No. 212.

Dienstag, 9. Dezember 1884.

1. Jahrg.

Berliner Volksblatt.

Organ für die Interessen der Arbeiter.

Das Berliner Volksblatt"

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erscheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin   frei in's Haus vierteljährlich 4 Mart, monatlich 1,35 Mart, wöchentlich 35 ẞf. Postabonnement 4 Mart. Einzelne Nr. 5 Pf. Sonntags- Nummer mit illustr. Beilage 10 Pf. ( Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1885 unter Nr. 746.)

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Redaktion und Expedifion Berfin SW., Bimmerftraße 44.

Optische Täuschungen.

Freifinnige und demokratische Blätter trösten sich immer bamit, daß der Reichstag   eine durchaus oppofitionelle Kör perfchaft sei, weil sich in den ersten Sizungen auch das Zentrum zur Linken gehalten und so natürlich den Schwer­punkt der Entscheidung dorthin verlegt hat. So viel Illusionen nach so vielen Erfahrungen!" möchte man ausrufen. Wer heute noch das Zentrum zu den Bar­teien rechnet, die aus prinzipiellen Gründen sich der Oppo­fition anschließen, der verkennt vollständig die politische Situation.

Die Flitterwochen des Kulturkampfs find für Zentrum und für die Nationalliberalen vorüber; sie werden auch nie­mals wiederkehren. Die Regierung braucht für gewisse Fragen eben eine Majorität und sie schafft sich dieselbe wie fie fann; wenn Niemand Anderes als das Zentrum die Mannschaften zur Majorität stellen kann, so wird eben das Zentrum bazu herangezogen, natürlich nicht ohne gewisse Ronzessionen, wie wir dies nun schon mehrmals gesehen haben. Daß zu Anfang der neuen Legislaturperiode das Zentrum für den Diätenantrag gestimmt hat; daß es beim Windthorst'schen Antrag mit der Linken eine Majorität bil­bete, das veranlaßt Herrn Richter und Genossen, über die oppofitionelle Majorität des Reidstages" zu jubeln. Nun, biefer Jubel war etwas früh und wird bald verstummen.

Ein Redner hat dieser Tage gefagt, das Zentrum wechsele feine Haltung während einer Legislaturperiode in jeber Session; in der ersten gebe es sich zum Schein demo­fratische Alluren, um in der Oppofition seine Macht der Regierung zu zeigen; in der zweiten Session trete es mit der Regierung in Unterhandlungen, und in der britten trete die Versöhnung ein. Das wird auch so stimmen. Der da glaubt, die geschickten Schachzüge und die parlamentarische Strategie des Herrn Windthorft hätten andere denn Nüz­lichkeitsgründe, der wird wohl bald einsehen, daß er sich rt. Herr Windthorst ist nicht der Mann der Ideale; er will seiner Bartei praktische Vortheile schaffen.

Die Macht des Zentrums beruht zum nicht geringsten Theil darauf, daß die von ihm repräsentirten Voltsmassen seine Opposition ernsthaft auffaffen. Sie halten die demokratifiren­den Phrasen der Zentrumsführer für das Wesentliche bei der ganzen Sache, während die oppofitionelle Phraseologie der

nach konservativ, muß es immer als Gegner modernen Geistes auftreten, in welcher Form er auch erscheine. Deshalb find auch die Zentrumsführer bemüht, den zahlreichen Arbeitern, die sich in ihrer Gefolgschaft befinden, jedes selbstständige Denken abzuschneiden und ihnen als größte irdische Tugend die Entsagung zu predigen, den Verzicht auf den Genuß der Behaglichkeit irdischen Lebens.

Man sollte nicht glauben, daß eine solche Lehre heute och ernsthaft vorgetragen werden könne. Und doch ist das möglich. Viele Tausende von Arbeitern lassen sich von Windthorst und Genossen erzählen, daß sie nur zum ,, Eat­sagen" bestimmt seien, und glauben es auch. Allerdings steht dieser Glaube nicht sonderlich fest.

Er wird indessen bald gänzlich erschüttert sein, denn sein großer Feind ist der stets wachsende Verkehr, der neue und moderne Ideen in jene Gegenden bringt, wo die vom Zentrum geförderten Vorurtheile noch dominiren. Wenn die Arbeiter sich in ihrer Masse den neuen Zeit­gedanken werden angeschlossen haben, dann ist auch die Macht des Zentrums gebrochen. Denn die Arbeiter sind doch nicht so thöricht, um nicht zu sehen, daß Windthorst und Genossen heute diefelben Pfade wandeln, die früher der Nationallibe­ralismus gewandelt ist.

Statt den Aberglauben zu verbreiten, das Zentrum fei eine halbdemokratische, oppositionelle Partei, gilt es vielmehr, eine halbdemokratische, oppositionelle Partei, gilt es vielmehr, die Arbeiter allerorts darüber aufzuklären, daß das Zentrum nur eine fonservative Partei katholischer Konfession ist, wäh­rend die anderen Konservativen dem Protestantismus hul­digen. Das Zentrum, das den Arbeitern gegenüber heute demokratische" Sammetpfötchen zeigt, wird die konservativen demokratische" Sammetpfötchen zeigt, wird die konservativen Krallen noch früh genug herausftreden, um den Phantasieen der Richter und Genossen ein Ende zu machen.

Herbergen in Paris  .

Folgendes Bild giebt ein in Paris   wohnhafter Deutscher von der bort herrschenden Wohnungsnoth". Besonders aber beschreibt er die Miethswohnungen in geradezu erschreckender Weise. Doch hören wir unseren Landsmann selbst an:

Wie in allen Großstädten, so ist auch hier ein großer Mangel an kleinen Wohnungen, diefer sowohl, wie gerade der Bufluß unvermögender, ja armer Leute nach Paris   bringt es natürlich mit sich, daß die Zahl Derjenigen in geradezu furcht­barer Weise zunimmt, die fein eigenes Heim fich gründen können und darauf angewiesen find, in sogenannten, Garnis"

schung berechnete Beigabe ist. Wenn nun aber ernsthafte zu übernachten. Nehmen wir die Zahlen zu Hilfe, fie sprechen Politiker die oppofitionelle Haltung des Zentrums so hoch anschlagen, was foll man erst von den ausschließlich im Sinne des Zentrums bearbeiteten Massen erwarten?

Das Zentrum ist und bleibt unter den heutigen Um­Bänden eine Stüße reaktionärer Bestrebungen. Seiner Natur Feuilleton.

Ragbrud verbet.]

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Gesucht und gefunden.

Roman von Dr. Dur.

( Forseßung.)

Er hatte aber nicht mehr Rodenberg   dabei angesehen, sondern schlug die Augen nieder; eine unbestimmte Ahnung sagte ihm, daß er durch die Lüge ein Unheil anstifte. Rodenburg in steigender Aufregung. Auf welche Weise erhielten Sie das Geld?" fragte

Hier aber gerieth der Mann in Verwirrung, denn auf diese Frage war er nicht vorbereitet; es fehlte ihm an

Instruktion.

Glücklicher Weise half ihm Emmy  .

" Sie erhielten es vermuthlich durch die Post." " Ja wohl, durch die Post," bestätigte er, hoch erfreut, einen solchen Ausweg gefunden zu haben.

bie Stirn, mit der andern winfte er dem Mann, ihn zu Rodenburg schwieg und fuhr mit der einen Hand über verlassen. Barthel ließ sich nicht noch einmal dazu auffordern; er war von Herzen froh, dieses Examens überhoben zu hinausgegangen war. Was fagen sie nun?" fragte Amberg  , als der Mann

fein.­

Rodenburg schwieg.

Mir ist Alles klar!" fuhr Amberg   fort. Nachdem

die Unterschlagung entdeckt war, suchte sie ihr Versehen das burch gut zu machen, daß sie die unterschlagene Summe nachträglich wirklich vertheilte."

halb mit triumphirenden Spott, einen forschenden Blick

Sie hat es bereut," antwortete Emmy   halb ironisch,

auf Rodenburg werfend.

ein, sie hat es nicht bereut," antwortete dieser ,,, es war eine neue Täuschung. Sie wollte mich von ihrer Un­schuld überzeugen und griff zu diesem Mittel." " So ist es!" bestätigte Amberg  . Es liegt eine förm­liche Raffinirtheit in diesem Verfahren; ich hätte ihr so viel List nicht zugetraut."

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auch hier. Im Jahre 1875 hatte Paris   9297 Garnis( möblirte Häuser); sie enthielten 113 987 Franzofen und 18 636 Fremde. Im Jahre 1883 zählte man 11 753 Garnis, worin 196 229 Franzosen und 43 935 Fremde. Die große Zunahme ist un­verkennbar. Sie alle nennen sich übrigens ,, Hotels", während die Mehrzahl Spelunken find. Ich bemerke, daß hierin die­

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Sagen Sie, so viel Falschheit," verbesserte Roden­burg. Wahrhaftig, sie ist meiner Liebe nicht würdig"" Es wäre am Besten, wir hören sie selbst," versette Amberg  . Ich werde mich bemühen, ihren Aufenthalt zu ermitteln."

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,, Nein, nein, Lassen Sie Lucie, wo sie ist. Ich will sie nicht mehr sehen," antwortete Rodenburg.

Und dieser Brief?" fragte Amberg  , indem er das von Rodenburg ihm übergebene Schreiben aus der Tasche og und emporhielt. Soll ich ihr das auch nicht zu­stellen?"

..Geben Sie her!"

Rodenburg zerriß den Brief und schleuderte die Stüde  

von sich.

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,, Und wenn Sie dennoch von irgend einer Seite ihren Aufenthalt erfahren?" fragte Amberg   weiter, der seinen Sieg noch nicht für völlig ficher hielt.

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Wenn ich ihren Aufenthalt erfahre," antwortete Rotenburg   mit finsterem Blid, und ich erfahre, daß sie in Noth ist, werde ich sie unterstüßen, weil sie meines Bruders Kind ist; sehen aber will ich sie nicht mehr!"

An diesem Abend saßen Amberg  , Emmy und Char­lotte bei der Bowle und feierteten ben glänzenden Sieg dieses Tages; und als Alles im Schloß der Ruhe pflog, nahm Amberg   noch Gelegenheit, seiner treuen Bundesge noffin Charlotte ganz im Geheimen auf ihrem Zimmer eine Stunde sympathischer Verständigung zu widmen. Als er am andern Morgen Feldau verließ, da wandte er noch einmal den Kopf zurück und murmelte:

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,, Dies Alles wird mir gehören; es tann nicht lange währen. Das Herz des Alten ist gebrochen, und sein Leib wird von der Last des Rummers bald genug erdrückt sein. Dann sind wir die Herren hier!"

Zweiundzwanzigstes Rapitel.

Am Nachmittage desselben Tages traf der Prediger Amberg   in Neustadt ein, und schon sein freudestrahlendes Antlig belehrte die erwartungsvoll harrende Gattin von dem glücklichen Erfolg seiner Reise.

,, Triumph, Martha!" rief er ,,, es hat zwar noch einen

| jenigen Fam lienwohnungen nicht mit eingerechnet sind, die möblirte Bimmer abgeben. Die Mehrzahl dieser ,, Garnis" be herbergt fleine, ja kleinste Leute. Natürlich gleicht nicht das

eine dem andern.

Ich will heute blos von denen sprechen, die man als Herbergen" bezeichnen tönnte, wenn der darin aufgehäufte Schmuß nur nicht ein schlimmeres Wort n thig machte. Diese ,, Garnis", der Bahl nach vielleicht dreitausend, find über die meisten Stadtviertel von Paris   verbreitet. Die allerschlimmsten findet man allerdings draußen an der Vorstadtmauer, ferner in der Vorstadt St. Antoine, im Viertel der Fleisch- und Ges müsehallen, und ferner in den Vorstädten Montmatre, La Vilette und Bellevue. Das leztere zumal ist ein wahrer Hohn auf seinen Namen. Die Häuser all dieser Garnis" find außen von einem jämmerlichen Anblick, fte haben meist blinde Fenster, sind dann und wann wohl gar ohne Scheiben. Aber hat man sich durch die flinkenden Thorwege oder Hausfluren in das Innere hindurch gewunden, so ist der Anblick nicht blos trostlos, sondern der Geruchssinn in einer Weise affizirt, daß es schwer hält, auch nur wenige Minuten auszuhalten. Und doch müssen in solchen Häusern Tausende und Abertau­ſende Menschen leben, darunter Arbeiter, die in ihrem Fach wahre Meister find. Ihrem Charakter nach zerfallen auch diese Spelunten wieder in mehrere Arten.

Da sind zunächst die Chambrées de Pays", das heißt solche. wo von mehreren Landsleuten", resp. Familien dersel­ben Gegend ein Zimmer abgemiethet wird, in das sie fich thei­len; Auvergnaten, Savoyarden, Elsäffer, Deutsche bilden da fleine Kolonien. Sie beginnen- und vor Allem unsere Lands­leute, die hier als Straßenfebrer fungiren damit, daß sie Stroh in die leere Stube transportiren, auf dem sie so lange vier bis sechs Mann hochzuweilen wohl in noch größerer Bahlhausen, bis sie es ermöglichen, die nothdürftigsten Möbel anzuschaffen. Andere, und zwar die Lumpensammler ermöglichen nicht einmal diese Miethe, sondern zahlen jährlich 60 Cent. Pacht für den Quadratmeter eines Stück Landes, auf dem sie sich eine Hütte zurecht fleistern, die in ihrer Dürftigkeit an die ersten menschlichen Niederlassungen erinnert. Die, Cité des Kroumirs", der man endlich den Garaus gemacht, war hierfür typisch.

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Dann kommen die ,, Chambrées à la Nuit". Das sind die elenden Stätten der Vagabunden, der Schiffbrüchigen, der Ar­beitslosen. Sie eriftieren fast in allen Vierteln. Sie find so abichreckend, daß jedes derselben einen Zunamen führt, der an treffender Charakteristik nichts zu wünschen übrig läßt. Das eine heißt ,, Die wüthende Wanze", das andere ,, Der Kirchhof", ein drittes Die Cholera", ein viertes ,, Die Beresina" und so fort. Auch diese zählen nach Hunderten. Die erste Nacht foftet daselbst den enormen Preis von 20 Sous, also 80 Pfen­nige; die folgenden Nächte ist es verhältnismäßig billiger. Die Mehrzahl dieser Schlafsäle haben 10, 15, ja 20 Betten". Diejenigen zu vier Betten find für gens biens" und sind natürlich theurer. Im Uebrigen find ste nicht reinlicher, wie die andern. In der Mehrzahl dieser Schlafstätten besteht das Bett aus dem Gestell und einem Strohsack, so daß sogar die sonst übliche Decke fehlt. Manche auch sind in die Wand ein

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heißen Kampf gegeben, aber wir haben das Feld behaup= tet! Wir haben keinen Feind mehr zu fürchten. Die lette Niederlage hat sie auf alle Beiten gedemüthigt." Der Alte bereut nicht, daß er seine Nichte ver­trieben hat?" ,, Dafür ist gesorgt, mein Kind! Unsere Emmy ist ein wahres Juwel!"

Die Freude in der Familie war groß und Frau Am­ berg   umarmte ihren Gatten mit viel größerer Bärtlichkeit als fonst. Ein herrliches Abendessen erwartete ihn und während desselben gab es hundert Dinge zu erfragen und hundert Dinge zu erzählen, und hundert Luftschlösser wur­den erbaut und hundert Pläne entworfen über Alles das, was geschehen sollte, wenn sie erst Besitzer des herrlichen Gutes Feldau und des Schlosses Rodenburg sein würden; und in diesem Triumph stimmte jubelnd das Posthorn mit ein, das von drüben, wo sich die Poststation des Drtes befand, erscholl.

Die Bost aus Berlin  ," sagte Amberg  . Ich muß gestehen, daß mich der Ton dieses Posthorns etwas beun­ruhigte, denn ich erwartete immer entweder einen Brief von Lucie oder sie in Person, um meine Bermittelung in Anspruch zu nehmen. Jetzt fürchte ich dergleichen nicht mehr."

Natürlich nicht!" bestätigte Frau Amberg   ,,, denn nach dem Ereigniß, das Du eben erzählt hast, ist ja ihre Rückkehr nach Feldau unmöglich geworden."

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Und eben so wenig fürchte ich eine Belästigung von Seiten meines Bruders Georg."

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,, Er hat eine Stelle im Komtoir angenommen?" fragte seine Gattin.

Ich höre so! Es soll ihnen zwar schecht gehen, sie haben mit Entbehrungen zu kämpfen und leben nicht in glänzenden Verhältnissen; aber ich glaube nicht, daß er mir wieder zur Laft fällt, nach dem letzten Empfang muß ihm die Lust dazu vergangen sein. Er hat auch einen gewissen Stolz, barin kenne ich ihn."

Ein wahres Glück, denn aufrichtig gesagt, ich habe Deinen Bruder nie leiden können."

,, Er ist ein gutmüthiger Kerl und eine treue