Sie lachte heiser, dann riß sie die Augen weit mr und fixirte mich. „Haben Sie Eltern?" wiederholte ich meine Frage. Sie lächelte mit spöttischem Ausdruck, als ob sie sagen wollte:„Was für komische Fragen der Mensch stellt!" „Eine Mutter' Hab' ich," antwortete sie.„Weshalb fragst Du?" „Und wie alt sind Sie?" „Im sechzehnten Jahre," sagte sie ohne Besinnen — offenbar war ihr diese Frage schon oft gestellt worden. „Na, nu vorwärts, marsch, sonst erfriert man hier noch", fuhr sie der Polizist an. Sie richtete sich an dem Zaune hoch und schwankte die Gasse hinunter, nach der Polizei zu. Ich aber trat durch die Gartenpforte in mein Haus und fragte, ob meine Töchter zu Hause wären. Man sagte mir, daß sie irgendwo zum Souper gewesen wären, sich sehr gut amüsirt hätten und bereits schliefen. Am nächsten Morgen wollte ich nach der Polizei gehen, um zu hören, was mit der Unglücklichen geworden. Ich hatte mich bereits früh zum Ausgehen bereit gemacht, als bei mir einer jener Adligen vorsprach, die infolge ihrer Charakterschwäche von dem glatten Wege des ihnen zur Gewohnheit gewordenen Herrenlebens abgeirrt waren und nun abwechselnd sich bald aufrafften, bald wieder zu Fall kamen. Ich kannte ihn schon seit drei Jahren. In diesen drei Jahren hatte er bereits zu verschiedenen Malen alles, was er besaß, und was er am Leibe hatte, vertrunken, und auch diesmal befand er sich wieder in einer ähnlichen Lage: er nächtigte in Rschanows Haus und brachte die Tage zumeist bei mir zu. Er trat mir in der Hausthür entgegen, und ohne auf das zu hören. was lch ihm sagte, begann er zu erzählen, was in der letzten Nacht bei ihnen in Rschanows Haus geschehen war. Mitten in seiner Erzählung hielt er plötzlich ein, brach in Schluchzen aus und kehrte sein Gesicht der Wand zu. Er ist ein alter Mann, der viel vom Leben gesehen hat und nicht leicht von etwas ergriffen wird. Folgendes war der Inhalt seiner Erzählung, die sich, als ich an Ort und Stelle nachforschte, als vollkommen wahrheits- getreu erwies. Ich habe verschiedene neue Einzelheiten. die ich selbst noch in Erfahrung brachte, hier sogleich mit eingefügt. Unter den häufig wechselnden, theils männlichen und theils weiblichen Nachtgästen des Quartiers Nummer 32, iü welchem sich mein Freund für 5 Kopeken täglich herbergte, befand sich auch eine Wäscherin, eine sanfte, hübsche, jedoch kränkliche Blondine von etw 30 Jahren. Die Wirthin des Quartiers lebte mit einem Fährmann in wilder Ehe, der im Sommer ein Boot hält und im Winter vom Vermiethen des Quartiers seinen Unterhalt bestreitet. Das Lager ohne Kissen kostet 3 Kopeken, das Lager mit Kissen 5 Kopeken. Die Wäscherin lebte bereits seit einigen Monaten in diesem Quartiere, in letzter Zeit jedoch hatte sie sich dadurch unbeliebt gemacht, daß sie hustete und die andern Weiber im Schlafe störte. Eine achtzigjährige, halbverrückte Alte, die gleichfalls ein ständiger Gast dieses Quartieres war, war der Wäscherin ganz besonders feindlich gesinnt und setzte ihr zu, wo sie nur konnte, weil sie die ganze Nacht hindurch„külstere wie ein Schaf." Die Wäscherin nahm alles schweigend hin— sie war seit einiger Zeit das Quartiergeld schuldig und fühlte, daß sie im Unrecht war. Sie ging immer seltener und seltener zur Arbeit— die Kräfte reichten nicht hin— und so ward ihre Schuld bei der Wirthin immer größer. In der letzten Woche war sie gar nicht ausgegangen und hatte der Alten, welche gleichfalls zu Hause geblieben war, durch ihren Husten das Leben vergiftet. Vor vier Tagen nuu hatte die Wirthin der Wäscherin das Quartier aufgekündigt: sie war bereits sechzig Silberkopeken schuldig, und es war keine Aussicht vorhanden, daß sie dieselben jemals würde bezahlen können. Jeder Platz war Geld werth, denn die Kojen wurden gut besucht. Die Weiber aber hörten nicht auf. sich über den ewigen Husten der Wäscherin zu beklagen. Als die Wirthin der Wäscherin gekündigt hatte, gerieth die Alte ganz außer sich vor Freude und stieß die Wäscherin auf den Hof hinaus. Die letztere ging, nach einer Stunde jedoch kehrte sie wieder zurück, und die Wirthin hatte nicht den Muth, sie nochmals hinauszu- werfen. Auch am zweiten und dritten Tage trieb sie sie nicht fort. „Wohin soll ich denn gehen?" hatte die Unglückliche gefragt. Am dritten Tage jedoch holte der Liebhaber der Wirthin, ein eingeborener Moskauer, der da weiß, was sich gehört und die Ordnung der Dinge kennt, einen Polizisten herbei. Der Polizist erschien, mit Säbel und Pistole bewaffnet, in dem Quartier und führte die Wäscherin, indem er ihr in höflicher Weise irgend etwas klar zu machen suchte, auf die Gasse hinaus. Es war ein klarer, sonniger, dabei jedoch frostiger Märztag. Kleine Wasserbäche waren hier und da sichbar, die Hausknechte hackten das Eis auf dem Trottoir auf, und die Schlittendroschken glitten über die glatte Schnee- decke hin. Die Wäscherin ging auf der Sonnenseite die Gasse hinauf, erreichte die Kirche und ließ sich, gleichfalls aus der Sonnenseite, auf den Kirchenstufcn nieder. Als jedoch die Sonne hinter den Häusern verschwand und die Wasserbäche sich mit einer glitzernden dünnen Eisscheibe bedeckten, begann die Wäscherin ganz unerträglich zu frieren. Sie erhob sich und-schleppte sich vorwärts... wohin? Nach Hause, in jenes einzige Haus, das sie in letzter Zeit gekannt, wo sie die letzten Monate zugebracht hatte. Ab und zu blieb sie stehen, um Athem zu schöpfen. Als sie endlich an das Haus gelangte, war es dunke geworden. Sie lenkte in den Thorweg ein, glitt aus und fiel mit einem Seufzer zu Boden. Der Eine und Andere ging vorüber und dachte: „Eine Betrunkene." Ein Dritter stolperte über sie und sagte zum Hausknecht:„Was für eine Säuferin liegt denn da im Hausflur? Bringt sie doch weg, ich wäre beinahe über sie gefallen. Den Hals kann man sich noch brechen." Der Hausknecht sah nach der Wäscherin— sie war tobt. Soweit die Erzählung meines adeligen Freundes. Die Demokratie i« der Schwei ;«ad die Arbeiterbewegung.*) Von Adam Maurizio . I. Klassen, denen in der Entwicklung der Gesellschaft andere neu auftretende die Herrschaft entreißen, schreiben oft in den kritischen Zeiten ihres nahen Unterganges Forderungen auf ihre Fahne, die weder der Lage im erwähnten Moment entsprechen, noch sonstwie aus ihrem Interesse ableitbar erscheinen, vielmehr radikale Aussprüche des gefährlichen Gegners sind, im weitgehenden Sinne des Wortes. Diese Art des Spekulirens, des Entwerfens von Plänen für eine neue Welt gliche einer Verzicht- leistung auf die Vortheile, die der betreffenden großen Jntereffentengruppen ihre gesellschaftliche Stellung ver- schafft, stände die Herrschaft unbestritten da, wären keine Nebenbuhler vorhanden. Ein solches ideelles Streben zeigen nicht nur bestimmte Gesellschaftsklassen mit scharf umgrenzten greifbaren Forderungen, die sie zu verleugnen scheinen, sondern auch Gruppen, die eigenen Bekenntnissen zufolge über den Kämpfen stehen und denen die Marsch- route vom Himmel vorgeschrieben ist, Pfaffen aller Be- kenntnisse. Jesuiten , die den Königsmord als Gott ge- nehmes Mittel gegen die Uebergriffe des Staates dem Volke empfehlen und Einführung der Volksgesetzgebung anrathen, mögen als Beispiel der letzteren hier eine Stelle finden. Ihnen gehören auch katholische und protestantische Reformparteien an, die den Boden der christlichen persönlichen Mildthätigkeit sammt der Rum- fordsuppe und heuchlerischen Philantropie als unzweck- mäßig aufgeben und Anhänger der Sozialreform werden. Volksbestimmungsrecht statt der unwiderlegbaren kirch- liehen Autokratie, Sozialreform an Stelle des protestan - tischen Muckers, eines„Armenvaters" setzen, heißt die Selbstverleugnung weit treiben. Sie hat ihre Gründe. Jesuiten im Kampfe gegen die Reformation mußten dem autonomen Patrizierthum der Städte und der hungernden Landbevölkerung entgegenkommen; den Protestanten von heute zählt jeder Einmaleinskenner auf, daß eine auf breite Basis gestellte Sozialreform mehr Nutzen stiften kann, als die christliche Philantropie seit Erschaffung der Welt jemals gethan. Das beste daran ist das offene Geständniß beider, daß die Kirche ohne sozialen Inhalt ihre Existenzberechtigung verloren. Der Opfersinn weiß sich zu legitimiren. Und wenn in diesen Nahmen Ver- treter der verschiedenen Religionen und Sekten wandeln, die in Jahrhunderte geübter Anpassungsfähigkeit über den erhitzten Köpfen das unversehrte Dogma hochtragend, wohl immer auf die Seite des Siegers treten, wenige aber klarbestimmte Forderungen revolutionärer Elemente in ihrer ganzen deutungslosen Nacktheit zu vertreten wagen, wie müssen sich dann Gesellschaftsklassen verhalten, da hier wirthschaftliche Gründe noch beweiskräftiger, weil unmittelbar mitsprechen? Diese, zurückblickend auf eine Reihe verwirklichter Ziele, nehmen Abschied von einem Gebäude, dessen Vervollkommnung bis ins Einzelnste ihre Existenz ausfüllte. Nun stürzt es zusammen, wird verlassen, und jede Reparatur, in anderen Zeiten unter- nommen als der Entwurf entstand, richtet es nicht mehr auf. Zeitgenössischen Bedürfnissen kann die Ruine auch restaurirt nicht dienen und zum Spott wird ihr über'm Dach ein Netz von Telegraphendrähten gespannt. Das Kleinbürgerthum hat in der theoretischen Ent- Wicklung der Demokratie während der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Uebertünchung einer Ruine vor- genommen. Die autonome Gemeinde des Mittelalters— und als Unterlage galt ihr die Produktion für den Selbstbedarf, Maare war nur der überschüssige Theil der Produkte— hatte in den Köpfen der konsequentesten Verfechter der Demokratie Riesengestalt angenommen; das freie Versügungsrecht der stupiden Genoffenschaft erweitert sich zur direkten Gesetzgebung durch das Volk, dessen schließliche Entfaltung die Staatslosigkeit herbei- ühren soll. Wahrscheinlicher jedoch, daß die kleinbürger- liehe Kühnheit ihre Waffen am zentralisirten Staat zer- bricht, ehe sie den vergessenen Traum ins Leben weckt. Es war ein tödtlicher Haß gegen den Bourgeoisstaat. der die Idee der Uebertragung der Gesetzgebungsarbeit ins Volk gebar. Die Volksgesetzgebung sollte der Macht Zer Bourgeoisie Trotz bieten, den Staat dezentralisiren. Die schweizerischen Demokraten geben diesem Wunsche die Form: Dezentralisation in der Zentralisation. In Frankreich und dem forffchrittlichen Deutschland ind die Tendenzen längst überstanden, wenn sie auch im ersteren durch den BoulangismuS mit seinem Referendum und Revisionsbegehren für kurze Zeit auf- *) Der Aufsatz ist gewissermaßen eine Antwort aus de» Artikel von H. M'. über die direkte Gesetzgebung: allerdings eint uns der Verfasser etwas über das Ziel hinauszuschießen. ir werden auf das Thema wieder zurückkommen. D. R. leuehten sollten. Nicht so in der Schweiz , wo der Kapitalismus vergebens gegen das Mittelalter kämpft und, statt der Allmend und dem Kleinbetrieb den offenen Vernichtungskrieg zu erklären, mit ihnen paktirt, mannig- faltige Kompromisse eingeht, und sich auf diese Weise günstige Entwicklungsbedingungen schafft. Rußland und die Schweiz sind die einzigen Länder Europas , in denen die Allmend noch einen mächtigen Einfluß auf die Ge- staltung des Staates ausübt. Die Naturalwirthschaft ist die treue Stütze der stupiden Despotie, und das Re- giment der väterlichen Willkür wird erst mit ihrem Untergang endgültig verschwinden. Die Schweiz weist aber die ganze Skala gesellschaftlicher Produktionsweisen auf, die„friedlich" neben einander bestehen und die ihnen am besten zusagende Staatsform in den Kantonseinrich- tungen finden: Naturalwirthschaft mit urwüchsigem Gemeineigenthum und ohne solches, Allmend und Groß- industrie(Kanton Glarus ), Parzellbauerthum verbunden mit Hausindustrie und ohne diese, Kleinbürgerthum aller Art, Manufaktur und kapitalistischer Betrieb. Es fehlt nur der Großgrundbesitz zur Vervollständigung dieser einzigen Sammlung ökonomischer und politischer Rari- täten. Aber auch das Vorhandene ist sehenswerth. Wie kleinlich und engherzig die„Staatsideen" der Kantone, so anekdotenhaft ihre neuere Geschichte. Der Staat und die Produktionsweise stellen hier ein Beisammensein dar, in dem beide ihren Charakter wechseln, ein Mal Parasit, ein anderes Wirth des anderen sind und umgekehrt. Das Kleinbürgerthum und die immer noch bedeuten- den Reste des Gemeindebesitzes zeigen das am Anfange erwähnte Verhalten von sozialen Gruppen, die dem Unter- gange entgegensehen. Dies blieb den bewußten sozialisti- schen Elementen nicht verborgen und der in Bern er- scheinende„Schweizerische Sozialdemokrat" vertrat vor Kurzem in anderer Form den gleichen Standpunkt. Das Bestreben, eine Kollision der veralteten Zustände mit der revolutionären Bewegung des Jahrhunderts zu schlichten, drängt den Demokraten selbst die Behauptung auf, daß sie vor allem mit dem sozialen Gehalt ihres Programms an die Mitwelt sich richten, klarer gesagt, vom Pump leben, so lange der Kredit bei der Sozial- demokratie währt. Es ist unmittelbar einleuchtend, daß die Abhängigkeit von unpersönlichem Kapital der früheren Schlafstätte eines Handwerksgesellen vorzuziehen ist. Lockerung des Familienbandes, der Fesseln, die dem Individuum irgend eine sich selbst genügende Brüderschaft schmiedete, begrüßt der Arbeiter als Zeichen des künftigen Sieges des Pro- letariats. Das Ideal des Kleinbürgers, aus einem paar Meter breiten Streifen schön beisammen lagern, dort geboren werden, den Boden zeitlebens düngen, und endlich mit der an die künftige Generation gerichteten Mahnung, Gleiches zu thun, zu sterben— hat für uns alle Poesie verloren. Aus dem Staat vor der Bourgeoisrevolution, dem die Entscheidung über Krieg und Frieden zufiel, und der wenn es hochging, den Unterhalt der Straßen beauf- sichtigte, alles Andere den verschiedenen Korporationen überließ, entwickelte sich der moderne, der Ausdruck des ikapitalisteninteresses. Zum Schutze des Eigenthums ins Leben gerufen, herrscht er mittelst des Parlamentaris- mus und des Mehrheitsprinzips; die Austragung des Konflikts zwischen den Produktivkräften und den von ihnen geschaffenen Produktionsverhältnissen wird seine Auflösung herbeiführen. Mit der Lösung dieses Antago- nismus— nicht im Sinne von individuellen, sondern des durch Individuen vertretenen gesellschaftlichen— chließt die Vorgeschichte der Menschheit ab.(Marx.) Die Geschichte des Sozialismus bekräftigt die Richtig- keit des Ausspruchs. Das Proletariat trägt eine ganze Welt auf seinen Schultern. Man bemerke doch den Ab- tand zwischen der Gründung des Weitling'schen Bundes zer Gereichten und der internationalen Regelung der Arbeitszeit, der Verständigung der im gleichen Berufe beschäftigten Arbeiter auf internationalen Fachkongressen. Nun, die Täfelchen mit den Namen der verschiedenen Nationen verschwinden trotz dem Elsaß-Lothringischen Paßzwang und Schutzzoll. Die Gesellschaft zerstiebt in Gruppen von Fabrikinteressenten. Differenzirung der Massen, neue Gruppirungen. Das Proletariat hat ihre Synthese gestellt, sie wurde ihm gegeben durch die klar erkannten ökonomischen Gesetze. Die Wissenschaft gab ihm nicht nur die wirksamsten Waffen in die Hand, andern läßt auch die Anlage des neuen Zustandes muth- maßen: das sozialistische Programm erweitert zu einer Summe von wissenschaftlichen Erkenntnissen, mit allen den fruchtbringenden Anwendungen, wie sie heute schon hie und da sichtbar werden. Für die Realisirung setzt >as Proletariat sein Blut ein. Gewiß, ein neuer Völker- mnd. Für den Kleinbürger gäbe er eine zu große Familie; er begnügt sich, das Unabwendbare in die irophetischen Worte einer demokratischen Halluzination zu kleiden, welche eben ein Symptom seiner Krankheit ist. O der billigen Demagogie! Die landläufigen Phrasen von der Volksanschauung, dem Volksgeist. Ueberein- timmung des Gesetzgebers mit dem geltenden Recht, vidersprechen schnurstracks den wissenschaftlichen Grund- lagen des Sozialismus, schaden den praktischen Erfolgen, und doch ist die schweizerische Arbeiterbewegung mit ihnen gesättigt. In ihrem Verfassungsaberglauben gießt es für die Demokraten keine vor der Volksversammlung nicht spruch- reife Angelegenheit. Entscheidung über medizinische und hygienische Maßregeln, wie Impfzwang, Freigebung der ärztlichen Praxis, Vorkehrungen gegen Einschleppung von
Ausgabe
5 (21.11.1891) 47
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten