Berliner Volks-Tribiine. Sozial-Politisches Wochenblatt» Politische Uothen. Au« Engtand. Die direkte Uolksgrsetzgebnng im Programme der deutschen Sozial­ demokratie. Uerschiedene». Gedicht. Novelle. Die österreichische Gewerbe- Inspektion(Schluß). Die Sozialdemokratie und die Aornzölle. Seiträge zur deutschen Kultur- und Lite­raturgeschichte de» 18. Jahrhundert». VIII. Inter­nationaler sozialistischer Arbeiterkongrest. Politische Uotixen. Das russische Ausfuhrverbot ist nun doch er- folgt. Mögen diejenigen, auf deren Gewissen die be- vorstehende Hungersnoth, die damit zusammenhängende Verschärfung der Krise, und all' das Elend und der Jammer kommt, leicht an ihrer Last tragen! Wir haben den Schlag vorausgesehen und seine Folgen schon früher geschildert, als noch diese ganze, theils lächerliche, theils korrumpirte bürgerliche Presse über eine derartige Mög- lichkeit spottete, und die Prophezeiung, welche dieses Frühjahr Rudolf Meyer in einem?lrtitel über die Korn- zölle gab, mit gewissen persönlichen Angriffen erwiderte. Daß man uns Sozialdemokraten einfach ignorirt oder lächerlich findet, das sind wir ja gewohnt. Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie am Kraren hätte. Aber daß man ebenso auch gegen einen hoch- konservativen Mann vorging, der im Interesse der Mon­archie und aus patriotischen Beweggründen dasselbe forderte, wie wir, daß diese Vertreter der Monarchie und des Patriotismus, sobald sie ihren Geldsack in Ge- fahr sehen nicht einmal ihren Geldsack, nein, nur das Geld der anderen Leute darin, diesen Mann mit Schmutz bewarfen, den sie so hoch verehren mußten, wenn sie nicht die Prositwuth blind und taub gemacht hätte das, wir müssen gestehen, hat doch einen ganz besonderen Eindruck auf uns gemacht. Aber rekapituliren wir die Sache, stellen wir die Daten noch einmal zusammen! In welchem Umfange Deutschland für Deckung seines Roggenbedarfs auf das Ausland angewiesen ist, ergiebt die nachfolgende amtliche Statistik des Roggenverbrauchs in Deutschland : zum Verbrauch Davon lieferte die Einfuhr blieben Tonnen Tonnen in Prozenten 1880 81 4 809 461 758 002 15,5 188182 5 245 448 642 696 12,2 1882 83 6 077 732 541390 8,9 1883 84 5 617 704 843 790 16,0 1884 85 6 296 091 842 122 15,9 1885,86 5 256 843 432 043 8,2 1886 87 5 524 912 428 827 7,7 1887 88 6 726 753 347 914 6,1 1888 89 6 310 067 777 963 14,7 1889 90 5 053 778 677 512 13,4 Im Durchschnitt 5 397 879 629 216 11,7 Die Einfuhrprozente schwanken je nach den Ernte- Verhältnissen und den Uebergangsverhältniffen bei Ein- sührung neuer Zollsätze. Seit 1880/81 Hai sich die Bevölkerung Deutschlands um mehr als 4 Millionen Köpfe gehoben, welche bei vorsichtiger Abschätzung und Berücksichtigung des steigenden Weizenkonsums, einen Mehrbedarf von 400 500 000 Tonnen Roggen be­dingen. Würde die diesjährige Ernte, ebenso wie die 1880er Ernte, zur Deckung des jeyt vorhandenen Be­darfs auch nur rund 4 111 000 Tonnen liefern, so würde demnach für 1891/92 nunmehr eine ausländische Zufuhr von weit mehr als einer Million Tonnen nöthig sein, damit die Roggenbrot essende Bevölkerung auch nur in dem durch die hohen Preise ja wesentlich beschränkten Umfange des Jahres 1880/81 versorgt würde. Lieferant des bei uns verzehrten Roggens ist nun immer Rußland gewesen, wie aus folgenden Zahlen hervorgeht: Roggcnelnfuhr Davon russischer Roggen ' Tonnen Tonnen in Prozenten 1889 1 069 730 934 657 88,2 1890 876 448 751380 83,4 1891(V, Jahr) 349 601 314 764 90,0 Und aus Rußland kann kein Körnchen mehr kommen! Woher soll die fehlende Million bezogen werden? Aus einem anderen Land? Die Roggenproduktion der ganzen Welt betrug im Jahrfünft 1884 bis 1888 im jährlichen Durchschnitt 459 Millionen Hektoliter, davon erzeugte Rußland allein mehr als die Hälfte, nämlich 248 Mil- lionen Hektoliter, und die anderen Länder, welche Roggen erzeugen, brauchen ihn für sich selbst und behalten ihn auch im Lande. Rußland ist bisher der einzige in Be- tracht kommende Roggenexporteur der Welt gewesen. Denn alle Länder der Welt, welche überhaupt Roggen- Überschüsse aufweisen, ergeben zusammen im genannten Zeitraum im jährlichen Durchschnitt einen Roggen-Netto Export von 11,9 Mill. M.-Z., davon entfallen auf Ruß land allein 10,7 Mill. M.-Z., fast alles. Aber ein Trost ist ja geblieben, ein herrlicher Trost! Wenn die Leute keinen Roggen zu essen haben, so essen sie einfach Weizen." Und in Amerika haben wir eine so gute Weizenernte! Nach einer von Boston an dieDebats" gerichteten Korrespondenz wird der Export amerikanischen Getreides in diesem Jahre die Ergebnisse der besten Ernten über- schreiten. Mit dem Schnitt des Wintergetreidcs ist in Kalifornien , am Kansas und Kolorado bereits begonnen worden, und es wird alsdann die Ernte der Frühlings aussaat bald ihren Anfang nehmen. Man kann auf ein Ergebnis; von 170 bis 180 Millionen Hektoliter rechnen. Ungefähr 110 Millionen Hektoliter sind für den Konsum des Landes und 20 Millionen Hektoliter für die neue Aussaat nöthig. Es würde also bei dieser letzten Ernte ein Ueberschuß von 40 bis 50 Millionen Hektoliter bleiben, d. h. mit anderen Worten ein Ueberschuß, der den weitgehendsten Bedürfnissen Europas entsprechen würde. Wahrscheinlich tröstet sich mit dieser Betrachtung die Reichsregierung und läßt sich durch sie in ihrerab- wartenden Stellung" bestärken. Aber ach, auch dieser Trost ist nur schwach. Die paar amerikanischen Exporteure werden schon nicht so dumm sein, und sich die famose Gelegenheit entgehen lassen, Europa zu schröpfen. Die Ernte mag noch tausendmal besser sein, eher wird das Getreide in den Elevatoren verfaulen, ehe wir es zu billigen Preisen bekommen. Das höchste, wovon man hören wird, ist ein Corner der amerikanischen Exporteure, und damit heißt es wieder: schnalle den Schmachtriemen enger, hungerndes deutsches Volk! Es kommt dazu, daß die Schilderung desJournal des Debats " vielleicht zu optimistisch ist. Trotzdem es eine günstige Weizenernte annimmt, berechnet derPester Lloyd" ein Weizend:fizit für den Weltbedarf des Jahres 1891/92 auf nicht weniger als 34 Millionen Bushels. Eine der ersten Getreidefachzeitungen, der Cincinnati Price-Kurrend", berechnet dieses Defizit sogar auf 65 Millionen Bushels. Das russische Roggen- ausfuhrverbot entzieht mindestens 12 Millionen Doppek zentner Roggen dem Weltmarkt. Zur Deckung dieses Ausfalls würden weitere 36 Millionen Bushels Weizen erforderlich sein. Dadurch würde das Weizendefizit nach demPrster Lloyd" auf 71, nach der Schätzung des amerikanischen Fachblattes auf mehr als 100 Millionen Bushels. steigen. Dabei ist in der Berechnung des Pester Lloyd" der Ertrag der amerikanischen Ernte mit 520 Millionen Bushels eingestellt, was ein verfügbares Exportquantum von 150 Millionen Bushels darstellt, d. h. ein Quantum, welches in der Anfuhr seit 1880/81 niemals auch nur entfernt erreicht worden ist. Der Pester Lloyd" berechnet, daß die Ueberschußländer für Weizen 328 Millionen Bushels abgeben können, während die Zuschußländer 362 Millionen bedürfen. Es ist hierbei ein Weizenüberschuß berechnet aus Nordamerika und Kanada von 155, aus Rußland von 68, aus Indien von 36, aus Rumänien von 20, aus Oesterreich- Ungarn von 16, aus Argentinien und Chile von 12 und aus den übrigen Ueberschußländern Australien , Egypten, Serbien , Bulgarien , Algier von 24 Millionen Bushels. An Zuschuß bedürfen nach dieser Berechnung Eng- land 148, Frankreich 94, Italien 24, Deutschland 22, Westindien und China 20, Belgien 17, Schweiz 12, Spanien und Portugal 12, Holland 8, Griechenland und Skandinavien 5 Millionen Bushels. Als Grund für das russische Ausfuhrverbot wird von der russischen Regierung angegeben, daß infolge der schlechten Ernte das Land selbst nicht genug hat, und daß in verschiedenen Gegenden bereits die Hungersnoth grassirt. Das mag wahr sein. Aber hat man in Rußland je auf das Volk geachtet? Wir zweifeln stark, daß die russische Regierung aus derartigen menschenfreundlichen Erwägungen heraus gehandelt hat. Wir kennen sie von verschiedenen Seiten, aber von der noch nicht. Vielleicht aus Furcht vor Hungerrevolten aber vor Revolten pflegen sich ja derartige Leute nicht zu fürchten, die sind ihnen im Gegentheil oft ganz angenehm. Aber Rußland konzentrirt an der Grenze immer mehr Heeresmacht. Sollte das so zufällig sein? Sollte sich Rußland nicht über die geistreiche Vogclstrauß- Politik Deutschlands amüsirt haben, welches schließlich die Augen verschlossen hat, als ihm die Gefahr gezeigt wurde: daß es kein Brot für seine Soldaten haben wird, wenn es Krieg giebt. Sollte Rußland nicht die herrliche Gelegenheit ergreifen, und, mit dem Hunger als Bundes- genossen, Deutschland angreifen? Wir sind schlechte Patrioten, das wissen wir. Gute Patrioten sind nur jene Herren, welche Kornzölle, Schnaps- und Zuckerprämien eingestrichen haben und durch ihre Habgier Deutschland unter die russische Knuten Herrschaft bringen. Aber was sagen wir! Ist das nicht das beste, das patriotischste, was geschehen kann? Komme bald, Väterchen, komme bald, schlage unsere Heere, ziehe in Berlin ein, und erfreue uns mit den Segnungen deiner Kultur! Dann wird das Erste sein, was du thust, daß du unter den Sozialdemokraten aufräumst, diesem vaterlandslosen, unpatriotischen Gesindel. Packe sie zusammen, schicke ein paar Tausend Verführer nach Sibirien , dann wird es ruhig, und unter deinen schnaps- und juchtenduftenden Fittichen können wir ungestört und patriotisch unsere Renten genießen. Ein neues Beispiel vomgeistigen Kampf" ist bei Bielefeld , in Spenge , passirt. Nach der Schil- derung unseres Bielefelder Parteiorgans hatten die Sozialdemokraten für Nachmittag 4 Uhr eine Versamm- lung unter freiem Himmel einberufen, weil ihnen andere Räumlichkeiten nicht zur Verfügung standen. Ein Herr Pastor Jskraut hatte zu derselben Zeit und fast an dem- selben Orte Einladungen zu einem Missionsfest ergehen lassen. Der Raum, auf welchem die Sozialdemokraten ihre Versammlung abhielten, war durch einen Lattenzaun abgeschlossen worden. In diesen hatte sich auch Herr Pastor Jskraut mit etlichen Genossen begeben. Als die Sozialdemokraten zur Bureauwahl schritten, verlangte der Herr Pastor, daß seine zu dem Missionsfest ge- kommenen Anhänger zur Abstimmung mit zugelassen werden sollten. Als dies sozialdemvkratischerseits ver- weigert wurde, brachen die Konservativen den Zaun nieder und schlugen mit Knütteln auf die sozialdemo- kratischen Versammlungsbesucher ein. Die anwesenden Gensdarmen sind dagegen nicht eingeschritten. Die Sozialdemokraten verließen darauf die Versammlung. Auch hierbei kam es zu verschiedentlichen Prügeleien zwischen den frommen Missionskindern und den Sozial- Demokraten. Und nun lese man die Schilderung dieser Gemein- heiten und Rohheiten, geübt unter Anführung einesNach- olgers Jesu", in dem christlichen, dem frommen, dem edlenReichsboten": Nicht allein die Spenger Bauern, wie man zuerst meinte, nein, die ganze Gegend um Spenge war vereinigt, um die Sozialdemokraten aus Bielefeld mil ihren Führern und Ver- fiihrcrn, den Frauen und Mädchen, wie die Sozialdemokraten aus Bünde , Dornberg, Herford u. s. w. unter Posaunenschall aus ihren Grenzen zu blasen. Und was man sich so vor- genommen, es wurde am letzten Sonntag in wunderbar erhabener Weise ausgeführt. Man habe schon in der Woche allerhand hören lassen, und sollen daraufhin die Spenger und Enger Sozialdemokraten selbst schon gar nicht da gewesen