Nr 79 Freitag, 3. April 1885. IL Jahrg. ßtrlintrllollistilnll. Brgan für die Interessen der Arbeiter. Das..Berliner Volksblatt" erscheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin frei in'S Haus vierteljährlich 4 Mark, monatlich 1,35 Mark, wöchentlich 35 Pf. Postabonnement 4 Mk. Einzelne Nr. 5 Pf. Sonntags-Nummer mit illustr. Beilage 10 Pf. (Eingetragen in der Postzeitungspreislist« für 1885 unter Nr. 746.) Jnsertionsgebühr beträgt für die 3 gespaltene Petitzeile oder deren Raum 40 Pf. Arbeitsmarkt 10 Pf. Bei größeren Aufträgen hoher Rabatt nach Uebereinkunft. Inserate werden bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition, Berlin SW., Zimmerstraße 44, sowie von allen Annoncen- Bureaux, ohne Erhöhung des Preises, angenommen. Redaktion: Kenthstraße 2.— Erpedition: Zimmerstraße 44. Der heutige« Nummer liegt für unsere auswärtigeu Abonnenten die Nummer 18 de»„Jllustrirte» Sonntags« dlatt bei." Herr Ferry. Die Waffen der Chinesen reichen weiter, als nur bis zu.den ihnen gegenüberstehenden ftanzöfischen Truppen. Der erste Schlag, der die letzteren traf, erstreckte fich in leinen Wirkungen bi» nach Pari» und hat zunächst Herrn Ferrp getroffen, der auch sofort gestürmt ist. Ueberraschen konnte diese Wirkung des Siege» der Chinesen Niemanden, der sich über die Situation klar war. Herr Ferry hatte den Krieg mit China begonnen, ohne da« französische Volk oder deffen Vertretung irgendwie darüber zu befragen; der Staatsmann, der au der Börse die Interessen de« Hause« R o t h> ch i l d vertrat und deffen Unternehmungen parallel liefen mit de« Kur« Rothschild'scher Papiere, mußte wie ein Diktator, wie ein Bonoparte handeln, um die Waffen und die Kasse der Republik für gewisse Privatinteressen in An- spruch zu nehmen. Herr Ferry setzte damit seine Stellung al« leitender Staatsmann auf eine Karte; er konnte nur ge- Winnen, wenn der so brutal, so abenteuerlich und so ge- wissenlo» unternommene Krieg mit Glück durchgeführt wurde. Anfang« schien e« auch, al« sollte da« dem Herrn Ferry gelingen, allein nunmehr hat sich da« Blatt gewendet. E« kam, was kommen mußte; 400 Millionen Chinesen lassen sich heute von 10,000 Franzosen nicht mehr in« Bock«horn jagen. Wenn die Chinesen den Europäern gegenüber ebenso im Nachtheil wären, wie die Azteken in Mexiko , al« Ferdinand C o r t e z bei ihnen einbrach, so könnte man bei ihnen auf dauernde Erfolge hoffen. Allein die Chinesen ! laben Krieg führen gelernt, sie find europäisch bewaffnet, önnen mit geradezu unabsehbaren Messen in den Kampf rücken und zeigen eine erstaunliche Tapferkeit und Todes» Verachtung. Heute würde der Zug nach Peking den Franzosen nicht so leicht«erden, wie einst dem Grafen P a l i t a o, und wenn die Pariser Presse immer von dem Marsch auf d,e chinesische Hauptstadt träumt, so irrt sie sich. Die Franzosen werden recht ftoh sein, wenn sie von den Massen der Chinesen nicht erdrückt werden. Ei« Sturm de« Unwillen« brauste durch Frankreich bei der Nachricht von der Niederlage und Verwundung de« General« Negrier. Man kann bei dieser Gelegenheit sehen, wie leichtfertig die Franzosen im Allgemeinen find und wie der Erfolg de« Augenblicks bei ihnen so ziem- lich Alle« ausmacht. Man verdammt nunmehr den chinesi- schen Krieg in allen Tonarten; war am hat man die« nicht gleich gethan, al« Herr Ferry da« Land in die gefährlich« Verwickelung stürzen wollte? Man hoffte auf Siege, auf »«rtofcn.] IeuMelon. 3] Im Eckfenster. Roman von Friedrich Serstäcker.' (Fortseyung.) ..Republikanische Regierung," murmelte der Freiher, halblaut und mit dem Kopfe schüttelnd vor sich hm;„da« kommt mir gerade so vor, al« ob ich sagen wollte: monar- chische Anarchie, gesetzlicher Aufruhr, wohlwollender Mord oder etwa» Dera.ttge«— republikanische Regierung, wo Jeder thuu und lassen kann, was er will — e» ist rein lächerlich. Sage einmal, Han«, e« müssen doch da ganz trostlose Zustände sein, und ich kann mir die Sache noch eigentlich gar nicht recht denken— eine Anarchie in Permanenz erklärt, eine un- unterbrochene Revolution ohne Strafen für Meuterer oder Belohnungen für de« Throne anhangende Getreue. E« ist ganz undenkbar, daß so etwa« nur auf die Länge der Zeit bestehen könnte, und trotzdem scheinen fich die Leute darin so wohl zu fühlen wie em Harmg im Salzwasser." Han« lachte.„Ihr denkt Euch d,e Sache hier viel gefährlicher, als sie«irkich ist, wenn ich auch nicht leugnen will, daß sie e« mit ihren ewigen Revolutionen manchmal ein wenig bunt treiben. Sie behelfen sich aber doch ganz leidlich ohne Fürsten und«erden besonder« nie durch z« riesenhafte Pensionen, die hier einen Staat erdrücken und aushungern können, behelligt. Wer dort am Ruder oder »n eine« Amte ist, drückt fich herau«, wa» er kann, und t« schnell al« möglich, und damit basta, und«er nach ihm 'ommt �gg tben dasselbe thun." ..Schöne Zustände," nickte der Vater,„und wa« für Betrügereien solcher Art finden in Amerika statt!" „Die Ansichten von Ehrlichkeit find dort eben andere al» bei un«," sagte der Sohn achselzuckend;„ein reich gewordener Betrüger kann der Gefeierte der Gesellschaft werden, ein ruinirter wird verachtet, bi« er e« wieder zu etwa« bringt." „Das ist ja aber schaudererregend!" rief der Frei- Herr au«. Beute, auf Geld und auf Trophäen wie auf die Erwer- bung neuer Besitzungen und ließ Herrn Ferry gewähren; man tadelt auch nicht die Generale, die so leichtsinnig waren, mit einer Handvoll Leute ein so ungeheure« Reich anzu- areifen— alle Schläge fallen nunmehr auf Herrn Ferry, der unter einem Entrüstung«stur«e von der Bühne ver- schwindet. Verdient hat er die« Schicksal allerding«, denn wodurch unterscheidet sich seine Regierung von derjenige« der B o« a» parte«? Doch nur durch den Namen, im Uebrigen ist'« so ziemlich dieselbe Sache; dieselbe Anmaßung, dieselbe Brutalität gegen die Oppositionsparteien, derselbe Leicht- sinn beim Spiel mit Gut und Blut de« Lande«, dieselbe Impotenz gegenüber den wirthschaftlichen Fragen. Man sieht, diese republikanische Bourgeoisie macht den Staat in der That zu ihrem N a ch t w ä ch t e r, wo sie ihn in die Hände bekommt; er ist nur noch ein ihren speziellen Jnter« essen dienstbarer mechanischer Apparat und e« fehlen alle höheren Gesichtspunkte, alle Begeisterung, alle» Verständniß für da« Gesammtwohl. Man kann e« nicht al» ein Unglück für Frankrel? bezeichnen, daß Herr Ferry endlich abtritt; man kann nur bedauern, daß diese Regierung der Mittelmäßigkeit nicht früher ein Ende genommen hat. Aber werden die Franzo- sen auch die Lehren beherzigen, die sich au« diesem jähen Ende der Ferry'schen Herrlichkeit ergeben? Werden sie ein- kehen, daß die Politik nicht ausschließlich eine Sache de» Erfolge«, sondern auch eine Sache der Prinzipien ist? Wir erwarten in dieser Beziehung nicht viel. Könnte Herr Ferry ein paar Dutzend eroberter chinesischen Fahnen auf- weisen, statt einer Niederlage, man würde ihm wieder zu- iubel», trotzdem heute Jedermann von vornherein gewußt laben will, daß e« abenteuerlich und leichtsinnig gewesen sei, mit den Chinesen anzubinden. Wa« hinterläßt nun Herr Ferry? Zerrüttete Finanzen und mit dem chinesischen Krieg die Noth wendigkeit, sie noch «ehr zu zerrütten. Die so oft versprochenen republrkanischen Steuererleichterungen find ausgeblieben. Bon sozialen Re- forme», die man doch von einem demokratischen Staate am ehesten erwarten sollte, keine Spur; dagegen Nothlage und Verzweiflung unter den Arbeitern, Arbeitslosigkeit und Ge- schäfttstockung und Rathlosigkeit. Wahrlich, außer dem Hause Rothschild hat Niemand Ursache, dem Herrn Ferry dankbar zu sein, denn die« Hau « muß die Kosten de« chine- fischen Kriege« vorschießen und bekommt sie bei« Sieg von dem chinesischen , bei Ver Niederlag« von dem französischen Volke mit schweren Zinse» zurückgezahlt. Da« Hau « Rothschild profitirt also in jedem Fall— und Frankreich s Nun, die Republik wird sich betrübt in „Und eigentlich da» Nämliche bei un«," meinte Ha-«; „denn ich bin fest überzeugt, daß e» hier eben so viel von, nehme« Pack giebt wie wo ander«, die Gelegenheit wird hier den Einzelnen nur nicht so rasch geboten, ihre Lage zu verbessern, wie dort drüben. Menschennatur bleibt aber doch gewiß überall dieselbe." „Da« muß ich sagen," bemerkte der Later langsam vor sich hin nickend»„Du hast saubere Ansichten mit au« Deinem Amerika hier herüber und in unsere geordneten Verhältnisse gebracht. Die«erden wir wahrscheinlich einer gründliche» Revision unterwerfen müssen, um der eigentlichen Kontrebande auf die Spur zu kommen." Franziska hatte kurz vorher da» Zimmer verlassen, um die nöthigen Anordnungen für die Einrichtung von Ha»«' alter Stube zu treffen, damit dies» wieder wohnlich gemacht wurde, jetzt kehrte sie zurück. „Ja, ja, mein Sohn," sagte auch die Mutter,„ich fürchte fast, daß Du au» unseren wirklich gesittete» Zu- ständen ein wenig herausgewachsen bist." „Meinst Du, Mama?" ,.E» wird viel Mühe kosten. Dich da wieder hinein zu passen." „Aber, beste Mutter!" rief Han«,„da« freie, prächtige Leben da draußen, diese völlige Ungebundenheit hat doch auch wieder viel Angenehme«, und ich gestehe Dir auf- richtig, mir graust e« ordentlich vor diesen eben erwähnte« und fast ein wenig zu sehr geordneten Zuständen. Hier in Deutschland «hat Jeder sein bestimmte» Gefach von unten an und an der ganzen Wand hinauf. E« ist wie ein großer Bücherschrank mit Abtheilungen, und darin liegt er und knurrt Jeden an, der ihm zu nahe kommt. Er muß auch dabei sein Bestimmte« auf einen bestimmte» Tag gebracht bekommen, und verzehrt e« allein, die reine Stallfütterung, und ich bin jetzt so an freie Weide gewöhnt." „Welch entsetzlicher Vergleich!" rief die Mutter wirklich schaudernd au». Han« hatte fich im Zimmer umgesehen, e« war fast, al» ob er etwa» suche. „Wa» ich Euch fragen wollte," sagte er dann,„wie die von Herrn Ferry leer gemachten Tasche« greifen und weiter— pumpen müssen. Dolitiseke Uebersiekt. In Bielefeld herrscht nunmehr wieder vollständige Ruhe. Von sämmtltchen Verhafteten ist nur noch einer im GefÄngniß, alle anderen, etwa 30, find dereit« entlaffen.„Heber den ursprünglichen Streitpunkt in dem Bielefelder Streik, der zu so schweren Exzessen geführt hat, u urtheilen, ist nur bei genauester Kenntntß aller einschlagenden Verhältnisse möglich, und deshalb mischen wir un«— so schreibt die„Germania "— schon der örtlichen Entfernung wegen da nicht ein. Ein Punkt aber, welcher in den Berichten mehrerer Blätter bestimmt behauptet wird und der auch bei manchen anderen Streiks den oaupt- stein de« Anstoßes gebildet hat, legt uns einige Bemerkungen nahe. Die Arbeiter in Bielefeld wählten eine Kommission von drei Mitgliedern, die mit der Firma über den Streitgegenstand verhandeln sollte. Diese drei wurden sofort entlassen, und da erfolgte der Streik- Und während weiter verhandelt wurde, scheiterte Alle« an dem Gegensätze, daß die Arbeiter in erster Linie Wiederaufnahme der drei Entlassenen in die Fabrik forderen, während die Firma diese« rundweg abschlug. Das ist, wie gesagt, ein ganz gewöhn- liche« Vorkommniß bei Streiks, durch welches die Gegensätze bedeutend geschärft und oft unheilbar werden. Es läßt stch auch nicht leugnen, daß e« für die Arbeiter eine Ehrensache ist, fich mit den Genossen, welche vorzugsweise die gemeinsame Sache geführt haben, solidarisch zu erklären. So erhält der Streik in seiner Fottsetzung eine ideale Grundlage. E« wäre daher gewiß an der Zeit, wenn die Arbeiter in diesen Punkten vorsichtiger und rücksichtsvoller wären. Daß Arbeiter, welche sonst nicht organisttt find, zur Vertretung einer Beschwerde und zur Führung einer Verhandlung eine Kommission aus ihrer Mitte wählen, ist doch durchaus natürlich. Und ebenso, daß fie dazu diejenigen Genoffen er- küren, welche ihre Sache am besten zu führen verstehen, welche dadurch aber gerade dem Arbeitgeber am leichtesten als Verführer oder Rädelsführer erscheinen. Da« wird ja auch manchmal der Fall sein, aber ande.er- seit« soll man doch auch nicht den eben aeichildetten natürlichen Gang der Dinge zu schnell verkennen und ferner die Thatsache nicht vergessen, daß das moderne Arbeits« verhältniß ein— freier Vertrag ist"— Im Wesentlichen können wir den Anfichten der„Germania " zustimmen. Daß die Arbettgeber nicht mit den voa Ardeitern gewählten Kommisstonen verhandeln wollen, ist ein Schachzug, der in der Regel nur darauf berechnet ist, einen Keil in die Eintgkest der Streikenden zu treiben, und die intelligenteren Arbeiter davon abzuhalten, daß ste stch in Zukunft zu einem solchen Amte wählen lassen. Um so mehr haben die Arbeiier die Pflicht, für die ihr Vertrauen habenden KommisstonSmitglieder einzutreten; ein stichhaltiger Grund für die Arbeitgeber, nicht mit den Ge- wämttn zu oerhandeln, liegt fast nie vor, denn die Ehre eines Fabrikanten ist um kein Gramm schwerer, wie die der Ardeiter. geht e« denn dem kleinen Käthchen, und wo ist sie? Sonst frühstückte sie doch immer mit. Sie ist doch nicht gestorben?" setzte er rasch und fast erschreckt hinzu. „Nein," sagte die Mutter, aber die Frage schien ihr nicht angenehm, ,damal» war Käthchen aber noch ein kleine» Kind und gewissermaßen bei un« aufgewachsen." „Gewissermaßen?" fragte Han« erstaunt,„wir waren ja doch wie Geschwister, und Kränzchen und Käthchen er- hielten ihren Unterricht gemeinschaftlich l" „Allerding«," erwiderte Frau von Stolberg , aber noch immer zurückhaltend.„Käthchen war auch ein liebe», gute» Kind, bi»— einige Mißhelligkeiten eintraten, die— die un» zwangen, un» von ihr zu trennen." Han» sah den Vater an, aber er bemerkte, daß dessen Brust ein Seufzer hob. Der Kammerherr schaute sehr ernst und wie et ihm vorkam, niedergeschlagen vor sich hin. E» mußte da etwa» vorgefallen sein,»a« die Eltern nur un- gern berührten, und war er auch entschlossen, da» heraus zu bekommen, so mochte er doch nicht gleich jetzt in der ersten Stunde ihre« Beisammensein«, zu einer Erklärung drängen, die ihm nicht gern und freiwillig geboten wurde. Nur seine Gedanken weilten noch bei der kleinen Spiel» gefähltin. „Wie alt war Käthchen doch damals, al« ich fortging?" sagte er, halb dabei wie zu sich selber redend.„Nicht wahr, so alt wie Fränzchen?" „Allerding«, die Kinder waren nur drei Monate au«» einander," nickte die Mutter „Und wie lange ist fie nachher noch bei Euch ge- blieben?" „Sie hat un« erst vor etwa acht Monate« verlassen." „Lieber Gott," sagte Hau»,„da wird e» ihr wohl recht schwer geworden sein, von hier zu gehen und ihr Brot unter fremden Leuten zu verdienen; arme» Käthchen l" „Lieber Han«," sagte die Mutter mit einem gewissen Selbstbewußtsein,„derartige Leute haben nicht da« feine Gefühl von Anhänglichkeit und Dankbarkeit, wie wir e« oft — wenn wir nach uns selber schließen— empfinden. Außerdem hat Käthchen aber eine so ausgezeichnete Erziehung genossen
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