se! Un dabei is die arme Frau schon wieder schwanger!"
„ Hurrjott! Hurrjott nee!"
Von Stepniat.
einer sehr merkwürdigen Lage. Wie überall in Europa Die russische Autokratie befindet sich augenblicklich in auf dem Uebergewicht des Grundbesizes und des Militarismus fußend, unterschied sie sich von den Autokratien des Westens durch Ursprung und Charakter. Als aber die soziale Entwicklung die Befreiung der Leibeigenen erheischte, folgte Rußland dem Beispiel der benachbarten Staaten in allem, nur nicht in den politischen Institutionen. Die Regierungsform blieb dieselbe, aber im sozialen und ökonomischen Leben erlangte die mittlere Klasse, das Bürgerthum, ebenso viel Uebergewicht als im übrigen heutigen Europa . Durch die traditionelle Alleinherrschaft ebenso sehr als durch die Sympathieen, welche die Menschen persönlich für die Macht hegen, veranlaßt, ließ die Regierung nichts ungeschehen, den früheren Einfluß des Adels und der Grundbesizer zu erhalten und die materiellen Schäden, welche ihnen die Emanzipation bereitet hatte, wieder gut zu machen. Zuerst wurde der Boden in allen Provinzen des eigentlichen Rußland ( ausgenommen in Polen , wo wahren Werth abgeschäßt. Auf diese Weise war die als man das entgegengesezte Mittel anwandte) über seinen Kaufgeld für das Land von den Bauern jährlich zu entrichtende Summe eine pekuniäre Entschädigung für den Ausfall der von ihnen geleisteten unentgeltlichen Arbeit. Als drei Jahre nach der Emanzipation die Semstwo's*) Mutter Abendroth'n. hat sich wieder zurückgebogen. Müh- geschaffen wurden, erlangte der Adel eine solcher Macht, sam klopft sie das Fenster zu. Ihr Gesicht ist von der Kälte daß er, wenn er gewollt hätte, mit einem Schlage die trebsroth. Semstwo's in ebenso viele Oligarchieen hätte verwandeln " Nee, Kinder! Det's hier schon' ne Wirthschaft in fönnen, welche seine Interessen und Privilegien begünstigt det Haus?.. So'n Schweinekerl! Der Fabrikherr hätt'n schon lange zum Deibel jejagt wejen sein'n verfluchtigen Suff, wenn die arme Frau nich immer for'n bettelte und dabei haut er ihr noch zu Schanden!"
"
Un det's nu schon det vierte Mal, det er Er schlägt ihr ooch noch mal dot! haut! Se uf!"
Na, ick sag: müßten se nu so'n Hund nich
ufhäng'n?!"
,, Mutter!!"
" Ja, ja doch! Ich komm' ja schon!... ' N Abend, Frau Scharf!"
"
' N Abend!"
ihr so Passen
jleich
Na!
„ Na, rei' Dir man wieder ab, Mutter! Olle Kopelke hat jetzt das Kreuz wieder mitten auf den Tisch gelegt. Mutter Abendroth'n ist noch ganz außer sich. " Ach ja! Richtig! Ich muß ja Herrn Rödern noch det Essen rieberdragen!"
"
So! Na, nu..."
zwinkert mit den Augen. Olle Ropelle sieht ihr nach. Er lacht still vor sich hin und
und in den Vordergrund gestellt hätten. Seit 1866, als Graf Tolstoi die Macht in die Hand bekam, that die Regierung ihr Möglichstes, um eine Grundbesizer- Oligarchie nach Art der englischen zu bilden, bestärkte den Adel jederzeit in seinem Egoismus und seinen Eingriffen in die Rechte der allgemeinen Wohlfahrt, während sie sich allen durch die Previlegien gebildeten Schranken widersetzte. hochherzigen Versuchen zum Zwecke der Zerstörung der Als man kurz nach der Befreiung der Leibeigenen augenscheinliche Zeichen des allgemeinen Ruins des grundbesigenden Adels zu bemerken begann, bot ihm die Regierung .. Na, nu passen Se mal uf, werter junger freiwillig Hilfe an. Hunderte Millionen von Rubeln Ihre letzten Worte find in ein Husten übergegangen. Sie Joljatha! Hier, diese beeden Schnitzeltens sind die beeden fügung gestellt, um ihn vor dem Ruin zu bewahren. Im . Det wah also det Kreiz und det hier der Berg wurden dem Adel mit sorgloser Verschwendung zur VerSchechers! Zu den Een'n sagt der Herr Fristus: Wahr- Jahre 1867 wurde aus den Ueberschüssen der Regierung lich, ick sage Dir, heite noch wirst Du mit mir in't Para- die erste Bodenkreditbank gegründet. In wenigen Jahren diese sind!" wuchs die Zahl solcher Banken auf zwölf an. Die von und sieht auf den Hof hinunter. Unten erzählen sich ein paar Summe belief sich zur Zeit der Emanzipation im Ganzen Wally langweilt sich. Sie ist wieder an's Fenster getreten den letzteren und dem Staate dem Adel vorgestreckte Frauen Etwas. Die Stimme der Mutter Abendroth'n ist deut auf sieben hundert Millionen Rubel. Ueberdies zogen sie aus dem Niederschlagen und dem Verkauf großer Waldstrecken ungeheure Vortheile.
„ Holt doch den Schußmann! ม
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hat noch an dem letzten Stück Buffer gekaut. Hiiil- fe!!... Hiiil- fee!!"" " Hurrjott!! Hurrjott!!"
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Das Tosen unten wird immer lauter. Fortwährend laufen Leute in der Hausthür des Quergebäudes aus und ein. Wie toll wirbeln die Schneeflocken auf den schwarzen, durcheinander wogenden Menschenhaufen nieder. Drüberhin wirft die große Gaslaterne über dem Fabrikthor ihr rothes, unſtätes Licht. Aujust, laß den Drachen los!!"" " Schlagt doch de Fenster in!!"" " Hiiil- fee!!!""
" 111
Jest stürzen auch die Gäste unten aus dem Budikerkeller herauf. Von der Fabrik hinten kommen ein paar Arbeiter. „ Hiiil- fee!!!"
Ueberall liegen die Leute zu den Fenstern heraus. Aengst lich schwatzen sie von einem Stockwerk zum andern.
Jetzt: ein dumpfer Schlag, ein lauter, greller Angſtſchrei. Ein paar Kinder wimmern auf.
Mutter Abendroth'n biegt sich noch weiter vor. Sie schreit was sie kann in den Hof hinunter.
,, Donnerwetter! Det jiebt ja haarije Senge!" Jetzt ist auch olle Stopelte zum Fenster getreten. Ein scharfer Windstoß ist in die Küche gefahren und hat die papierne Bassion auf dem Tische zuſammengewirbelt. Herr Haase hat die einzelnen Schnitzelchen mühsam aufgefangen. Seine Hände zittern. „ Um Gottes- wil- len
Herr!
lich zu unterscheiden.
" Hier diese Schnitzeltens unter dem Kreize sind die Kriegsknechte, und det hier is der. Mantel Iristi, um den jeloost wurde. Sie wissen doch! Na ja! Un det hier sind de Wirfels! So!..."
Er hat jetzt zu beiden Seiten des Kreuzes zwei kleine Schnitzelchen gelegt.
Johannes, der Jinger, den er lieb hatte!" " Det hier soll Maria sind, seine Mutter, un det
"
, Uh! Det Feier! Det Feier!"
Alle diese Goldquellen waren aber ebenso verloren wie Wasser im Wüstensande. Man konnte den Ruin der adligen Grundbesizer nicht abwenden, und sie erhielten in feiner Beziehung hin Schadenersatz. Die Kultur des dem Adel gehörigen Landes ist, wenn überhaupt von einer Kultur die Rede sein kann, in dem denkbar bedauernswertesten Zustande. Die Besizer stecken bis über die Wally zeigt auf den Hof. Drüben aus dem Fabritschorn Ohren in Schulden und haben oft nur nominell ein Einstein, der lang und schwarz in den schmußiggrauen Schneehimmel kommen. Die finanzielle Statistik von Kaufmann lehrt, ragt, flattert die rothe Flamme lang in das weißgraue Flocken- daß von dem gesammten angebauten Boden mehr als ein gewirbel hinein. den Fristus trant. Se wissen doch! Un det hier, oben, verpfändet ist, daß die Besizer nie im Stande sein werden, Det hier is der Stock mit den Essigschwamm, von Viertel bei den Bodenkreditbanken für so große Summen sind die Jinger, die nach Emmaus jingen... Seh'n zu bezahlen. Eine Ausnahme hiervon machen wohl nur Se, da hab'n Se de janze Passion aus Papier geschnitzt! die drei südwestlichen Gouvernements, wo Dank einigen Js'n janz hibschet Kunststickchen un paßt allens janz besonderen Umständen das Geld zu produktiven Verbessejenau!" rungen verwendet wurde. Für das übrige ackerbautreiWeiber unten kreischen, hinten in der Fabrik stampfen und quitschen Kopelfe auf die Schulter gelehnt. Sie pustet jetzt mitten in die beredete Zahlen geliefert. Die Normaleinnahme in den Wally ist wieder zum Tisch gekommen und hat sich Olle bende Rußland werden uns durch unparteiische Statistiken die Maschinen. Dazwischen in einem der Hinterhäuser bläst Je- Schnitzel hinein. Sie fliegen über den ganzen Tisch hin aus- unteren Wolgaprovinzen beträgt nach den Abschäßungen mand ruhig allerlei Läufe auf einem Tenorhorn. Jezt, ein furchtbares Strachen! Sie haben die Thür ein- einander. Ein paar wirbeln weiß in der halbdunklen Küche umgebrochen. Wüſtes Gebrüll. Dazwischen wieder schwere, dumpfe her. Nur das Kreuz ist schief mitten auf dem Tische liegen der Semstwos 116 Kopeken auf die Dessjätin, die Zinsen Schläge. Neugierig drängt sich jetzt Alles unter die Parterre- geblieben. der bei der Territorialbank fontrahirten Schulden belaufen fenster und zur Hausthür hinein. „ Kind! Du bist doch aber voch zu unjezogen! Haste sich auf 85 Kopeken. Die für die Bodenbesizer sehr wieder det janze Leiden Jristi auseinanderjepust't!" Wally lacht.
Jetzt steht auch er am Fenster.
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" Mach uf!!! Machste uf??!!""
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Dröhnend wird unten gegen eine Thür geschlagen.
Ein lautes Stöhnen. Dazwischen wieder die Kinder. Die
Geschrei. Heulen. Fluchen.
Was jiebt's denn hier??!!""
*) Etwa: lokale Selbstverwaltung.