Nr. 80.
Sonntag. 5. April 1885.
n. Jahrg.
ScrliiiMUMll Krgan für dir Interessen der Ardciter.
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Ärbeitszeitersparniß und geistige Erziehung. Bei der Forderung einer geringeren Arbeitszeit kommen natürl ch verschiedene Motive in Betracht. Da«»irthschaftliche, daS Hauptmotiv, ist die durch «inen MaximalarbeitStag angebahnte Regelung der Produktionsweise. ES wird bekanntlich dadurch der schrankenlosen Ausbeutung der Arbeitskraft, der Ueber» Produktion und der Arbeitskrisen ein Damm entgegengesetzt und de» schwankendea Lohvverhältnissen wenigstens in ge- wissen Schranken ein Ende gemacht. Daß dadurch die all- gemeinen Verhältnisse in der Arbeiterwelt mehr geordnet und somit auch gehoben werden, ist klar, daß aber durch mehr geordnete wirthschaftliche Verhältnisse im Arbeiter- stand« auch höhere sittliche entstehen, dürfte ebenso sicher sein. Ein zweites Motiv ist die Schonung derArbeitt- kraft. Je mehr der Mensch an täglicher Arbeitskraft verausgabt, besonder« wenn er dieselbe durch entsprechende Ernährung und gute Pfleg« nicht vollständig wieder ersetzen kann, desto leichter treten Krankheiten und desto früher tritt der Tod ein. Bei einer kürzeren Arbeitszeit aber und bei gcordne- teren wirthschaftlichen Verhältnifle« bleibt der Körper de« Arbeiter» widerstandsfähiger und gesunder, und auch die Lebensdauer wird selbstverständlich dadurch erhöht. Mens sana in corpore sano" so lautet schon ein alter lateinischer Spruch. Jawohl! In einem gesunden Körper wohnt auch meisten« ein gesunder Geist. So find wir also zu dem dritte« Motiv gekomme«. Eine verringerte ArbeitSzelt macht den Körper auch em» pfänglicher für Bildung, sie macht den Menschen bildungsfähiger. Wie oft hören wir die sogenannten Gebildeten aller Parteien über die Rohheit der Arbeiter, die denn auch viel- fach von denGebildeten" al«Pöbelrotten" bezeichnet «erden, raisonniren, wie oft aber auch hören wir besser Gesittete auS den sogenannten höheren Stände» auftichtig den geringen Bildungsgrad der Massen beklagen da« Raisonniren aber taugt gar nicht« und da« Klagen sehr wenig. Man möge dem Volke den Boden beackern helfen, auf welchem da« Samenkorn der Bildung gepflanzt werden, auf de« e« blühe« und gedeihen kann. Nebe« allgemeiner unentgeltlicher Lehrmittel ist der MaximalarbeitStag die Grundbedingung allgemeiner Volks- bildung. Die« letztere scheint selbst der im wirthschaftlichen und politischen Fortschrittlerthum noch befangene bedeutende Ge« lehrte Dr. V i r ch o w zu erkenne«, wenigsten« geht die«
Zum Osterfeste. (Freie Glocken.") Vor allen Festen de» Jahre« ist da« Osterfest ganz besonder« getragen von dem Hoffnung«» zug de««enschliche» Leben«. An keinem der Feste sucht unser Auge so sorgsam nach den Spuren de« Pflanzen- segen», der in Millionen Keimen ausgestreut ist auf de« Erdboden. An keine« der Jahre«feste späht unser Blick so sorgsam nach Merkzeiche» au», ob der Segen, den die Wörmestrahlen der Sonne im Erdboden wachrufen, nicht durch da« ewig bewegte Luftmeer gestört werden wird. Der Erdball, der nach festen Naturgesetzen eine wohl be­rechenbare LebenSspevde von der Sonne erhält, wandert, von einem Luftmeer umhüllt, durch den Weltenraum, der gar oft die Wärmestrahlen auffängt und ihre segensreiche Wirksamkeit nicht zur rechten Zeit eintreten läßt. Wa« die Himmelskunde un« lehrt, reicht nicht au«, um un« in der Wolkenkunde einen sicheren Blick zu gewähren. Wir wiflen, daß da« Weltenlicht de« Sonnensystem« den Raum mit ungrschwächten Kräften durchströmt, aber die Wolken« gebilde und die Nebelgestaltungen de« Luftmeere« bilden einen Schleier der Undurchdringlichkeit vor unserem Auge. Wir sind auf Wünsche und Hoffnungen angewiesen, die sich der Bercchenbarkeit entziehen. DaS Osterfest in der Wechsel- vollsten Epoche der Jahreszeiten ist daher nicht blo» für die Pflanzenwelt, sondern auch für da« menschliche Ge« müth eine Epoche de« Hoffen« und de« Wünschen«. Wie die Pflanzenkeime unter der Oberfläche de« Erdboden«, werden auch die HerzenSregungen de« Menschengeschlechtes gar oft zu frühzeitig geweckt, um wirksam aufzustreben nach dem höheren Ziele der Entwickelung. Gar zu oft greift ®Pätfrost der Nacht und der Frühreif de» Morgen« ver- verbuch in die junge Blüte ei» und ertödtet,»a« zu früh ""hülle durchbrochen hat. Besorgt wie um die zar- testin Frühkeime, die gar schnell wieder ein Raub de« Nach- wrnterS werden können, blicken wir oft auf die Entwicklung»- Erschemungen de« Menschengeschlecht« hin. Manch Hoffnung«- reut e« junge« Leben wird zu früh erweckt, vom Lebenistur« ergriffen und geknickt, und nicht minder wird auch im Bolkerdaseru manch edler Trieb der Entwicklung, der wie
au» einer Rede hervor, die derselbe in der Versammlung der Aerzte und Naturforscher zu Rostock   zu Ende vorige» Jahre» gehalten hat und die vor einiger Zeit in Druck er- schienen ist. Nachdem der Naturforscher die Leistungen der Naturwissenschast in ihrer Bedeutung auf dem Gebiete de« Handel«, de» Gewerbe«, de« Bergbaues und Ackerbaue« tc. hervorgehoben hatte, fuhr er wörtlich fort: Ich möchte aber darauf aufmerksam machen, daß, so schätzenSwerth alle solche materiellen Leistungen an sich sind, «an doch vielleicht hoffen darf, daß gerade von diesem Ge- biete der materiellen Leistungen au« der Menschheit noch ungleich größere und vielleicht unschätzbarere Wohlthate» zugeführt werden dürften. Niemand, der die Geschichte de» Maschinenwesens während der hundert Jahre, die seit der Einführung besserer Maschinen vergangen find, studirt hat, kann sich dem Gedanken entziehen, daß die Ma- schine Menschenarbeit ersetzt; Niemand, der diese» Ersatz der M' nschenarbeit durch Maschinenarbeit verfolgt, kann sich der Hoffnung entschlagen, daß endlich auch einmal diese auf dem Gebiete der mechanischen Arbeitsleistung ersparte Menschen- arbeit nutzbar gemacht werden könnte auf dem Gebiete der geistigen Arbeit, der höhere» und besseren Arbeit. Wenn die Arbeiter selbst in einer zum Theil rohen und ungeschickten Form anfangen, ihre Forderungen nach dieser Richtung hin zu formuliren, so kommt doch der NormalarbeitStag in ähnlicher Weise zur Sprache, wie vor Jahrtausenden der siebente Tag al» Feiertag, al« Tag der geistigen Erholung und Erhebung, und e« ist nicht selten, daß ein in- telligenter Arbeiter in vollem Ernste sagt: die Ersparung an Zeit, welche der NormalarbeitStag mit sich führt, soll 8«widmet werden der geistigen Erziehung, nicht l o» derErholung", sondern dem Fortschritte im Wissen, welche« Wissen wiederum verwandt werden soll al« Ausgang für neu« technische und geistige Fortschritte. Man wag in diesem Augenblicke solchen Forderungen noch kühl gegenüberstehen, aber ich denke, Niemand, der sich die ge« sammte Geschichte der Menschheit vergegenwärtigt, wird sich verhehlen können, daß nach dieser Richtung hin berechtigte Forderungen liegen, und daß, wenn e» einmal gelingen wird, n i ch t b l o« d i e F o rm el zu finden, son- dern auch dieBahn zu ebnen, in deren Ver- folgung ein solcher NormalarbeitStag mit Ersparung an Zeit und mit zweckmäßiger Verwendung der ersparten Zeit allgemein vereinbart werden wird, damit der Nation und der Menschheit so große Kräfte zu neuen Zwecken zur Ver» fügung gestellt werden würden, daß damit Ungeahnte» ge- leistet werden kann." Daß der Professor den Weg»och nicht finden kann, auf welchem der NormalarbeitStag angebahnt wird, dies hat
ein Heller Ostermorge« hineinstrahlt in da» Leben, von de« Sturm der Nacht gefaßt und für längere Zeit gebrochen. E« zeigt sich oft ein Hoffen, da« sich nicht erfüllt, und ein Wünschen, da« durch die kalte Wirklichkeit eine« herein» brechenden Nachwinter« vernichtet wird. Aber wa« die Zeit auch bringen mag, wir dürfen selbst in trüben Tagen auf die Hoffnungen eine« Ostermorgen«, der den Anbruch eine« bessern Dasein» herbeiführt, nimmermehr verzichte«. Wir müsse» vielmehr kämpfen um unser Menschenthum im Sinne de« Dichter«, der da sagte:Mensch sei» heißt«in Kämpfer sei n." In diese« Kampfe um da« wahre Menschenthum hat Jeder nach seinem bescheidene» Theile mitzuwirken. Hier steht Jeder voll seinen Man» und kann fernen Vertreter finden. Möge daher auch Jeder seinen Me»schenthum«-Kampf so bestehen, daß die Gesammt- heit gefördert werde. Unter den Mühen der WerkeltagS- arbeit tritt diese« ideal« Kampfmoment in den Hintergrund. Sobald aber der Lärm der Werkstätte verhallt, die Alltag«» beschäftiguvg stillsteht und einer kurzen Feiertagsruhe Raum macht, dann soll sich die Seele zu neue« KampfeSaufschwung stählen, auf daß der bessere Theil in ihr zu seine« Rechte gelangt. Da« ist da« Osterfest de« freien Gedanken«.
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Im Eckfenster. Roman von Friedrich Gerstäcker  . (Fortsetzung.) Und doch unschuldig, Mutter," sagte Karl ruhig und refignirt. Und wagst Du da« noch zu behaupten?" fuhr da der Vater empor, und e« war fast, al« ob er mit den rauhen Motten selbst in ihm aufsteigende Zweifel be- kämpfen und niederdrücken wolle;wagst Du da» zu be- haupten. Junge, wo nicht die Richter hinter ver- schlossenen Thüren, sondern Männer unsere» Stande  », Bürger und Handwerker, brave, unbescholtene Leute, die kein Interesse für oder gegen Dich haben konnten, wo die Geschworenen Dich selbst nach allen Zeugenaussagen
seine Ursache in der politischen Erziehung Virchow'S. Auf- gewachsen in der Zeit, wo der wirthschaftliche Liberalismus für Deutschland   noch eine Nothwendigkeit, wo derselbe der Träger des politischen und geistige» Fortschritt« war, wo der Liberalismus Sieg auf Sieg erfocht, ist dem Manne nicht zu verdenken, daß er noch in den Banden diese» Liberalismus sich befindet. Aber die geschichtliche Mission de« Liberalismus   hat für Deutschland   aufgehött und diese Thatsache klingt, wenn auch schüchtern, au« den oben zitirten Motten Virchow'S herau«. Denn sonst würde der Professor dem NormalarbeitStag unter keiner Bedingung da« Wort reden können. Der gesetzlich festgestellte Normal» arbeitStig bedeutet nämlich nicht« Geringeres al« den Untergang der liberalen Weltanschauung auf den«irthschaft« lichen Gebieten. Wenn Virchow   meint, daß die Form noch roh und ungeschickt sei, in»elcher die Arbeiter ihre Forderung de» Normalarbeitstage» stellten, so ist un« diese Behauptung zwar unverständlich, doch von wenig Belang, da man die Form leicht zerstören und in geschickterer Weise wieder her- stellen kann. Un« kommt e« auch in der Hauptsache nur auf da« Wesen an, welche« die Form umschließen soll. Und wen» die richtige Formel erst gefunden ist, so wird auch die Bahn leicht geebnet werden, auf«elcher die Formel zu« AuSttag gebracht wird. Nur eine« ist e«, wa« un« an de» Virchow'schen AuS- führungen etwa« seltsam erscheint. Dieser große Gelehtte, der berühmte Professor der Naturwisienschaften legt so große« Gewicht auf die Trennung derErholung" von dergeistigen E z i e h u» g". Zu Anfang unsere« Artikels haben wir die Motive angefühtt, welche zur Forderung der Vmingerung der Arbeitszeit geführt haben. Besserung der wirthschaftlichen Zustände, Erholung de» Körpers, um den Körper gesund zu erhalten; durch die Besserung der wirthschaftlichen Kräfte werden die sittlichen Kräfte im Menschen erweckt, durch dieErholungwird derKörper gesund undbildungSfähiger, geneigter zur geisti- gen Erziehung! Trennung der Errungenschaften, die bei der Ver- ringerung der Arbeitszeit für da« arbeitende Volk in Be- tracht kommen, ist unmöglich, eine ergänzt die ander», d i e geistige Erziehung de« Menschen ist nicht zudenken ohne die körperliche Erhaltung. Wir haben e« deshalb nicht mit Gegensätzen hier zu thun, sondern mit de« innigen harmonischen Zusammenhaag von Wirkungen, die au« einer Ursache hervorgehen.
und Beweisen für schuldig der furchtbaren That befunden haben?" Ja, Vater," sagte Karl und sab dem Vater ruhig und fest in'« Auge,so wahr da droben Gotte» Himmel über un« ist, so wahr ich hoffe, daß er Dich und die Mutter noch lange Jahre gesund erhält, so wahr sage ich Dir, ich bin an der schrecklichm That, für die ich büßen mußte, so unschuldig wie Du oder Margareth." Oh, mein Sohn,«ein Sohn I" klagte die Mutter. Der alte Tischler schaute ihn betroffen an; da« klang allerding« nicht wie da« freche Leugnen eine« Schuldigen, und war sein Sohn, sein eigen Fleisch und Blut; aber ließ e« sich denken, daß alle jene furchtbaren Beweise, die jeden Menschen überzeugend, aufgebracht worden, nur eben so viele Lügen und Täuschungen gewesen wären? Ließ e« sich denken, daß die Gerichte einen Mensche» für sech« Jahre in da» Zuchthau» sperren und damit für ewig ehrlo« machen würden, wenn auch nur der Schatten einer Möglichkeit vorgelegen hätte, daß er unschuldig sein könne? Nein, wieder schüttelte er sinster mit dem Kopfe und sah brütend vor sich nieder, e« war nicht möglich. Ich habe," sagte da der Sohn leise und schmerzlich, bi« jetzt recht hart über die Richter gedacht, daß sie «einen heißen Betheuerungen nicht glauben wollten und mich wie einen gemeinen Verbrecher verdammten, ich kann e» jetzt nicht mehr, wo selbst der eigene Vater seinen Blick von mir abwendet; da» ist hart, recht hart." Der Mann kämpfte noch eine Weite mit sich; endlich sagte er, aber mit leidenschaftlich bewegter Stimm«:Gott  ist mein Zeuge, wie ich gekämpft und gerungen habe gegen alle Beweise, wie ich nicht glauben konnte und wollte, daß mein eigener Sohn, den ich, wie ich fest glaubte, zu einem braven und rechtlichen Menschen erzogen, ein gemeiner Ver- brecher, ei» Mörder habe werden können; aber die Ge« schworen«», brave, unbescholtene Männer au« dem Volke, haben sich selber davon überzeugt und ihr Uttheil gesprochen, und nur Dein jugendliches Alter, wie e« in der Zeitung stand, und Dein früherer unbescholtener