Berliner

Volks- Tribüne

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Sozial- Politisches Wochenblatt.

Die Berliner Dolks Tribüne" erscheint jeden Sonnabend früh. bounementspreis für Berlin   monatlich 50 Pf. pränumerando( frei in's Haus). Einzelne Nummer 15 Of.

Durch jede Post- Anstalt Deutschlands   zu beziehen.( Preis viertelj. 1 mr. 50 pf.)

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Redaktion und Expedition: SO.( 26), Elisabeth- Ufer 55. Ausgabe für Spediteure: ,, Volksblatt", Beuthstr. 3.

Inserate werden die 4 spaltige Petitzeile oder deren Raum mit 20 pf. berechnet. Dereins- Anzeigen: 15 Pf. Arbeitsmarkt: 10 Pf. Inseraten- Annahme in der Expedition: Elisabeth- Ufer 55 Die ,, Berl. Volks- Tribüne" ist unter Nr. 893 der Zeitungs- Preisliste eingetragen.

Sonnabend, den 19. September 1891. Parteigenoen! Sophie Günsburg. Politische lage, welche dem Parteitag unterbreitet wird, und in der in§ 8, Notizen. Der Verfall des Staatskredits.- Die Ent- Absatz 2 der Partei- Organisation vorgeschriebenen Beröffent­Scheidung über Krieg und Frieden im Programm- lichung Aufnahme finden. entwurf. I. Literarisches. Die Adresse des Lokalkomitees in Erfurt  , bei welchem die Gedicht. Anmeldung der Vertreter stattzufinden hat, wird später bekannt Novelle. Der Kampf eines Konser- gemacht werden. vativen gegen die Getreidezölle. 11. Lebenshaltung und Lohn der Arbeiter im Mittelalter.  - Schwere Aufgabe. Verschiedenes.

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Die Postabonnenten unseres Blattes

erinnern wir daran, vor Monatsschluß ihr

Abonnement zu erneuern,

da dasselbe von der Post sonst als erloschen betrachtet wird. Postzeitungskatalog Nr. 893.

Preis pro Quartal Mk. 1,50( bei Selbstab­holung), durch Briefträger ins Haus 1,65 Mk. Die Kreuzbandabonnenten

bitten wir, wenn möglich, vom 1. Oftober an

direkt von der Postanstalt zu beziehen, da die Expedition sich dadurch bedeutend vereinfacht.

Parteigenossen!

In unserer Bekanntmachung vom 3. Juli d. J., welche die Veröffentlichung des Programmentwurfs enthielt, war als vor­läufiger Termin für den diesjährigen Parteitag der 10. Oktober in Aussicht genommen. Mittlerweile ist nun der Tag für die sächsischen Landtagswahlen bekannt geworden und werden die­selben am 13. Oktober stattfinden.

Von Seiten der sächsischen Genossen ist deshalb angeregt worden, den Parteitag um einige Tage zu verschieben, damit unsere Genossen Gelegenheit haben bis zum letzten Augenblick ihre agitatorischen Kräfte im Dienste der Wahlbewegung aus­nüzen zu können.

Bei der Bedeutung, welche die sächsischen Landtagswahlen für unsere Partei haben, glaubte die Parteileitung den Wunsch der Genossen brrücksichtigen zu sollen und berufen wir deshalb den Parteitag auf:

Mittwoch, den 14. Oktober, nach Erfurt  

in das Lokal zum Kaisersaal", Futterstraße, ein. Als provisorische Tagesordnung ist festgesetzt: Mittwoch, den 14. Oftober, Abends 7 Uhr, Vorversamm­lung. Konstituirung des Parteitages. Festsetzung der G2­schäfts- und der Tagesordnung. Wahl einer Kommission zur Prüfung der Vollmachten.

Donnerstag, 15. Oktober und die folgenden Tage: 1. Geschäftsbericht des Parteivorstandes.

Berichterstatter: I Auer. 2. Bericht der Kontrolleure durch G. Schulz. 3. a) Die parlamentarische Thätigkeit der Reichstagsfraktion.

Berichterstatter H. Molkenbuhr.

b) Die Taktik der Partei.

Berichterstatter: A. Bebel. Berichterstatter: W. Liebknecht. 5. Berathung derjenigen Anträge der Parteigenossen, welche bei den voraufgehenden Punkten der Tagesordnung nicht bereits ihre Erledigung gefunden haben.

4. Berathung des Programm- Entwurfes.

6. Wahl der Parteileitung und Bestimmung des Ortes, wo sie ihren Sitz zu nehmen hat.

Parteigenossen! Es bedarf feines besonderen Hinweises auf die Wichtigkeit des bevorstehenden Parteitages. Die Thatsache allein, daß auf ihm die Programmrevision, welche die Partet schon seit Jahren beschäftigt, zum Abschluß und ein neu formu­lirtes Programm zur Annahme gelangen soll, zeugt für die hohe Wichtigkeit, welche der Parteitag in Erfurt   für die Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland   haben wird. Der Parteitag ist die oberste Vertretung der Partei. Dort ist der Platz, wo alle Wünsche und Beschwerden von den Ver­tretern der Gesammtpartei eine den Partei- Interessen ent­sprechende sachgemäße Würdigung und Beurtheilung finden werden.

Gemäß den Bestimmungen unserer Partei- Organisation er­suchen wir die Parteigenoffen, welche Anträge an den Parteitag stellen wollen, dieselben an die unten angegebene Adresse des Parteivorstandes einzusenden. Da vor der Veröffentlichung erst eine Ordnung und Sichtung der Anträge nothwendig ist, so sind die Antragsteller gebeten, mit der Einsendung von Anträgen nicht bis zur letzten Stunde zu warten, sondern dieselben bis spätestens Mittwoch, den 30. September, an den Parteivorstand gelangen zu lassen.

Besonders machen wir noch darauf aufmerksam, daß auch solche Anträge zum Parteiprogramm, welche bereits in der Parteipreffe zum Abdruck gelangt sind oder in den nächsten Wochen etwa veröffentlicht werden, in einer zur Verhandlung geeigneten Formulirung an uns eingesandt werden müssen.

Nur diejenigen Anträge, welche rechtzeitig und direkt an den Parteivorstand eingesandt werden, können in die gedruckte Bor

V. Jahrgang.

Mandatsformulare sind durch das Parteibüreau Berlin SW., Razbachstraße 9,

wohin auch alle übrigen Zuschriften, Anfragen 2c. zu richten sind, zu beziehen. Mit sozialdemokratischem Gruß Berlin  , 5. September 1891. Der Parteivorstand.

+ Sophie Günsburg.

Seliwerstoff durch den Nihilisten Padlewski in Paris  , die Bombenprobe von Zürich   und vieles Andere. Während dieser ganzen Zeit nun wurde, wenn von den Führern der Bewegung die Rede war, in allererster Linie immer auch Sophie Günsburg genannt. Von den anderen wußte man, daß sie von sicherem Orte, von Paris   oder der Schweiz  aus, die Figuren dirigirten; Sophie Günsburg aber war der leibhaftige Ueberall und Nirgends. Die Krapotkin's und Sassulitsch's und Mendels­sohn's wurden von der russischen Geheimpolizei immer nur im Auslande verfolgt und gesucht; die Günsburg aber wußte man allezeit auf der Reise, sie war Meisterin in der Kunst der Verkleidung und spielte mit ihren 22 Jahren die Rolle des Studenten und der Bäuerin, des Popen und des Stabsoffiziers, des Kaufmanns und des Advokaten gleich gut. Hundertmal überschritt sie so die russi­sche Grenze und trieb sich im Innern des unge­heueren Reiches selbst ungefährdet umher, überall organisirend, befeuernd und schürend bis endlich die rastlose Emissärin, die wohl ihres Gleichen noch nicht gehabt hat, an einer kleinen Vergeßlichkeit zu Grunde ging. Sie war einige Monate nach Borki in einem St. Petersburger Laden ge­wesen und hatte dort einen kleinen Einkauf besorgt. Auf dem Heimwege bemerkte sie mit Entseßen, daß sie in dem Laden ihre Börse vergessen hatte und der Schrecken war wahrlich sehr am Plaze, denn die Börse enthielt ungeheuer viel Wichtigeres, als Geld, Personenlisten und höchst gravirende Korrespondenzen waren darin. Sie eilte in den Laden zurück,- zu spät! Man hatte die Börse bereits geöffnet und durchsucht, und als Sophie Günsburg wieder in den Laden trat, standen schon Polizisten hinter ihr und sie wurde verhaftet.

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Aus St. Petersburg   kommt die Nachricht,| späteren Affairen: die Ermordung des Generals daß Sophie Günsburg die in der nihilistischen Agitation der letzten Jahre eine Rolle gespielt hatte und schließlich in St. Petersburg   festgenommen und verurtheilt worden war, durch Selbstmord ihrem Leben ein Ende gemacht habe. Es ist noch erinn rlich, wie im Gefolge der Ermordung Alexan­der's II. zugleich auch für die Revolutionspartei eine Katastrophe hereinbrach. Der Attentäter wurde am 13. März gleich an Ort und Stelle verhaftet und wenige Monate hernach wurden Sophie Perows­kaja und Peter Scheljaboff als Leiter und Führer, der Chemiker Michael Kibaltschitsch als Verfertiger der Bombe und der Student Michael Ryssakoff als derjenige, der sie geworfen, hingerichtet; die einzige Jeffe Helfemann wurde, da sie bei Fällung des Todesurtheils sich in anderen Umständen be­fand, vom neuen, dem gegenwärtigen, Czaren zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken begnadigt. Der größte Erfolg aber, den damals die russische Polizei durch die Ver= haftung der Attentäter erlangte, bestand darin, daß sie zum ersten Male in die Zusammensetzung und den Dislokationsplan der nihilistischen Partei ge­nauere Einsicht erhielt, und damit schien für die revolutionäre Bewegung thatsächlich das Ende ge­kommen zu sein. Zwar bliẞte noch da und dort der Dolch und wurden Revolverschüsse abgefeuert: ein Mirski ging dem General Loris- Melikoff an den Leib, Oberstlieutenant Sudejfin wurde getödtet, in dieser und jener Stadt fand man gefürchtete Polizei­chefs, verhaßte Beamte, verrätherische Denunzianten todt; aber es war doch nur wie der Nachhall des großen Schlachtendonners. Auf jede Regung der Nihilisten wurde mit zahllosen Verhaftungen ge­antwortet und in St. Petersburg   und Kiew  , in Kischenew und Odessa   wurde in einer Art und Weise justifizirt und mit Verschickungen nach Si­ birien   vorgegangen, daß endlich Ruhe eintrat und die letzte Kraft des Nihilismus ein für allemal gebrochen schien. Da lebte aber plöglich die Be­wegung mit ungeahnter Heftigkeit wieder auf, so daß man sich in den letzten vier Jahren in jene Zeit zurückversett glauben konnte, wo Alexander II.  gleich einem gehezten Wild, überall von erbitterten Feinden umstellt, stündlich auf den Tod gefaßt sein mußte. Eine ganze lange Reihe von That­sachen bezeugten das Wiedererwachen des unerbitt­lichen Kampfes. Da war die berühmte Verschwö­rung des Friedensrichters Bardowski in Warschau  ; an dem Tage, da der Zar seinen feierlichen Einzug in Warschau   halten wollte, sollte beim Vorbei­passiren am Bardowski'schen Hause eine Mine springen: Bardowski und einer seiner Genossen, ein Offizier, wurden gehängt, über zwanzig Theil­nehmer an der Verschwörung zu schrecklichen Strafen verurtheilt. Kurz darauf hieß es, daß der Zar in Gatschina mit eigener Hand einen Bediensteten oder einen Offizier, der sich verdächtig gemacht, getödtet habe, und wieder nach einiger Zeit folgte das Eisenbahnunglück von Borki. Eisenbahnunglück wurde es genannt, aber Niemand zweifelte, daß es eine von den Nihilisten gelegte und zur Explosion gebrachte Mine war, die das Unglück bewirkte; und daß der Nihilismus diesen Versuch noch lange nicht als seinen letzten betrachtet, das beweisen die

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.. Von dem Vorlaufe ihres Prozesses drang Manches in die Deffentlichkeit. Das Neue Wiener Tagebl.," welches die Verantwortung für die Einzelheiten dieses Berichts zu tragen hat, erzählt, daß sie unzählige Qualen zu erdulden hatte, daß sie aber alle Leiden ertrug, ohne sich eine Aussage gegen ihre Mitverschworenen abzwingen zu lassen. Sie wurde zum Tode verurtheilt und erregte es höchstens Aufsehen, als man, statt mit der Hinrichtung vor­zugehen, sie begnadigte; Sophie Günsburg wurde auf die Festung Schlüsselburg   gebracht, die auf einer Insel inmitten der Newa   gelegen ist; hier ist der Aufenthalt ein so schrecklicher, daß die Festungs­garnison von drei zu drei Wochen gewechselt werden muß, weil die Soldaten infolge der unerträglichen Feuchtigkeit erkranken, und hier werden die meist gravirten politischen Verbrecher in unterirdischen Kerkern, in welche das Newawasser in ganzen Strömen hineindringt, gefangen gehalten. In den Schlüsselburger Gefängnissen sterben die Gefangenen gewöhnlich nach drei, vier Monaten, und zwar im Wahnsinn. Sophie Günsburg ist, wie nun gemeldet wird, eines anderen Todes gestorben. Sie hat sich, so lautet die Kunde, mit einer alten stumpfen Scheere, welche sie sich zu verschaffen gewußt hatte, getödtet, obgleich beständig eine Wache vor ihrer Thüre hin und her ging und öfter hineinsah. Sie fürchtete durch die Martern wahnsinnig zu werden und sich dann Geständnisse entreißen zu lassen.